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Alt 04.11.2010, 16:31   #1
weiblich White-Lily
 
Dabei seit: 11/2010
Alter: 31
Beiträge: 2


Standard Weiße Lilie

Stumm fließen die Tränen über mein Gesicht. Der Himmel ist von dicken, schwarzen Wolken bedeckt. Es wird bald regnen. Die Worte des Pfarrers dringen nur schwach an mein Ohr. Meine geröteten Augen schweifen über die Anwesenden. Alle stehen stumm da, nur vereinzelt entkommt ein Schluchzer einer Kehle. Sie starren zu Boden. Wie eine schwarze Wand stehen sie da. Ein schwarzer Kreis aus Menschen.
Mein Blick schweift in die Mitte. Direkt vor mir. Zu dem Loch. Meine Hände krallen sich in den schwarzen Stoff meiner Hose. Doch meinen Blick kann ich nicht abwenden. Wie gebannt starre ich hinein. Der schwarze Kasten. Das Holz glänzend.
Ein Sarg. Dein Sarg.
Die Stimme des Pfarrers wird leiser, die Schluchzer ersterben, als meine Gedanken abdriften. Zurück in die Vergangenheit. Zurück, wo noch alles gut war. Als du noch lebtest.
Bilder beginnen vor meinen Augen vorbeizuziehen. Erinnerungen. An glücklichere Tage. Wo du noch lebtest.
Wir kannten uns schon als Kinder. Ich sehe uns im Garten spielen. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Ein leichtes Lächeln erscheint auf meinen Lippen. Unpassend. Ich weiß. Aber du findest es nicht schlimm, oder? Du sagtest immer, wir sollten an deinem Grab nicht weinen. Ich habe gelacht und gesagt, natürlich würde ich nicht weinen. Du fragtest, ob ich es versprechen würde. Ich tat es.
Es tut mir leid. Es tut mir so leid, dass ich das Versprechen nicht halten konnte. Ich kann die Tränen nicht aufhalten. Aber nimmst du es mir übel?
Es kam so plötzlich. Viel zu früh. Du hattest noch so viel vor dir. So viele Jahre.

Die Trauer zieht den Strick ein Stück fester um mein Herz. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Diesen einen Tag. Wie könnte ich ihn auch vergessen?
Seitdem habe ich nicht mehr gelacht. Ich konnte es nicht mehr. Nein, das ist falsch. Eigentlich kann ich es immer noch nicht. Jedenfalls nicht oft. Seit diesem Tag.
Ein Geburtstag. Mein Geburtstag.
Alle waren schon da. Alle, außer dir. Du hattest länger gearbeitet. Wie immer. Sagtest, du kämst später. Wie immer. Ich war dir nie böse. Auch diesmal nicht. Du hattest bisher immer die Wahrheit gesagt. Du warst immer gekommen.
Doch diesmal nicht. Du hast gelogen. Du kamst nie.
Ich weiß es noch wie heute. Ein Anruf. Ich dachte, du wärst es. Würdest dich entschuldigen. Wie immer. Immer, wenn du länger gemacht hast. Wegen deiner Arbeit. Ich verstand das. Du liebtest deine Arbeit. Ich fand es sogar bewundernswert, wie du dich dafür eingesetzt hast. Ich habe es dir immer wieder gesagt. Immer, wenn du dich entschuldigt hast. Heute wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Dann wärst du vielleicht nicht länger geblieben. Und wärst vielleicht nicht gestorben.
Ich blicke nach oben. Ich hatte Recht. Es regnet. Die schweren Tropfen fallen vom Himmel und durchnässen die Gäste. Trauergäste. Doch keiner stört sich daran. Nässe vergeht. Man geht nach Hause, zieht sich um und trinkt eine schöne Tasse heiße Schokolade. So wie wir immer. Nässe vergeht. Dann lebt man weiter, ganz normal. Nicht so beim Tod. Tot ist tot. Das Leben ist vorbei, geht nicht weiter. So wie deines.
Wieder drifte ich in meine Erinnerungen ab. Zu meinem Geburtstag. Zu dem Anruf. Ich nahm den Hörer ab, grinste und tat entrüstet, ob du schon wieder länger gemacht hättest. So wie immer.
Das Lächeln verlosch. Als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Es warst nicht du, der anrief. Ein Mann war am anderen Ende. Er sprach sanft, doch auch Mitleid lag in seiner Stimme. Ich weiß nicht mehr genau, was dann geschah. Ich weiß nur, dass ich anfing zu weinen. Die Tränen kamen ununterbrochen und liefen meine Wangen hinab. Die anderen fragten mich was los wäre. Ich antwortete nicht. Konnte nicht. Irgendjemand nahm mir den Hörer aus der Hand. Ich habe nichts dagegen getan. Wir sind ins Krankenhaus gefahren. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht dorthin. Noch waren es nur Worte. Nur Worte. Doch wenn ich dich sehen würde, hätte ich Gewissheit. Dann könnte ich mir nichts mehr vorlügen. Und doch ging ich mit. Und ich sah dich. Und von da an konnte ich es nicht mehr verleugnen. Du warst tot.
Damals hat es auch geregnet. Ich erinnere mich genau daran. Obwohl der Wetterbericht von Sonne sprach. Das hätte mich vorwarnen müssen. Es hätte mir etwas sagen müssen. Es war, als wisse der Himmel schon von deinem Tod. Als würde er um dich weinen.

Mein Kopf ruckt hoch, als ich Bewegung um mich herum wahrnehme. Es ist vorbei. Einzeln treten die schwarzen Schatten vor und legen eine Blume auf dein Grab. Auch ich stehe in der Reihe. Dann stehe ich davor. Vor dem grauen Stein und der frischaufgewühlten Erde. Diesmal weine ich nicht. Ich habe keine Tränen mehr. Vorsichtig lege ich die Blume auf dein Grab. Es ist nur eine einzelne, aber ich weiß, sie gefällt dir. Du mochtest sie schon immer.
Leise und langsam macht sich die schwarze Masse auf den Weg zum Ausgang. Ich folge, jedoch in einigem Abstand. Ich will jetzt nicht so etwas wie „Das Leben geht weiter.“ oder ähnliches hören. Floskeln. Das sind doch alles nur Floskeln. Leere Floskeln.
So gehe ich langsam hinterher. Mit jedem Schritt wird es schwerer, die Füße vom Boden zu heben. Der Regen hat aufgehört.
Zaghaft durchbrechen die ersten Sonnenstrahlen die Wolkendecke. Ich bleibe stehen. Warm. So schön warm. Ich drehe mich noch einmal um. Die Blumen leuchten im Licht. Ein Lächeln legt sich auf mein Gesicht. Ein ehrliches.
Nach kurzer Zeit gehe ich weiter. Diesmal ist es nicht so schwer. Ich werde dich oft besuchen kommen. Das verspreche ich dir. Dann werde ich dir Blumen mitbringen und dir Geschichten erzählen. So, wie früher.
Es wird immer einen Platz in meinem Herzen für dich geben. Niemand wird dich von dort vertreiben. Niemals. Du wirst für immer in meinem Herzen bleiben. Du und unsere Erinnerungen.
Und ich weiß, sie gefällt dir. Die kleine, weiße Lilie auf deinem Grab
White-Lily ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.11.2010, 17:08   #2
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998


Halli Hallo -

leider habe ich nur zwei Drittel dieser schmerzlichen Betrachtung/Erinnerung gelesen, da es mir momentan an Zeit mangelt.

Aber vorerst ein g a n z g r o ß e s Kompliment!:
Exzellente Sprache, dichterische Reduktion, fast novellistisch!

Gebannt:

Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.11.2010, 00:51   #3
männlich Ex-pyja8
abgemeldet
 
Dabei seit: 02/2010
Beiträge: 41


na, da muss ich doch mal ein gediegenes "heiland sack!"
von mir geben...!
deine geschichte hat auf mich eine wahnsinnige sogwirkung, ich
konnte praktisch nicht aufhören zu lesen, selbst, wenn ich gewollt
hätte...sowohl dein erzählstil als auch der moment an sich lassen
mich sprachlos, wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil ich mit deinem
lyrischen ich sehr gut mitfühlen kann.
vor einer weile habe ich nämlich selber mal so einen anruf bekommen
und mir wurde gesagt, dass ein kumpel von mir verstorben ist (hat mich
genauso eiskalt erwischt, weil es so ein normaler tag war und eigentlich
nicht so, wie man sich den tag vorstellt, an dem man so etwas erfahren
muss) und ich hatte während dem gesamten text das gefühl,
dass du mir aus der seele schreibst...

danke dafür und meinen absoluten respekt für deine schriftstellerische
leistung...!

lg, pyja!
Ex-pyja8 ist offline   Mit Zitat antworten
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