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Alt 04.01.2008, 23:29   #1
triforium
 
Dabei seit: 01/2008
Beiträge: 13


Standard Müller und die Mäuse (letzter Teil)

Ruhig ging er zurück ins Haus, löschte das Licht und stieg die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Seine Frau schlief bereits, er betrachtete ihr friedvolles Gesicht, versank für kurze Zeit in den Anblick, wie sie dalag im schwachen Licht des Mondes mit blassem Gesicht. Als er sich neben sie gelegt hatte und die Augen schloss, weinte er leise vor sich hin. Des Nachts wachte er immer wieder auf, schlich hinunter in das Wohnzimmer und sah vorsichtig in die Schachtel, die er mit einem Tuch bedeckt hatte. Mehrmals fütterte er die Jungen, stets darauf bedacht, seine Frau nicht zu wecken, als hätte er ein schlechtes Gewissen, mit dem was er tat. Das Gefühl, um das Leben der Jungen kämpfen zu müssen, stieg wieder in ihm hoch, wurde mit jedem Male, wenn er wieder aufwachte und die Treppe hinunterschlich, stärker und stärker. Gleichzeitig überkamen ihn Zweifel, peinigte ihn Gedanken über die Sinnlosigkeit seines Tuns, über die Anmaßung, in den Gang der Natur eingreifen zu wollen. Was verstand er schon vom Leben und Sterben, vom Werden und Vergehen, von den komplexen Vorgängen, die sich hinter dem Horizont seines beschränkten Verstandes abspielten? Sollte er aufgeben, die Jungen ihrem Schicksal überlassen? Hätte er sich, der er doch viel zu wenig von dem verstand, was sich hier vor seinen Augen abspielte und was zu tun war, überhaupt einmischen dürfen? Hätte er die Jungen nicht vielmehr sterben lassen müssen, ohne helfend einzugreifen?
Und als wollte ihm ein ferner Gott eine Lehre erteilen, ihm bestätigen, was er soeben gedacht hatte, starb ein weiteres Jungens zwischen seinen Fingern, eben als er versuchte es zu füttern. Ohnmächtig sah er zu, wie es sich wand und wie unter großen Schmerzen krümmte, die kleinen Glieder von sich streckte, einen letzten Atemzug tat und dann sein kleines Leben aushauchte, die kleinen Pfoten zusammenlegte wie zum Gebet. Das Bild der sterbenden Taube, die er versucht hatte zu retten, stand vor seinem inneren Auge. Damals hatte er ganz deutlich gesehen, wie ihre Seele den Körper verließ mit dem letzten Atemzug, nur einen kurzen Augenblick lang, aber deutlich sichtbar. Er hatte so etwas nicht für möglich gehalten, doch es war geschehen. Ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit war über ihn gekommen, hatte sein Herz durchspült, ihn mit Sauerstoff gefüllt, ihm eine Last genommen, die er glaubte, nicht mehr tragen zu können.
Später hatte er immer wieder versucht, sich diese Erscheinung zu erklären, hatte sie seiner erregten und übersteigerten Phantasie zugeschrieben, die Bilder malt, wenn sie nicht mehr ein noch aus weiß. Doch, soviel er auch darüber nachgedacht hatte, so viel er auch über diese Phänomen nachgelesen hatte, alle Erklärungsversuche hatten ihn nicht überzeugen können, vielmehr hatte sich das Bild der im Moment des eintretenden Todes entfliehenden Seele von Mal zu Mal verfestigt, war ein Teil seiner innersten Gewissheit geworden, die sich durch nichts beirren ließ.
Jetzt aber sah er nichts, sah nur den kleinen Körper, der seinen letzten Atemzug tat und dann blass und bläulich wächsern in seiner Hand lag. Einfach so, ohne jeden Übergang, wie ein welkes Blatt vom Baume fällt, das man gerade noch grün gesehen hatte. Er fühlte sich leer und ausgehöhlt. Ganz anderes fühlte es sich also an im Angesicht des Todes, wenn man dabei war, zusah und den Blick nicht abwendete. Ganz anders, als wenn man nur an ihn dachte, in Gedanken versunken bei ihm verweilte. Als wäre es der eigene Tod. Danach war alles reine Liebe, kein zwieträchtiges Gefühl mischte sich ein, kein Gedanke an Vergeltung, es gab die Verletztheit nicht mehr, die Verzweiflung war fort. Alles war gefüllt mit Liebe, nur Liebe, nur sein, nur Ewigkeit. Jetzt aber, im Angesicht des Todes, im Angesicht des sterbenden Leibes, war alles im Kopf leer, unendlich leer, ohne Anhaltspunkt, ohne Anfang und Ende. Leben und Sterben waren Eins, spielten ein Spiel, gehörten untrennbar zusammen, ohne Anteilnahme spielten sie ihr Spiel, als sei es egal, ob ihnen jemand dabei zusähe.
Nachdem er auch diesen kleinen Körper im Garten begraben hatte, schlich er ins Bett zurück, deckte sich vorsichtig zu und fiel in einen tiefen Schlaf. Im Traum wachte er auf und sah viele, weiß leuchtende Mäuse um sich herum, überall saßen sie und starrten ihn an, auf dem Boden, auf dem Schrank, am Fußende seines Bettes. Eine Maus saß auf seiner Brust, bewegungslos wie eine Statue und aus ihrem leuchtenden Körper vernahm er eine helle singende Stimme: Warum hast du das getan? Warum hast du das getan? Warum hast du mich nicht sterben lassen? Deine Bemühungen waren umsonst, ganz umsonst. Du Narr! Was bildest Du Dir ein? Was glaubst Du, wer Du bist? Gott vielleicht? Was weißt Du schon vom Sterben? Müller wollte antworten, wollte erklären, wollte sich verteidigen. Aber so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, die Stimme versagte, kein einziges Wort brachte er über die Lippen. Regungslos verfolgte er die Szenerie, sah die kleine Maus auf seiner Brust sich im Rhythmus seines Atems auf und ab bewegen und es schien ihm, als lächelte sie ihn wissend an.
Unvermittelt wachte er auf. Als er die Augen aufschlug, blickte er in das lächelnde Gesicht seiner Frau, das sich über ihn gebeugt hatte. Es war das gleiche wissende Lächeln, das ihren Mund umspielte. Du hast gestöhnt, hast wohl schlecht geträumt, sagte sie mit sanfter Stimme, komm, steh auf, wir wollen frühstücken. Benommen richtete sich Müller auf, wischte sich die Augen und blickte im Schlafzimmer umher, als wolle er sich vergewissern, dass keine Maus mehr im Zimmer war. Nachdem er sich im Bad entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nur oberflächlich gewaschen hatte, ging er hinunter ins Wohnzimmer, steuerte auf die kleine Schachtel zu, hob vorsichtig das Tuch und vergewisserte sich, dass die Mäuse noch lebten. Als er die kleinen Körper mit den Fingern berührte, erschrak er, sie waren ganz kalt, fast eisig. Schnell füllte er die Wärmflasche mit heißem Wasser, wickelte sie in ein Tuch und legte sie behutsam unter die Schachtel.
Sosehr er sich an diesem Sonntag auch bemühte, sosehr er um das Leben der kleinen Mäuse kämpfte, es gelang ihm nicht, ihr kleines armseliges Leben zu retten. Eines nach dem anderen starb ihm unter den Händen weg, in nahezu gleichen Abständen, einer für ihn unerklärlichen Gesetzmäßigkeit folgend und so löste sich sein Problem, das ihn tags zuvor noch gequält hatte, wie von selbst. Am Abend waren alle Mäuse tot, waren all die kleinen Leiber im Garten begraben worden, trat eine seltsame Stille in dem sonst so geschäftigen Haushalt ein. Es schien ihm, als gehe im seine Frau aus dem Weg, aber auch er hatte keinerlei Lust, ein Gespräch zu beginnen. Müller fiel von nun an immer mehr in ein tiefes Loch, es zog ihn hinunter, sein Gemüt war schwer und alles um ihn herum erschien in gedämpftem Licht. Wieder durchflutete ihn eine Welle tiefer, nie gekannter Gefühle, erfasste ihn ein Strudel nie gedachter Gedanken, die sich wie schwere Nebelbänke kalt auf sein Gemüt legten.
Er hätte am liebsten geweint, doch es gelang ihm nicht. Er hätte am liebsten laut geschrieen, doch keine Silbe kam über seine Lippen. Was hast Du getan? Was hast Du getan? hämmerte es in seinem Kopf, warum hast du nicht aufgepasst, warum bist du nicht vorsichtiger gewesen? Du hättest alles verhindern können, hättest du nur ein bischen aufgepasst. Aber es waren doch nur Mäuse, antwortete sein Verstand, Schädlinge, die man üblicherweise in Fallen fängt oder erschlägt. An Mäuse verschwendet man keinen Gedanken, man fürchtet sie vielleicht als Plage, als Überträger von Krankheiten, als lästige Mitbewohner. Man duldet sie bestenfalls in Wald und Flur, sofern sie keinen Schaden anrichten, als Futter für Fuchs, Habicht und Eule. Um Gottes willen, wo kämen wir denn hin, wenn man sich nun auch noch mit Mäusen abgeben, ihnen vielleicht sogar noch Mitleid entgegenbringen sollte. Gewiss, der Buddha spricht von jeder Kreatur als gleiche unter Gleichen, als ein vollwertiges Mitglied der Lebensgemeinschaft, welches es zu achten und zu lieben gälte. Es mag schon sein, dass es da keinen Unterschied gibt, egal wie groß das Lebewesen ist.
Es drehte sich alles in seinem Kopf, wo sollte man beginnen, wo aufhören. Ist etwa eine Bakterie kein Lebewesen, ist nicht jede Handvoll Wasser voller Lebewesen, die unablässig geboren und getötet werden? Gewiss, so weit wollte er sich nicht versteigen, sich nicht verhaspeln in Fragen der Größe und Maßstäblichkeit. Alles hat ja wohl seinen Sinn im Leben, alles ist jawohl vorherbestimmt, jeder ist an das Rad der Zeit gebunden und in gewisser Weise auch unschuldig an seinem Tun und Werden. Gewiss, er hatte die Jungen nicht absichtlich in den Tod getrieben, alles war nur ein dummer Zufall gewesen, der jedem anderen auch hätte passieren können und es werden wohl immer wieder ähnliche Katastrophen passieren, wie sehr man sich auch davor zu schützen sucht.
So verging der Rest des Abends mit einem inneren Disput zwischen Verstand und Gefühl, der an Heftigkeit ständig zunahm und schließlich zu eskalieren drohte. Immer wieder hatte Müller versucht, sich zu beruhigen, sich abzulenken, seine Gefühle einzudämmen. Es gelang ihm nicht. Im Gegenteil, je mehr er sich bemühte, umso heftiger nagte sein Gewissen, umso ungestümer wallten die Gefühle, umso größer wurde der Schmerz, der sich in seinem Herzen ausbreitete.
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Alt 04.01.2008, 23:37   #2
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


-verschoben, da kein Theaterstück-
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Lesezeichen für Müller und die Mäuse (letzter Teil)




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