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Alt 27.08.2006, 22:31   #1
cheri noire
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 29


Standard Yvette

Die Geschichte ist von meiner Zwillingsschwester:

Yvette van Gogh … was für ein außergewöhnlicher, ja geradezu verheißungsvoller Name! Ein Name wie aus Spitzenpapier gemacht. Allerdings verbarg sich hinter diesem Namen keine berühmte Künstlerin oder Tochter aus höherem Hause, es handelte sich um Yvette Sandra van Gogh, Tochter von Jürgen van Gogh (Kranführer) und Annelie Oschkenat (Fabrikarbeiterin). Yvettes Mutter war auf diesen Namen gekommen, da sie zumindest in diesem Punkt (einer der wenigen, die sie in ihrem Leben selbst bestimmen konnte) ein wenig exzentrisch sein wollte (auch wenn sie dieses Wort gar nicht kannte). Und so fiel auch der Witz, den Yvette über ihren Namen zu machen pflegte, weit weniger eloquent als vielleicht erwartet aus. Wenn jemand Sie auf Ihren Namen ansprach, so sagte sie stets: „Ja, so heißt nicht jeder. Klingt wie´n Maler, oder so, ne? Als wär ich wer.“ Dass der letzte Satz traurig und bedenklich erscheinen MUSS, fiel niemandem, der Yvette nach ihrem Namen fragte, je auf. Alle diese Menschen hatten den selben „sozialen Hintergrund“, oder um es weniger neumodisch auszudrücken, sie alle stammten aus dem Arbeitermilieu. Dort hielt man sich nicht für „jemanden“. Wie wenig die Assoziationen, die ihr Namen hervorruft, mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hatten, zeigt auch folgendes Beispiel: Als sie mit 16 Jahren anfing, in einer Fabrik zu arbeiten, hatte keine ihrer Arbeitskolleginnen je von diesem Namen gehört, was zur Folge hatte, dass Yvette in der ersten Woche (und von einigen noch jahrelang) stets „YvettE“ gerufen wurde, obwohl das E am Schluss natürlich stumm ist. Dass manche es sogar nie begriffen haben, lag nicht zuletzt auch daran, dass Yvette ihre Kolleginnen (in ihrer Abteilung arbeiteten nur Frauen, da sie geschickter mit den Händen sind) nach zweimaligem Verbessern meistens gewähren ließ. Sie war kein durchsetzungsfähiger Mensch, streiten hatte sie nie gelernt, genau so wenig wie sich eine eigene, differenzierte Meinung zu bilden. Wer hätte ihr das auch beibringen sollen. Ihre devote, keifende Mutter, ihr alkoholkranker, streitsüchtiger Vater (der sie aus purem Trotz immer nur Sandra genannt hatte) oder ihre infantile Schwester, die viel zu früh schwanger wurde? Und da Yvette trotz der kleinen Arbeiterwohnung ihrer Eltern, die nie wirklich Privatsphäre erlaubt hatte, immer einsam gewesen war, heiratete sie, als sie 18 war, einen jungen Mann namens Manfred Steiner, der nie gelernt hatte, zu lieben. Yvette fiel das nicht weiter auf und falls sie sich doch einmal zurück gewiesen fühlte, war das im Prinzip ja nichts Unbekanntes oder Besonderes.

Manfred und sie hatten nur ein Kind (Jessica), der Arzt hatte der zierlichen und stets kränkelnden Yvette von einem zweiten abgeraten. Wie so vieles hatte diese auch das hingenommen, ohne traurig, erschüttert oder wütend zu sein. Ein Mensch, der das Wort erschüttert nie benutzt, es vielleicht sogar nicht einmal kennt, wird auch diese Empfindung nie wirklich nach außen tragen. Wer so wenig Sprache besitzt und so wenig sozialisiert ist wie Yvette van Gogh, wer emotional so abgestumpft und im Grunde nicht einmal verzweifelt ist, da das eigene Leben keine wirklichen Dramen bereit hält (in ihrem Milieu sind häusliche Gewalt, Geldsorgen und schulisches, sowie berufliches Versagen keine Dramen, sondern Alltag), der redet auch nicht über Sachen wie „Erschütterung“.

Als Yvette 45 Jahre alt war -ihre Tochter war schon aus dem Haus-, erfuhr sie von ihrer Krankheit. Der Arzt hatte lange nicht lange um den heißen Brei herum geredet: Yvette hatte Krebs, und das nicht mehr im Anfangstadium. Als sie Manfred mit Tränen in den Augen zu Hause davon erzählte, bemerkte dieser nur: „Das hat uns ja gerade noch gefehlt.“ Dabei schaute er Yvette nicht einmal an, er nahm einen Schluck von seiner Bierflasche und starrte weiter in den Fernseher. Erst im nächsten Moment sah er Yvette in die Augen, sein Gesicht verriet Hilflosigkeit, Gleichgültigkeit und Verzweiflung. Er brachte es sogar jetzt fertig, vorwurfsvoll zu blicken, so wie er immer ausgesehen hatte, wenn man ihn ansprach. Und so hatte Manfred van Gogh, Vorarbeiter in Yvettes Firma, es geschafft, selbst dieses Drama zu einer Alltagsszene herunter zu spielen (Yvettes Mutter hatte dafür gekämpft, dass ihre Tochter diesen Namen behalten konnte; was übrigens nur möglich war, da es Yvettes Vater gleichgültig war). Yvette fragte sich in diesem Moment, ob man Manfred als Kind seine Seele gestohlen hatte (Begriffe und Zusammenhänge wie sexueller Missbrauch waren ihr nicht geläufig). „Als Kind musste er eine Seele gehabt haben, alle Kinder sind nette Wesen.“ Sie seufzte innerlich und ging in die Küche. Sie war zwar wütend, da sie aber Angst vor Manfred hatte (wie vor allen Männern), sagte sie auf dem Weg in die Küche nur: „In 3 Tagen beginnt die Chemotherapie, Jessica bringt mich hin, du musst also nicht daran denken.“ Manfred grummelte irgendetwas, das Yvette nicht verstand. Sie war wieder in ihrem Alltag, ihrer Bedeutungslosigkeit angekommen, umgeben von den Gerüchen ihrer Wohnung (Bratenfett, Staub und Kaffee), hatte die Tränen weg gewischt, sich auf der Eckbank sitzend eine Zigarette angezündet und überlegt, ob der Kaffee über´s Wochenende wohl noch reichen würde.

An einem sonnigen Apriltag starb Yvette van Gogh nach zweijährigem Leiden, die Besuche ihrer Tochter waren zuletzt das einzige gewesen, auf das sie sich gefreut hatte. Die Entscheidungen und Meinungen ihrer Ärzte hatte sie nie in Frage gestellt und als sie (zufällig) um 6 Uhr früh starb, war sie alleine. Ihr letzter Gedanke war noch, dass sie nicht einmal wusste, ob sie das glücklich oder traurig machte.

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Alt 27.08.2006, 23:33   #2
FatLouie
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 61


ich finde sie auch total gut. echt - sag ihr das! begründung folgt später, ich bin grad beschäftigt
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