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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt.

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Alt 20.08.2023, 04:22   #1
männlich Krebsgestoeber
 
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Standard Neurodivers

"We're all beautiful angels
unique in thought and action.",
sagt das Wesen mit dem spacigen Gehirn

und der Brummbär mit den Falten auf der Stirn
flüstert tonlos, dass er auch gern Englisch mag.

Im Neokortex beider
formen feuernde Neuronen
Herzen, Flügel, bunte Tücher
und ein dumpfes, hohles Ich.

Man singt: "Kommt unter unsren Schirm!
Hier ist noch Platz
für schwarze Sterne zwischen Silben,
frisch gepresste Kummertränen
und Autismusdiagnosen,
bis die Sonne explodiert."
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Alt 30.08.2023, 21:54   #2
männlich Eisenvorhang
 
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Beiträge: 2.692

Ich bin der Ansicht, dass im digitalen Raum eine Fülle an Gelegenheiten existiert, sich im Kontext der Neurodiversität kultiviert fortzubilden. Inmitten der mannigfaltigen "woken" Bewegungen und dem Einsatz gendersensibler Sprache scheint es vermehrt en vogue zu sein, das Stigma psychischer Erkrankungen zum persönlichen Gewinn zu glorifizieren. Auf Reddit begegne ich wiederholt Einträgen von Individuen, die in höchst elaborierter Manier nach Erklärungen für die Essenz des Autismus und dessen Empfindungen suchen. Nun, dieses Unterfangen vermag ohne Zweifel eine hervorragende Vorbereitung auf eine Diagnostik zu sein, da es einem dann in die Lage versetzt, den Experten einen diversifizierten Erfahrungsschatz zu vermitteln, um nicht nur die angemessene Verwendung von Pronomen zu beherrschen, sondern auch die korrekte Anwendung des Begriffs "Autist*Innen" zu gewährleisten.

Dabei wird mir bewusst, dass diese Denkweise mich de facto zu einer äußerst intoleranten Persönlichkeit mit ergrautem Haupthaar und einer beträchtlichen Prise Engstirnigkeit transformiert. Gelegentlich frage ich mich jedoch, ob die Gesellschaft wahrhaftig derartige Standpunkte benötigt? Weder exzessive Aufgeschlossenheit noch übermäßige Zurückhaltung scheinen das Empfinden der Befriedigung zu kultivieren. Am Ende ist es ohnehin so, dass Veränderung sich nicht aufhalten lässt und wir, die einstig jung waren, nun zu alten Narren werden.
Eisenvorhang ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 01.09.2023, 04:40   #3
männlich Krebsgestoeber
 
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Lieber Eisenvorhang,

danke für deine Replik! Die Suche nach dem Wesen des Autismus ist eine sehr treffende Formulierung. Immer mehr hochfunktionale Autisten, teilweise auch Selbstdiagnostiker, wünschen sich eine Diagnose, mit der sie sich vollständig identifizieren können und wollen deshalb auf die Formulierungen der Klassifikationssysteme Einfluss nehmen. In der klinischen Psychologie und der Pädagogik rennen sie damit offene Türen ein. "Co-morbidity" soll "Co-occurring" und "Autism symptoms and impairments" soll in "Specific autistic experiences and characteristics" überführt werden. Ich warte nur darauf, dass der Zentralrat der Narzissten eine Änderung von "Person mit Narzissmus" in "Eure Hoheit" beansprucht.

Diagnosen sind eigentlich ein Kommunikationsmittel für Therapeuten, aber was, wenn sich Selbstdiagnostiker zu Selbst-Experten erklären?

https://devonprice.medium.com/from-s...n-852e3a069451

Wer sich mit zu vielen Aufklebern bestückt, verschwindet darunter früher oder später vollständig. Deshalb wirken diese Gemeinschaften im Dienste der Diversität oft wie gesichtslose Menschenmassen.

Gruß KG
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Alt 01.09.2023, 17:24   #4
männlich Eisenvorhang
 
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Beiträge: 2.692

Zitat:
Zitat von Krebsgestoeber Beitrag anzeigen

Diagnosen sind eigentlich ein Kommunikationsmittel für Therapeuten, aber was, wenn sich Selbstdiagnostiker zu Selbst-Experten erklären?


Gruß KG
Und Hebel für weitere Hilfe in der Kette der Bürokratie -ohne Diagnose keine Hilfen.

Ich stieß letztens auf einen interessanten Post einer Medizinstudentin, die die Diagnose von ME/CFS durchlief und in den Instanzen Hilfe durchwirken wollte, jedoch den ordinären Weg eines grünen Ausweises und eines GDBs umschiffen wollte. Klar, sie erhielt natürlich Ablehnungen. Eigentlich macht eine Diagnose nichts anderes als das: nämlich bürokratisch relevant zu sein.
Trotzdem will jeder irgendwie die Vorzüge sozialer Hilfen genießen, aber nicht dafür arbeiten müssen. Und was nun? Braucht man die Hilfe, weil man krank ist und nicht anders kann oder braucht man die Hilfe nicht? Das ist wie zu sagen: "Ja, ich habe die Diagnose aber behindert bin ich nicht wirklich, will aber trotzdem die Hilfen und Freiräume und ich will auch kein Semester aussetzen müssen" Ja, okay, von mir aus... -.-²

Wer sich einen Stempel aufdrücken will, um eine Identität zu erhalten, sollte versuchen, im Leben mal tiefer nachzudenken. Schlussletztlich schaden solche Geister jenen, die tatsächliche schwerwiegendere Schwierigkeiten im Leben haben als ein fragiles Ego auf der Suche nach dem richtigen Pronomen und der richtigen Erkrankung. (sry)

PS: Eure Hoheit*Innen
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Stichworte
autismus, kultur, queer




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