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Alt 01.12.2012, 11:27   #1
weiblich MuschelIch
 
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Beiträge: 309

Standard Zweierlei Maß

Zweierlei Maß

Manchmal da ist es wie ein Berg, das Leben. Und zwar wie einer der größeren, die steil vor einem aufragen, so steil wie Vater vor einem aufragte, als man grade drei Jahre alt war und einen schönen Traum gehabt hatte.
Papa hatte ihn zerrissen morgens und die glühenden Händchen beim Erzählen Lügen gestraft.

Manchmal ist es wie eine Blumenwiese das Leben. Über diese Tage brauchen wir nicht sprechen, denn Blumenwiesen mögen die meisten von uns gerne.

Manchmal ist es wie ein Labyrinth: Kaum um die eine Ecke gebogen und mit Hoffnung auf freie Sicht, kommt schon die nächste daher und spielt Verstecken mit einem.

Manchmal ....

Jedenfalls, das Leben ist doch so vielfältig wie es nun mal ist. So vielfältig wie das Gesicht einer neunzigjährigen Frau, voller Lebendigkeit, voller Lebenserfahrung, voller Freude, Weisheit, Bitterniß und Ratlosigkeit.

Als er, der mit dem Titel, mich fragt "Haben Sie Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung?",
da weiß ich das alles auch noch,
aber irgendwie weiß ich, ich darf ihm das jetzt nicht sagen. Etwas läßt mich aufhorchen und vorsichtig werden. Etwas läßt mich mein Täuschungsprogramm aktivieren; meine Peinlichkeiten sprießen wie Pickel in der Pubertät.

Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung? Na klar, würde ich ihm am Liebsten antworten! Jeden Tag und immer wieder und stets erneut! Haben Sie denn keine ? Sind Sie kein Mensch?

Aber da sitzt er und da liegt sein Bogen auf seinen Knien und da hat er den Rückhalt von der Gemeinschaftspraxis und wohlmöglich von allen Ärzten Deutschlands .... und .....hat die Definitionsgewalt.
Kann nun aus mir eine Depressive machen. Und Depressive, sind das nicht die, kurz vor der Verwesung. Die zu faul für ordentliche deutsche Disziplin sind. Sich nicht mehr waschen, die Pflicht verweigern und nicht strammstehen? Sind das nicht die, die in das Becken voller Hartz-Vier-Empfänger gefallen sind ?

Es gilt also irgendwie zu täuschen und fröhlich darüber hinwegzupalavern, daß man Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung hat. Um bloß nicht irgendwo zu landen.

Was ich ihm letztendlich geantwortet habe, das weiß ich vor lauter Täuschungsmanövern gar nicht mehr!

Unmittelbar, nachdem ich das Sprechzimmer verlassen hatte, saß ich wieder im Wartezimmer. Es stank entsetzlich nach mindestens 20 Milliliter zuviel an einem Parfüm, das alle Sinnesausgänge in Schock verfallen läßt.

Im Schock erstarrt saß ich also in meinem Patientinnenstühlchen und starrte das parfümstinkende Wesen an, das mir in seiner Dreistigkeit die nächsten Stunden vermiesen würde. Denn um diese chemische Jauche aus meinen Lungen wieder rauszukriegen, würde es dauern!
Starrte also dieses Stinkwesen an und ließ die Frage Revue passieren, mit der ich gerade überprüft worden war auf Lebenstauglichkeit: Hatte diese, die die Welt beleidigte und ihren ekelerregenden Abgasen aussetzte, hatte diese Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung?

Wer würde ihr diese attestieren? Sie war ja nur eine Frau, die lecker riechen wollte!

Nachdem ich die Praxis verlassen hatte, fuhr ich mit dem Bus in die Arbeit. Kaum eingestiegen fand ich die nächste Attacke vor: Ein Mittvierziger, äußerst elegant und kein typischer Busfahrender, telefonierte mit seinem handy. Das ist ja an sich schon normal, obwohl es verboten ist in Bussen.
Besonders war in dem Fall, wie er es tat: In einer Lautstärke, die dazu geeignet war, eine Achtermannschaft im Ruderboot anzutreiben, befahl er einem - anscheinend Untergebenen - was dieser in den nächsten Stunden auszuführen hatte in Nomini Patri et filii ...
Mit der Souveränität eines Mannes, die gewohnt sind, das Türen sich öffnen wenn er erscheint, beschallte er den ganzen Bus und machte aus ihm eine Büroetage.

Meine Busfahrt entlang der Flüsse, die ich oftmals nutzen kann, um nochmal aufzutanken bevor ich mitten in meinen Arbeitsalltag stürze, gedieh so zum Akustiküberfall. Ungefragt wurde ich ans Büroleben einer hiesigen Firma angedockt; machte quasi Überstunden!

Hatte dieser denn, der mit den Modellklamotten, hatte dieser Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung? Das fragte ich mich gleich anschließend.
Mein Überprüfer von morgens würde in ihm sicherlich einen vitalen, gesunden und mitten im Leben stehenden Halbmanager sehen.

Meine malträtierten Ohren und mein empörtes Innenleben sahen das anders.

Geändert von MuschelIch (01.12.2012 um 15:12 Uhr)
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2012, 14:57   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
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Beiträge: 3.073

Hallo, MuschelIch,

toll gemacht! Interessant, sehr einfühlsamer Blick! Durch die Ich-Form wirkt es wie ein authentischer Tagebucheintrag, genau richtig für dein Thema.
Meine Lieblingssätze:
Papa hatte ihn zerrissen morgens und die glühenden, kleinen Händchen ... Lügen gestraft. (ich würd das warm weglassen!)
Mein Täuschungsprogramm aktivieren, meine Peinlichkeiten sprießen wie Pickel in der Pubertät.

sehr gern gelesen,
lg simbaladung
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2012, 15:13   #3
weiblich MuschelIch
 
Benutzerbild von MuschelIch
 
Dabei seit: 09/2012
Alter: 63
Beiträge: 309

Danke schön, simbaladung!

Ich habe Deine Idee zu ändern gerne genommen.

LG MuschelIch
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2012, 18:09   #4
männlich Desperado
 
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Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747

Zitat:
Zitat von MuschelIch Beitrag anzeigen
Kann nun aus mir eine Depressive machen. Und Depressive, sind das nicht die, kurz vor der Verwesung. Die zu faul für ordentliche deutsche Disziplin sind. Sich nicht mehr waschen, die Pflicht verweigern und nicht strammstehen? Sind das nicht die, die in das Becken voller Hartz-Vier-Empfänger gefallen sind ?
Danke, MuschelIch,

für diese herzerfrischende Geschichte!

Es ist wohltuend und beruhigend, gesammelte Verurteilungen auf diese ironische Weise lesen zu können, noch dazu an einem Ort, in dem ich dieselben schon durchaus ernstgemeint(!!!) antreffen musste, eine Tatsache, die mich kopfschütteln und fassungslos machte.

Ich war so naiv zu glauben, dass den Opfern sozialfeindlicher Politik, die infolge der menschenverachtenden "Einsparungen" des Raubtierkapitalismus millionenfach in das "Netz" staatlich finanzierter Armut gestürzt werden, nur von der Bildzeitung und ihren Lesern die Schuld für ihr "Vesagen" in die Schuhe geschoben wird und mit widerwärtigem Zynismus Schmarotzertum unterstellt, umso bestürzender war es, dieses "Denk"muster auch im Kreise sogenannter Dichter und Denker vorfinden zu müssen.

Aber nun, Poesie schützt offenbar vor Dummheit nicht.

Ich wünsch Dir einen schönen Samstagabend ohne aufgezwungene Schwierigkeiten der Daseinsbewältigung!

Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2012, 19:06   #5
weiblich MuschelIch
 
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Dabei seit: 09/2012
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Beiträge: 309

Danke Desperado,
ich freu mich, daß mein Erleben erfrischend wirken darf!

Du, Poesie schützt vor nichts -
das stimmt allerdings!

Vielleicht dürfte mensch da mal drüber nachsinnieren,
was denn eigentlich poetisch ist .....
ob das Abverurteilen von Menschen sich überhaupt so nennen darf .

Ich hab selber lang genug HartzVier "empfangen" (Halleluja!)
um zu wissen wie leicht mensch in dieses Sammelbecken fallen kann.

Dir auch ein schönes Wochenende !

MuschelIch
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
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