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24.06.2013, 14:13 | #1 |
Fluss des Vergessens
Was gäbe ich für eine Tasse Kaffee, bevor ich ins Tal des Vergessens hinunterreite. In diesem seligen Tal vergisst du deinen Namen, deine Herkunft, deine Geschichte, dein Kerbholz, einfach alles. Du kannst dich nicht einmal mehr daran erinnern, was du noch vergessen könntest und was du bereits vergessen hast.
Der Wald schmiegt sich wie grüner Saum an die Ufer des Flusses, dessen ruhige Strömung alles mit sich nimmt, was dich je und grade noch beschäftigt hat. In seinen gurgelnd und plätschernd dahinziehenden Wellen zerfließen Zeit und Raum, nur einen kleinen Abschnitt seiner Wanderschaft kannst du verfolgen, festhalten kannst du ihn nicht. Obwohl du ihn als Ganzes erfasst und begreifst, ist er weder zu fassen noch zu greifen. Er fließt, und alles fließt mit ihm davon, unwiederbringlich und unaufhaltsam dem weiten Meer der Ewigkeit zu. Du hast eine zerbrochene Liebe in der Satteltasche? Wirf sie hinein! Trauer und Schwermut lasten dir drückend auf den Schultern? Wirf sie hinein! Angst und Verzagtheit verzehren dein Gemüt? Wirf sie hinein! Sorge und Ungewiss quälen dich? Wirf einfach alles hinein! Nimm einen Stein, ein Stück Holz, lade ihm all deine Mühsal auf, vertrau sie den Fluten an, lass sie in ihren Wogen versinken, mit ihnen gleiten und entschwinden, weit weit fort für immer. Es gibt keinen besseren Trost und Freund als einen ruhig ziehenden Fluss. Aber sieh dich vor, dass du nicht vor Sehnsucht nach Erleichterung versehentlich gleich mit hinterher springst. Denn ebenso wie Holz und Stein schluckt er auch dich. Für ihn besteht da kein Unterschied, was in seinen Wellen landet, gehört ihm. Und soweit es nicht strandet oder rausgefischt wird, gibt er es auch nicht mehr her. Er ist nicht so ganz ohne, der leise Bruder Fluss, er besitzt große Macht und Magie. Seine Schwestern ebenso, nebenbei bemerkt. Wenn du ihn lange genug betrachtest, wölbt sich seine Mitte leicht nach oben. Er erscheint dir wie eine breite Straße, und im Glanz der sinkenden Sonne und des aufgehenden Mondes erstreckt sich ein glitzernder Steg aus Licht bis ans gegenüberliegende Ufer. Trau ihm nicht und setze deinen Fuß nicht auf seine tanzenden Streben, du wirst nass dabei, und das ist noch das Wenigste. Und nimm dich in Acht, wenn geisterhafte Nebelschwaden über ihm schweben und aus seinen Wassern steigen, du weißt nie, was sich da so alles hinter ihnen verbirgt. Am besten du bleibst einfach da sitzen wo du hockst und rührst dich nicht vom Fleck. Dann wird er beginnen, dir seine Geschichten zuzuflüstern und seine Geheimnisse ein klein wenig zu lüften. Und er hat unendlich viele davon und noch mehr zu erzählen. Wer ihm mit Ehrfurcht begegnet, den schätzt er hoch und dem teilt er sich mit. Ich muss gestehen, dass wir uns inzwischen schon so lange kennen, dass es vollauf genügt, gemächlich an seinem Ufer entlang zu reiten oder schlendern, um zwanglos mit ihm plaudern zu können. Wie zwei vertraute alte Freunde, über dies und das oder gar nichts. Mit gelassen lockerer Selbstverständlichkeit könnte man sagen. In letzter Zeit wundern wir uns nur noch. Über das, was die Menschen so alles fertig bringen an grobem Unfug und Firlefanz, in der festen Annahme und Überzeugung, wieder mal was Großes, Außergewöhnliches oder gar Unsterbliches vollbracht und auf die Füße gestellt zu haben. Das wird immer aberwitziger und absonderlicher, sie übertreffen sich förmlich an Abstrusem und Nichtigkeit und eifern mit Geschmacklosigkeiten um die Wette. Aber schon während wir es zur Sprache bringen, hab ich es vergessen. Denn alles, was der Fluss dazu zu sagen hat, ist ein Vergiss es. Und das ist kein gutgemeinter Rat, keine Aufforderung und kein Befehl, es geschieht ganz einfach im selben Augenblick, alles ist auf einen Wellenschlag dahin. So ist das im seligen Tal des Vergessens. Manchmal gleite ich im Kanu, das mir ein befreundeter Walapai geschenkt hat, über seine Fluten. Der Biber kennt mich und meine vor Begeisterung japsende Hündin, beeindruckend schiebt er seinen kantigen Kopf mit den runden Ohren und den listigen Augen aus dem Wasser, um unsere Bugwellen zu kreuzen, als wolle er sagen, dass wir gerade dabei sind, sein Reich zu betreten und allein seine Großzügigkeit uns dies gewähre. Ziehe ich das Kanu ans Ufer, stemmt auch er sich gewichtig aus dem Nass und klopft laut vernehmlich mit seinem Paddelschwanz auf den Boden, um mit Nachdruck die Grenze zu markieren, die er selbst gezogen hat. Nicht von ungefähr gilt der Biber den meisten Indianerstämmen als heilig. Wie gut, dass er keine Eier legt wie sein Vetter im Land der Riesenspringer, zu schlechter Letzt käm’ da noch ein Basilisk rausgeschlüpft. Was allerdings sehr unwahrscheinlich ist, denn der alte Biber ist ein guter Geist. Es wären sicher runde Biberbabys mit runden Ohren und runden Augen. Die einmal große Meister des Dammbaus werden. Könnten sie doch nur den menschlichen Größenwahn eindämmen. Lange Jahrtausende spielte sich das Leben am Fluss in Einklang und Harmonie mit seiner lebensspendenden Güte ab. Kanus glitten lautlos durch seine Fluten, schillernde Fischschwärme wirbelten in flachen Buchten, Enten, Teichhühner, Schwäne und Haubentaucher brüteten in seinen Altwassern, der Biber baute seine Dämme und in den Bäumen nisteten Reiher, Kormoran, Fischadler und Seeadler. Mit dem weißen Mann wurde alles anders. Erst knallte er alles ab mit seinen Donnerbüchsen, was da kreuchte und fleuchte. Dann querten endlose Planwagen Trecks und gewaltige Rinderherden seine Furten, die Siedler fällten die alten Bäume, legten die Sümpfe trocken und errichteten ihre Städte. Ungeheure Mengen an Abfall, Dreck, Fäkalien und Exkrementen gossen sie achtlos in seine glasklaren Wasser, und der Ärmste hatte mächtig zu schlucken. Ströme von Blut gab es an den geschlagenen Brücken zu trinken für den alten Wanderer, als sich die feindlichen Heere von Ufer zu Ufer in Fetzen schossen, einem Angriff der Gegenangriff folgte und die Leichen sich an den Sandbänken türmten. Dann rodeten sie die Urwälder, die entasteten Gerippe sausten klatschend in seine Wellen, unzählige Stämme stauten sich wie Zahnstocher in seinen Biegungen, verdunkelten sein helles freundliches Gesicht. Und schließlich begannen sie Dämme zu bauen, die die kunstvolle Arbeit der Biber wie spärliches Schwemmholz erscheinen lassen. Seitdem fließt der Fluss des Vergessens durch nacktes Land, sein üppiger Uferwald bleibt für immer weggefegt, Wind und Wetter haben das dünne Erdreich abgetragen, der Regen die lockere Krume, von keinem Wurzelgeflecht mehr gehalten, fortgespült und eine nackte Steinwüste hinterlassen. Der Schwemmschlamm hat dem Fluss arg zugesetzt, alles andere ebenso, aber er konnte es tapfer verwinden und emsig seinen Weg hinunterspülen hinein in den kalifornischen Golf. Obgleich der Glaube des Flusses an diese neue Gattung Mensch für immer gebrochen ist, er nichts Gutes mehr erwartet von ihm, nimmt er ihn stoisch und geduldig hin. Die Meute ist nun mal da, was soll man machen? Und wenn sie sich wohl fühlt an seinen Ufern, nun denn, es sei ihr vergönnt. Man wird lernen, miteinander auszukommen. Ein Hochwasser ab und zu wird wohl nicht zu vermeiden sein, aber nun, sie sind diejenigen, die an seinem Lauf leben wollen, er hat sie nicht darum gebeten. Der Fluss ist ein Desperado mit einem unendlich großen Herzen. Was ich von mir nun nicht unbedingt behaupten kann. Meine Pumpe dürfte Normalgröße haben. Ein Durchschnittsherz, wenn auch ziemlich vernarbt. Angeblich soll es tief sein wie ein Bergwerk, eine Mexikanerin hat das mal so zu mir gesagt, die in einer ziemlich abgedrehten Cantina hinterm Ausschank stand. Vermutlich hatte sie das aus irgendeinem Song, was weiß ich. Vielleicht meinte sie auch meine Kehle. Man kann schon mal locker einen Fluss austrinken. Einen See hinunterkippen. Das Leben ist nicht besonders fair, manche Wunden gehen tief und schmerzen noch, wenn sie schon längst verheilt sind. Es gab Jahre, da bekamen die Pferde Schluckauf, wenn ich morgens meinen Kopf in die Tränke tauchte. Aber auch das ist Vergangenheit und ins Vergessen gesunken. Für Gummibaum |
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24.06.2013, 14:20 | #2 |
R.I.P.
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Auch wenn ich hier eigentlich nichts zu suchen habe:
Ein wunderbarer Text, der tiefen Eindruck auf mich gemacht hat! |
24.06.2013, 17:58 | #3 |
Wieso hast Du hier nichts zu suchen?
Ist doch schön, wenn er Dir gefällt! |
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24.06.2013, 19:57 | #4 |
R.I.P.
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Weil der schöne Text gummibaum gewidmet ist.
Da wollte ich nicht der Eindringling sein. |
24.06.2013, 22:16 | #5 |
Ach so. Nun, Gummibaum hat mir ein Flussgedicht gewidmet, ein weiteres irgendwo in einem Thread versteckt, hab vergessen, wo...
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25.06.2013, 11:25 | #6 |
Wieder mal sehr gern gelesen, Desperado, ich mag den Grundton deiner Geschichten, aber das weißt du ja!
liebe Grüße, simba |
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25.06.2013, 13:56 | #7 |
Hallo Desperado,
welche Ehre für mich. Und es ist ja nicht irgendein Text, sondern ein atemberaubend schöner. Ich habe noch nie so hingerissen am Ufer eines Flusses gestanden, wie die letzte Viertelstunde. Wie du Größe und stoische Ruhe dieses von menschlichem Irrsinn geplagten Bruders deiner Seele einfühlsam schilderst, beeindruckt mich. Auch die Begegnung mit dem Biber zeigt Wertschätzung seiner anderen Freunde. Ich kann den Text leider erst morgen ausdrucken. Alle sprachlichen Feinheiten werden mir dann nochmals Freude bereiten. LG gummibaum |
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26.06.2013, 08:13 | #8 |
Guten Morgen, simba,
Guten Morgen, Gummibaum, ich hab's mal nachgerechnet. In meinem Leben habe ich an neun verschiedenen Flüssen gewohnt und gelebt, am Strom, an großen und kleinen, mal mehr mal weniger nah, aber immer locker zu Fuß erreichbar oder in Sichtweite, und heute lebe ich am oberen Lauf von einem, in dessen -verschwundenen- Altwassern nicht sehr fern der Mündung ich als Kind gebadet habe. (Zudem bin ich in ganz Deutschland -ich weiß wirklich nicht mehr wie viele- Flusstäler entlang und hinunter geradelt, und kein Lauf ist wie der andere, alle fließenden Wasser haben ihr ganz eigenes, einzigartiges Wesen, man könnte ohne Umschweife sagen ihre Seele.) Wenn ein Fluss dich ein Leben lang begleitet, du immer wieder zu ihm zurückkehrst an verschieden gelegenen Ufern zu verschiedenen Lebensabschnitten, wird er zum engen Vertrauten, das hat nichts mit Romantik zu tun, das ist eine schlichte Tatsache. Ich hab mich aufrichtig gefreut, dass ihr Freude habt ab meiner kleinen Geschichte! Herzlich Desperado |
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26.06.2013, 08:15 | #9 |
abgemeldet
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Guten Tag Desperado
dieser Fluss ist atemberaubend schön! WEISSschwarz |
26.06.2013, 12:31 | #10 |
Oh ja, WEISSschwarz, das ist er- immer noch.
Schönen Tag! Desperado |
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27.06.2013, 02:05 | #11 |
Dabei seit: 11/2008
Ort: bye the Godfarther! The God? the God!..... Father!
Alter: 40
Beiträge: 949
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Ich muss mein Lob noch hinzufühgen. Sehr schön.
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27.06.2013, 13:11 | #12 |
Danke, El Machiko, freut mich!
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01.07.2013, 02:14 | #13 |
abgemeldet
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fluss des vergessens
hi desperado, man hat das gefühl, in einer anderen welt zu sein. sehr schön zu lesen. kip
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01.07.2013, 09:07 | #14 |
Only the River knows, kip, watching the River flow...
Freut mich, dass er Dich ein Stück mitgenommen hat auf seiner Reise. Riverado |
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