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Alt 08.07.2012, 20:14   #1
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Standard Ausschnitt aus einem sehr langen Reisebericht, 2011 dom.rep.

Wir treten wieder ins Freie und machen einen Rundgang. Als Anbau am Haus, ganz aus Wellblech, „el baño“, „la ducha“, ein kleiner Duschraum, in dem man sich mit Wasser aus Plastikwannen übergießt. Neben dem Haus noch ein Lagerschuppen mit Bananen und auf Pfählen, von einer Plane überspannt, die Küche. Etliche Meter entfernt, eine kleine Blechkabine mit Plumpsklo. Gepinkelt wird ins Freie, hierhin geht man nur, wenn der Darm sich meldet. Alles Wasser zum Trinken, zum Kochen, zum sogenannten Duschen und Wäschewaschen, kommt aus der Regenzisterne. Elektrizität gibt es keine.
Am Boden um das Haus liegt reichlich Müll verteilt. Dringt man tiefer in das Grundstück ein, ist der Boden sauber. Nur verrottende Stämme liegen im Weg. Stacheldraht begrenzt die etwa tausend Quadratmeter natürlichen Dschungel, die an vier andere ähnliche Grundstücke grenzen, auf denen auch Leben herrscht und Tiere stehen. Ein Esel, ein Schwein. An der Rückseite läuft dieses Grundstück in einen Erdwall aus. Und dahinter, braun und trübe, das Wasser des Rio Yuma. „Un cocodrilo!“, rufe ich, als ein Baumstamm vorbeitreibt, mitten auf dem Fluss, der hier fast hundert Meter breit ist. „Kann man baden?“, frage ich. „No, Archim, cólera…“
Die Bäume hängen voll mit strammen Früchten. Hoch über uns die Kokosnüsse, tiefer die Bananen, Papayas, Kirschen, vieles, das toll aussieht, kenne ich nicht. „Mire, Archim, el cacao!“ Ja, ich sehe, direkt an den Stämmen haften, an kurzem Stiel, die braunen Schoten (ich kenne nur Fotos aus dem Schokoladenmuseum in Köln) und winzig, daneben, zarte rosa Blüten.
Ich bin begeistert und sogar mehr als das, ziehe Teresa sacht an mich, fühle ihre braunen kühlen Oberarme, halte sie in den warmen, schwitzenden Händen. Und sie hält ihren Arm neben meinen, der so weiß ist. Amüsiert sich: „Leche y cacao!“
Wir kommen zum Haus zurück und in der Küche sind sie alle beschäftigt. Julian Garves Garcia, ich schätze ihn auf siebzig, er arbeitet nicht mehr. Drei schlanke, sehnige Männer Alex, Analdo und Manuel, etwa dreißig wie Tomas und alle mit dem gleichen Nachnamen Garcia. Zwei arbeiten im Reisfeld, zwei sind offenbar Zwillinge, ich kann sie nicht auseinander halten, einer ist Bananenpflücker. Und auch Tomas, der Mopedfahrer, ist da, „tomas garves = padre de la niña“, wie Teresa mir aufschreibt. Und „la niña“, das ist „Elainy Garcia, la pequeña, 2 años“. Große Augen und viele Zöpfe, ein zartes Gesicht, ein dünner Körper. „Muy flaca“, wie Teresa sagt und ein heraushängender Nabel unter dem blauen Kleidchen. „Una hernie, Archim“. Ein Nabelbruch. Und schließlich der Junge Pedro Daniel Garcia, 9 Jahre alt. „Er hat nicht viel im Kopf“, sagt Teresa, „ist in der Schule ein Versager.“ Sie sagt es, wenn alle dabei sind. Eine herbe Direktheit, die niemand hier übel nimmt.
Das also sind die Mieter, arme Leute, die schwer arbeiten, die Pause machen, wenn es mittags zu heiß ist und die gegen Abend noch einmal aufs Feld gehen. Aber das Geld fließt hin und her. Aus der Miete wird das Benzin der Mopeds bezahlt, wenn man Teresa mit nach Nagua nimmt und sie scheint viel unterwegs. Mal in Santiago, mal auch in Santo Domingo. Hier ist sie Herrin, trägt ein hübsches Kleid zwischen den freien Oberkörpern, den dreckigen Hemden der Männer, trägt weiße Sandaletten aus Italien zwischen den ausgelatschten Stiefeln. Aber sie ist doch auch eine Gleiche, sitzt in der Küche, schält Kartoffeln und teilt an alle das heiße Essen aus. „Muy buena persona“ , wie die Männer über sie sagen, „muy tranquila“. Und sie heben die Faust zum Gruß und stoßen gegen meine.
Am Boden scharren die Hühner, picken die Küken und die Moskitos sind trotz des beißenden Rauchs aus dem Herd überall.
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.07.2012, 23:48   #2
männlich Ex-Peace
abgemeldet
 
Dabei seit: 11/2011
Beiträge: 3.449

Lieber gummibaum,

ich bin ein regelmäßiger Leser von Reiseberichten,
deshalb komme ich an deinem Reisebericht natürlich
nicht vorbei. Er hat mir sehr gut gefallen.
Ein für mich sehr starker Satz: "(ich kenne nur Fotos aus dem Schokoladenmuseum in Köln)"
Besonders gut gefällt mir ebenso, dass du Namen und damit Person
(Haupt- und Nebenfiguren) aufführst und sie dem Leser nahebringst.

Liebe Grüße
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.07.2012, 00:46   #3
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Lieber Peace,

du bist wirklich überall im forum aktiv. Was die Personen betrifft, sie haben mich alle interessiert und auch sehr freundlich behandelt.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2012, 12:39   #4
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Es ist schon wieder Abend und Teresa sagt, dass sie mich jemandem vorstellen will. Wir steigen hinter Tomas aufs Moped und er fährt uns beide ein paar Kilometer. Dann, in einem anderen Dorf, scheinen wir am Ziel angekommen zu sein, denn Kinder, die Teresa kennen, laufen schon neben dem bremsenden Moped her und sprechen auf sie ein. Eine Tür wird uns aufgehalten. „Zu wem gehen wir?“, frage ich. „Mi padre.“ Ich hatte Teresas Vater 2009 nicht weit von Gaspar Hernandez kennengelernt. Ein Automechaniker, 60 Jahre alt. Und was ist das nun hier? „Mi padre desiderio Rivero Ramirez.“ Ihr Pflegevater.
Wir treten in die niedrige Stube aus Holz, nur eine Öllampe flackert, ein hagerer alter Mann in schmuddelig orangem Shirt gibt mir die Hand. Dunkel ist sein Gesicht, die Ohren stehen leicht ab, die Augen aber sind ungemein eindringlich. Ich soll mich setzten, sitze am Tisch und schon drängen andere Personen in die enge Stube. „Mire, Archim“, sagt Teresa und hebt die Lampe an die Augen des Alten, der neben dem Tisch steht und an die Augen der jüngeren Frau neben ihm, die mich anlacht unter Lockenwicklern: „Los ojos son totalmente los mismos, porque es su hija.“ Und die Lampe geht zur nächsten Frau und zu ihren Augen: „ Mire los ojos, Archim. Es su nieta.“ Und dann stellen sich die Urenkel vor den Frauen auf, drei Jungen zwischen sechs und neun Jahren und schauen neugierig zu mir. Tatsächlich haben die Augen Ähnlichkeit, die sich über die Generationen zur Enkelin abschwächt, bei den Urenkeln aber nochmals deutlich hervortritt. „Y mire!“ Teresa dreht den Kopf von Rivero Ramirez und winkt mir, den Hinterkopf anzuschauen, aus dem ein apfelgroßer Knollen ragt, den ich anfassen soll und den ich widerstrebend befühle. Fleischig ist er. „Un tumor?“, frage ich und sehe den Alten als todgeweiht. „No, Archim, esta aqui, desde él nació.“ Und Teresa erzählt mir, dass sie am ersten Tag nach ihrer Geburt aus Samana hierher kam, zu der Frau des Alten, die schon seit sieben Jahren tot. Dass ihr Pflegevater Bauer war und die beiden sie hier groß zogen und ihr später die Schule ermöglichten. Dann holt sie einen Bilderrahmen hinter dem Tisch hervor. Noch spiegelt das etwas schmutzige Glas. Dann, auf dem Foto, Teresa mit fünfzehn. Ruhiger Blick, lange gewellte Haare, ein Erinnerungsstück.
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.08.2012, 23:26   #5
männlich Pattie
gesperrt
 
Dabei seit: 07/2012
Beiträge: 264

Ist ja eigentlich mehr ne Erzählung als ein Reisebericht. Gefällt mir natürlich. Ich habe natürlich eine große Hoffnung, dass Milch und Kakao zusammen wachsen.
Pattie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.08.2012, 10:40   #6
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Lieber Omar Chajjam,

phasenweise erlebe ich schon direkt als Erzählung. Dann wieder Zeiten, wo nichts zusammenpasst. Deine Hoffnung ist übrigens ganz meine. Aber die Erfüllung schwer.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.08.2012, 12:54   #7
männlich Pattie
gesperrt
 
Dabei seit: 07/2012
Beiträge: 264

erzähl mal davon. Du hast doch Phantasie.
Pattie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.08.2012, 15:26   #8
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Wovon?
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
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