Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 05.10.2012, 02:09   #1
männlich Apu
 
Dabei seit: 10/2012
Alter: 30
Beiträge: 3


Standard Der Schacht

Blutrot ging die Sonne am Horizont auf, als Eduard L. mit der morgendlichen Inspektion des Kohlekraftwerks begann. Wie immer hatte er sich nur einen kurzen Kaffee gegönnt, um auf gar keinen Fall Zeit zu verlieren, denn wie man so sagt ist Zeit Geld und man hätte vermuten können Eduard L. hätte diesen Spruch erfunden, denn kaum ein anderer handelte so strikt nach dieser Devise wie er. Zuerst war die Abteilung des Managements an der Reihe, die selbstverständlich nur aus Leuten bestand, die er höchstpersönlich eingestellt hatte. Doch auch hier wollte er einen kurzen Rundgang machen und sich ein Bild über die Lage machen. Wenn man den Leuten nämlich nicht jeden Tag Druck macht, werden sie träge und unkonzentriert oder noch schlimmer sie denken an ihre Frauen und das Leben da draußen oder an ihre Kinder, mit denen sie auf Grund der Überstunden kaum Zeit verbringen konnten. Das durfte keinesfalls passieren dachte Eduard L. , das wäre der Anfang vom Ende. Folglich bog er über den mit grauen Fließen gepflasterten Gang nach rechts in einen weiteren Gang ab und sah gerade noch aus dem Augenwinkel eine der Putzfrauen ihre Arbeit verrichten, als er plötzlich ins Wanken geriet, fast das Gleichgewicht verlor und sich gerade noch an der grau-weißen Wand stützen konnte.
„ Was fällt ihnen ein? „rief er der Putzfrau am Ende des Ganges zu, die offensichtlich absichtlich den Flur mit zu viel Wasser geputzt hatte, damit er hinfiel und sich verletzte. Doch da hatte sie sich mit dem Falschen angelegt. „Ich werde mir nicht meine Karriere von einer dahergelaufenen Putze kaputt machen lassen.“ dachte Eduard L. „Das wird Konsequenzen haben, das kann ich ihnen versichern.“ drohte Eduard L. mit gewohnt aggressiver Stimme. Die Putzfrau antwortete verschüchtert mit einem „Qué ?“ „Ja sie haben mich schon verstanden. Ich werde sie unverzüglich beim Chef der Putzkolonne melden, dann werden wir ja sehen, ob sie sich das das nächste Mal noch trauen. Seien sie froh, dass ich sie nicht anzeige.“ Gerne hätte Eduard L. sie noch weiter seine Autorität spüren lassen, doch jetzt musste er weiter. Morgen werde er sie ohnehin feuern, aber jetzt durfte er keine Zeit verlieren. So ging er kurz durch die Management Abteilung, machte den Arbeitenden klar, dass er durchaus noch ihr Gehalt kürzen könne, wenn diesen Monat nicht ordentlich gearbeitet werden würde und setzte seine Inspektion schließlich fort, indem er vorbei an den vielen Büros eine schmale, rostige Treppe nach oben ging auf das Dach des gigantischen Kohlekraftwerks. Er sah sich kurz um und kletterte dann wie jeden Morgen eine Leiter hinauf zum großen Industrieturm, um die Abdichtung des grauen, etwa 10 Meter breiten Turms zu überprüfen. Oben angekommen spürte er eine leichte Brise, die der Herbstwind mit sich brachte. Er sah sich um und sah weit und breit nur Häuser und Industrietürme, dann fiel er in den langen, grauen Schacht hinein.
Eduard L. war keinesfalls überrascht oder beängstigt, als er Meter um Meter weiter den Schornstein hinunterfiel. Er hoffte nur seine Inspektion schnellstmöglich fortführen zu können, das hatte jetzt oberste Priorität, zumal nächste Woche der Wirtschaftsprüfer kommen wollte und deshalb sollte alles in bester Ordnung sein. Er war sich sicher, dass er heil unten ankommen würde. So tief konnte der Schacht nicht sein und selbst wenn, würde er höchstens ein paar leichtere Verletzungen davontragen, nichts was ihn am Arbeiten hindern sollte. Nach 10 Sekunden spürte er eine Veränderung. Einer seiner Schuhe und sein sich darin befindlicher Fuß löste sich zu Staub auf. Zuerst langsam dann immer schneller zerfielen schließlich auch seinen beiden Unterschenkel. Eduard L. nahm das Ganze nur am Rande zur Kenntnis. Es gab jetzt wichtigere Dinge. Er musste sich überlegen was dieses scheinbar ewige Fallen zu bedeuten hatte, damit er endlich wieder seiner Inspektion
nachgehen konnte. Vielleicht konnte er einen seiner Arbeiter anrufen, er hatte ja sein Mobiltelefon noch in der Hosentasche. Er könnte Helmut S. anrufen, den Ingenieur, den er einmal fast gefeuert hatte weil er seine Frau, die ein Kind geboren hatte, ins Krankenhaus gefahren hatte und deshalb selbst zu spät zur Arbeit gekommen war. Oder er könnte es bei Sven O. versuchen, einem einfachen Fließbandarbeiter, der einen Fuß in einer der Maschinen verloren hatte und dem er deshalb seinen Lohn um die Hälfte gekürzt hatte, da er nun ja kaum mehr das volle Arbeitspensum absolvieren konnte. Doch ehe er diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, merkte er, dass auch seine Arme zu grauem Industriestaub zerfallen waren. Schließlich beruhigte sich Eduard L., er wusste ja, dass das irgendwann aufhören würde. Mittlerweile war er bestimmt schon 20 Sekunden gefallen. Eduard L.´s Gedanken wurden immer unklarer. Er dachte auf einmal an seine Frau, von der er sich wegen der Arbeit getrennt hatte und an seinen Sohn, den er wegen seiner Geschäftigkeit schon 3 Jahre nicht mehr gesehen hatte, doch er überwand das Gefühl von Reue sofort, indem er sich klar machte, dass er ja noch so viel erreichen könne in seinem Beruf. Nun löste sich auch sein Rumpf auf. Eduard L. bestand nur noch aus seinem Kopf und seinem Hals. Schließlich fielen ihm Augen, Nase und Ohren ab und als er vollständig zu Staub zerborsten, auf dem Boden des Schornsteins ankam, spürte er nichts mehr außer Leichtigkeit und er hörte auf zu denken.
Gegen Mittag kehrte die Putzfrau die Staubüberreste des Schornsteins zusammen und warf sie nach draußen in den Müllcontainer. Sie hatte sich kurz gewundert was die Krawatte von Eduard L. im Schornstein zu suchen hatte. Dann ging sie aber trotzdem wieder ins Haus und putzte die Gänge… wie jeden Tag. Als am Abend die Sonne gerade am Horizont verschwand, wehte eine leiser Herbstwind die Staubreste über die Stadt, vorbei an den Industrietürmern, dem Krankenhaus, den Reihenhäusern und den spärlich bepflanzten Grünflächen.
Apu ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der Schacht




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.