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Alt 03.10.2011, 15:04   #1
weiblich Shadowcrow
 
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Standard Die Versammlung der Raupen

Die Versammlung der Raupen


Fip ist ein Schmetterling. Normalerweise haben Schmetterlinge keine Namen, weil sie sich über ihre wunderbaren Farben rufen, und so sind die Namen klein und bedeutungslos.

Fip ist ein wunderbarer Tagpfauenauge. Als Raupe schon frass er seiner Natur gemäss, bis er bereit war, sich zu verpuppen und nach einigen Tagen schlüpfte Fip als Schmetterling und nun lebt er seiner Schmetterlingsnatur gemäss, indem er sich von köstlichen Nektar ernährt und eine Partnerin sucht indem er seine Flügel ausbreitet.

Nachts schläft Fip geschützt zwischen Blättern und Zweigen und wenn Gefahr droht, schiebt er seine unteren Flügelpaare hevor, so dass die darauf zu erkennenden Flecken wie Augen wirken und den Feind in die Flucht schlagen. Und auch heute schläft Fip wieder wie gewohnt zwischen den Blättern eines Baumes, doch heute hat er einen besonderen Traum.

Fip träumt, er flöge durch eine wundersame Welt, in der ihm kein einziger Schmetterling begegnet. Verzweifelt zeigt er seine Farben in der Hoffnung, einen Artgenossen anzulocken, doch nirgendwo ist ein weiteres dieser wunderschönen Insekten zu sehen. Ja, es gibt Fliegen und Bienen und auch brummende Käfer, aber keinen einzigen Schmetterling.

So macht er sich auf die Suche, fliegt dahin und dorthin, doch bleibt eben diese Suche erfolglos. Plötzlich hört er Gemurmel und in der Hoffnung, dort auf seinesgleichen zu stossen, fliegt er dem Geräusch nach. Und so findet er auch im hohen Gras eine Ansammlung von Wesen, die wild durcheinander diskutieren. Erfreut stellt er fest, dass es sich um Raupen handelt und so denkt Fip, dass dies der richtige Ort ist, um sich niederzulassen und geduldig zu warten, dass die Raupen sich verpuppen und zu Schmetterlingen werden.

Er landet etwas weiter entfernt und, indem er seine Flügel zusammenklappt, schreitet er durch das hohe Gras, um sich den Raupen zu nähern. Die Worte klingen immer klarer, bis er hören kann, worüber die Raupen reden.

„Essen, essen ist wichtig,“ hört Fip eine dicke grüne Raupe sagen, „Bud hat auch viel gegessen, denn nur so kann man ein Schmetterling werden.“
„Nein, nein, die Seide ist es, die es ausmacht“, ruft eine Seidenspinnerraupe dazwischen und zieht elegant einen glänzenden Faden aus ihrem Hintern, „nur wer so feine Fäden spinnen kann, der ist auch edel genug, um ein Schmetterling zu werden.“
„Ach hör bloss auf mit deinen Spinnereien“, meint eine dritte Raupe, bei der man nicht erkennen kann, wo vorne und hinten ist, „ich war schon ein Schmetterling und bin zurückgekehrt, um euch davon zu berichten.“

Zwar versteht Fip nicht so recht, was die Raupen da erzählen, aber er ist sich sicher, dass es darum geht, wie es ist, ein Schmetterling zu sein. Erfreut erhebt er sich in die Luft, denn wenn einer ihnen erklären kann, was ein Schmetterling ist, dann ja wohl er. Er wird ihnen alles erzählen, so dass sie sich endlich verpuppen können, und als seinesgleichen wiedergeboren zu werden, so dass er sich mit ihnen über ihre Erfahrungen austauschen kann. Schliesslich landet er elegant mit einem leichten Flügelschlag inmitten der Raupen.

Fip kommt nicht einmal dazu, sie freundlich zu begrüssen, denn gleich erhebt sich ein Tumult.
„He, mach doch nicht soviel Wind“, hört er aus der einen Ecke
„Wer glaubst du wer du bist“, erschallt eine Frage aus einer anderen Richtung.
„Mach Platz, du arrogantes Wesen. Kommst dir wohl toll vor, mit deinen breiten Flügeln“, ruft eine weitere Raupe
All dies lässt Fip nicht davon abhalten, sich gut gelaunt vorzustellen.
„Ich bin ein Schmetterling“, sagt er erfreut,“ich war auch mal wie ihr. Ich kann euch bestimmt bei eurer Entwicklung helfen. Und dann können wir gemeinsam zu den Blumen fliegen.“
Die dicke grüne Raupe scheint der Anführer zu sein. Sie erhebt sich und beäugt Fip verächtlich von oben bis unten.
„DU willst ein Schmetterling sein“, sie spuckt ihn fast an, „du bist doch nicht einmal eine Raupe!“

Fip versteht nicht. Er ist doch ein Schmetterling und er weiss, dass aus jeder Raupe ein solches Wesen werden kann.
„Glaubst du echt, dass du uns mit deinem arroganten Gehabe imponierst“, ruft ihm die Seidenspinnerraupe zu, „ein Schmetterling ist viel zu bescheiden, um sich so mit allen Farben hier zu zeigen.“
Fip dreht sich um, um sich zu rechtfertigen, da ertönt schon eine weitere Stimme.
„Was kannst du denn überhaupt“, fragt ihn eine dünne Raupe mit kleinen Stacheln, „wenn du wirklich ein Schmetterling wärest, dann könntest du doch bestimmt etwas besonderes.“

Hätte Fip Schultern gehabt, hätte er sie nun gezuckt.
„Ich kann fliegen“, meint er freundlich, und schon hört er von allen Seiten.
„Pah, fliegen, das können auch Bienen oder Käfer.“
Und eine andere Raupe fügt hinzu,
„Ja sogar die gemeine Schmeissfliege kann das, und deswegen hälst du dich wohl für etwas besonderes, oder wie?“
„Nein“, meint Fip, „ich bin nichts besonderes, nur ein Schmetterling.“
„Was kannst du denn noch so be-son-der-es“, eine Raupe, die nur ein paar Beinchen hinten und vorne hat, dehnt höhnisch das letzte Wort.
Fip überlegt ein wenig, dann fällt ihm etwas weiteres ein.
„Ich kann mit meinen Beinen schmecken“, meint er stolz.
Um ihn herum platzen die Raupen fast vor lachen.
„Mit den Beinen schmecken“, kichert eine giftgrüne Raupe, „wer hat denn schon so etwas blödes gehört.“
„Und mit deinen Augen kannst du wohl hören“, prustet eine andere, die aussieht wie eine Flaschenbürste, hätten Raupen und Schmetterlinge gewusst, was eine Flaschenbürste ist.
Fip ist verwirrt. Warum erkennen sie ihn nicht, er war doch auch einmal wie sie und wurde zu einem Schmetterling, weil es in der Natur einer Raupe liegt, ein Schmetterling zu werden. Oder kann das nur ein Schmetterling erkennen? Er überlegt und macht einen weiteren Versuch. Er klappt seine unteren Flügel zuerst zurück, dann lässt er sie unter den oberen Flügel hervorgleiten, so dass die beiden Flecke wie Augen herauslugen.
„Ich kann Feinde verwirren und in die Flucht schlagen“, sagt Fip etwas mutlos, und wieder antworten die Raupen alle durcheinander.
„Na und“, meint eine Raupe mit einem roten Kragen mit zwei Punkten drauf, die ihren Kopf grösser erscheinen lassen, „das kann ich auch,“ und präsentiert ihren übergrossen Kopf.
„Na klar“, spöttelt eine andere, die aussieht wie eine Nacktschnecke, „zeigen, was man gar nicht ist. So ist kein Schmetterling, so zeigen sich nur die, die keine Ahnung haben und bloss protzen wollen.“
„Schluss jetzt“, ruft die dicke grüne Raupe dazwischen und richtet sich an Fip, „kein Schmetterling wäre je so arrogant, sich so bunt und auffallend nach aussen zu zeigen. Ein Schmetterling weiss nämlich, dass sein wahres Wesen in seinem Inneren liegt.“

Langsam weiss Fip nicht mehr, woran er ist. Ist es wirklich kein Schmetterling? Haben die Raupen etwa recht? Er klappt seine Flügel aus, und erhebt sich unter den Buh-rufen der Wesen, die er für seinesgleichen hielt. Die dicke grüne Raupe läuft ihm noch nach und ruft ihm hinterher,
„Du hättest lernen können, bescheidener zu werden und dann hättest du in unserer Mitte vielleicht eine Chance gehabt, ein Schmetterling zu werden. Aber du kannst das nicht verstehen, denn nur wir Raupen sind dazu auserwählt, Schmetterlinge zu werden.“
Dann geht ihr die Puste aus und sie sieht zu, wie Fip davonflattert.
„Schmetterling“, hört Fip sie noch sagen, „pah, wer nicht zu uns gehört, der kann den Weg nicht finden, um ein Schmetterling zu werden. Lächerliches Insekt!“
Und dann fliegt Fip davon, immer noch auf der Suche nach weiteren Schmetterlingen, bis er schliesslich erwacht.

Die Sonne scheint zwischen den Blättern hindurch und erwärmt Fip’s Körper und Flügel. Langsam klettert er aus seinem Versteck hervor, klappt seine Flügel auseinander und nach einer kurzen Zeit erhebt er sich in die Lüfte. Dabei wird er immer wieder an seinen Traum erinnert, obwohl ihm nun jede Menge Schmetterlinge begegnen, die ihn freundlich mit einem Flügelschlag begrüssen.

Etwas weiter sieht er einen alten Schmetterling der schon etwas mitgenommen aussieht, aber der sich nicht von seinem Aussehen stören lässt, um seine zerfledderten Flügel in die Sonne zu strecken. Er sitzt auf einer kelchförmigen Blüte und schlürft genüsslich Nektar. In der Hoffnung, dieser alte Falter könnte ihm seinen Traum deuten, lässt sich Fip auf einem Blatt nahe der Blume nieder. Schweigend sieht er dem alten Schmetterling zu bis er plötzlich schüchtern fragt.
„Du, ich hatte einen seltsamen Traum, könntest du mir da weiterhelfen?“
Der alte Schmetterling zieht seinen Rüssel ein und dreht sich so, dass er Fip mit seinen Facettenaugen besser betrachten kann.
„Erzähl deinen Traum“, meint er freundlich, „vielleicht kann ich dir ja helfen.“

Fip erzählt ihm von dem Traum, in dem es keine Schmetterlinge gab. Er lässt keine Details aus, als er die Raupen aufzählt, die er gesehen hatte und beschreibt jede Theorie, die von den Raupen vehement verteidigt wurden.
„Eine Raupe behauptete sogar, es hätte einen Schmetterling namens Jes gegeben, der sei über das Wasser gelaufen. Warum sollten wir über Wasser laufen, wenn wir drüber fliegen können?“ fragt Fip zweifelnd, und könnte ein Schmetterling schmunzeln, so würde der alte Falter dies nun tun.
„Du hattest einen Menschentraum“, erklärt er Fip, „hin und wieder verirren sich die Träume der Menschen und dann sind es wir Tiere, die sie träumen.“
„Ein Menschentraum?“ fragt Fip zurück, „meinst du wirklich ein Traum von diesen tapsigen Wesen, die auf zwei Beinen umherlaufen und glauben, die Natur gehöre ihnen?“
„Ja“, spricht der alte Schmetterling weiter, „sie denken anders, sinnieren über das ‚was-wäre-wenn‘ und glauben, deswegen klüger zu sein als die Tiere. Deswegen denken sie auch, die Natur gehöre ihnen und sie begreifen nicht, dass sie zur Natur gehören. Sie selbst nennen dies ‚Intelligenz‘.“

Fip denkt angestrengt nach, um den Traum weiter zu verstehen.
„Aber was sagt mir das nun über meinen Traum“, will er wissen, „warum dachten und sprachen die Raupen in meinem Traum so komisch? Noch nie hat eine Raupe darüber Theorien gesponnen, wie es wohl sein wird, ein Schmetterling zu sein. Sie hat wohl eher einen Kokon gesponnen und wurde einfach zu einem Schmetterling.“
Der alte Schmetterling klappt seine zerfledderten Flügel ein paarmal auf und zu.
„Eine Raupe muss auch nicht darüber nachdenken, wie es sein wird, ein Schmetterling zu sein. Sie wird zum Schmetterling, weil es in seiner Natur liegt, so wie auch du dich von der Raupe zum Schmetterling verwandelt hast, weil es eben in deiner Natur lag. Darüber muss man nicht nachdenken, man macht es einfach.“
Eine weitere Frage liegt nun Fip auf seinem Rüssel.
„Und was würde passieren, wenn die Raupen ähnlich dächten wie die Menschen?“ fragt er leise, so als ob er die Antwort schon wüsste und sie nicht hören wolle. Der alte Falter klappt ein letztes Mal seine Flügel auf und erhebt sich von der Blüte.
„Dann gäbe es keine Schmetterlinge mehr“, ruft er Fip zu und fliegt dann davon, bis Fip ihn aus den Augen verliert.

Fip sitzt nun auf dem Blatt neben der Blüte und denkt über die letzten Worte des alten Schmetterlings nach. Er ist nun dankbar, dass all dies bloss ein Traum gewesen war und dass er, wenn er um sich schaut, viele Schmetterlinge erkennen kann, jeder schöner als der nächste und keiner darum verlegen, so schillernd wie möglich auszusehen, bloss weil ein Schmetterling ist, was er von Natur aus ist: Bunt, farbenfroh, ein Schmetterling halt. Er steigt auf die Blüte, um nachzusehen, ob der alte Schmetterling ihm noch etwas Nektar übriggelassen hat. Irgendwie hat er einen raupigen Geschmack auf den Beinen, den er unbedingt loswerden möchte.
„Die Menschen können einem fast leid tun, dass sie intelligent sind“, sagt er zu sich selbst.
Und dann rollt er, der Schmetterlingsnatur gemäss, den Rüssel aus und labt sich am köstlichen Nektar.
Shadowcrow ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.10.2011, 17:02   #2
weiblich C.Alvarez
 
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Eine Fabel. Musste ich nachgucken, ich kenne mich mit sowas nicht aus.

"Kurze Erzählung mit belehrender Absicht, in der vor allem Tiere, aber auch Pflanzen und andere Dinge oder fabelhafte Mischwesen menschliche Eigenschaften besitzen"

Schön geschrieben, mit philosophischem Background und als Target der Schluss-Satz von Fip.

Gern gelesen.

CDP
C.Alvarez ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.10.2011, 22:07   #3
männlich Martho
 
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Beiträge: 415


Zitat:
Zitat von Corazon De Piedra Beitrag anzeigen
Eine Fabel. Musste ich nachgucken, ich kenne mich mit sowas nicht aus.

"Kurze Erzählung mit belehrender Absicht, in der vor allem Tiere, aber auch Pflanzen und andere Dinge oder fabelhafte Mischwesen menschliche Eigenschaften besitzen"

Schön geschrieben, mit philosophischem Background und als Target der Schluss-Satz von Fip.

Gern gelesen.

CDP
Jawoll!
Martho ist offline   Mit Zitat antworten
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