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Alt 09.03.2013, 14:19   #1
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84

Standard Über den Perfektionismus

Über den Perfektionismus

Betrachtung von
Hans Werner



Viele Geheimnisse umgeben das Wesen der Menschen, es ist verhüllt in zahllosen Schleiern, und der Seelenkundige mag sich noch sosehr bemühen, diese Schleier zu lüften, vieles wird ihm immerdar verborgen bleiben müssen.

So sind die vielfältigen Eigenschaften, die sich im Menschen während seiner Entwicklung herausbilden können, nicht in die moralischen Schubladen von Gut und Böse einzuordnen. Es ist vielmehr so, dass sie in ihren schillernden Erscheinungsformen einmal zu dieser und dann zu jener Seite hinneigen. Zählen wir einige Eigenschaften auf, nach denen der gutwillige Mensch streben möchte, als da sind Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Barmherzigkeit, Geradlinigkeit und Selbstständigkeit. Die Freiheit, nach der einer jeder Mensch sich sehnt, wenn er nicht gerade zur servilen Unterwürfigkeit neigt, also den Sklavenbazillus in sich trägt, verleiht ihm den nötigen Entfaltungsspielraum, in dem er all seine Anlagen entwickeln kann.

Aber gerade in der erstgenannten Begriffsreihe finden sich Eigenschaften, die sich vorwiegend im Zusammenleben mit anderen, also in der Gemeinschaft, verwirklichen und nur darin zur Geltung kommen. Und diese Gemeinschaft betätigt sich tagtäglich mit dem moralischen Einordnen von Individuen, mit dem Urteilen und dem Verurteilen. Nach dem Urteil der Gemeinschaft erlangt der Einzelne seinen Stellenwert, seinen Rang, und häufig bemisst er sein Selbstbewusstsein nach diesem Rang, der ihm von der Gemeinschaft verliehen worden ist. Ein verhängnisvoller Irrtum, denn der Stempel von außen trifft nur sehr selten das Wesentliche des Menschen.

Aber wir erkennen hier auch einen Mechanismus, dem der Mensch, vorwiegend der Heranwachsende, leider vielfach unterworfen ist. Dieser will sich bilden, vervollkommnen und achtet dabei sorgsam auf seine Außenwirkung. Denn von außen bezieht er die Rückmeldung über Versagen und Gelingen, über Erfolge und Misserfolge. Das Prinzip Lohn und Strafe, jener verhängnisvolle Automatismus einer jeden autoritären Erziehung, spannt den Menschen ein in jenen Zwang, unbedingt vollkommen zu sein oder zumindest vollkommen zu erscheinen.

Was ist die Folge davon? Er wird auf der einen Seite danach streben, all seine guten Eigenschaften in bestmöglicher Weise zu entwickeln, die Gaben des Verstandes, die scharfsinnige Vernunft, den hellwachen Intellekt zu fördern und in sich ein Höchstmaß von Wissen anzuhäufen, mit dem er vor der Welt glänzen und bestehen kann. Vor allem der Hochbegabte unterliegt dem ständigen Zwang, seine eigene Begabung in alltägliche Erfolge umzumünzen, mit seinen Pfunden zu wuchern, auf dass sie ins Überdimensionale aufgehen und die Bewunderung und Verwunderung all seiner Zeitgenossen erregen.

Nun ist aber der Mensch von Natur aus fehlerhaft, die biblische Geschichte von der Erbsünde ist keine erfundene Mär, sondern sie legt den Finger auf die Wunde des Menschen, auf seine Unvollkommenheit. Was tut nun der Erfolgsverwöhnte, wenn ihm die kleinen Fehler und Versehen unterlaufen, die alltäglich vorkommen können und den Menschen doch auch so menschlich und sympathisch erscheinen lassen? Er streitet sie ab, er leugnet sie, er erfindet mit einer rapiden Intelligenzmaschinerie ständig Ausreden oder nachträgliche Rechtfertigungen, um seine Fehler nicht als solche erkennbar werden zu lassen. Das Lügen im Dienste des eigenen Unfehlbarkeitszwanges ist die unmittelbare Folge des exzessiven Strebens nach Vollkommenheit.

Es ist schade um den talentierten jungen Menschen, der dem Betrachter anfangs so liebenswert erschienen ist, dass seine ehrgeizigen Bestrebungen so sehr auf Kosten des Charakters gehen müssen. Gewissenhaftigkeit kann dazu führen, dass man eigene Fehler leugnet, weil sie nicht sein dürfen. Hilfsbereitschaft kann in ein krankhaftes Helfersyndrom ausarten, in dem der Mensch nicht mehr weiß, wo die Grenzen liegen und wo auch die Bewahrung der eigenen Person anfängt. In der übertriebenen Verlässlichkeit liegt die Gefahr, dass man jegliches kritische Urteilen unterlässt und nur blindlings den Verpflichtungen nachkommen will, die man einem andern gegenüber eingegangen ist. Und schließlich vermag das Streben nach Geradlinigkeit den Menschen zu einem rhetorischen Akrobaten der klaren Worte zu verwandeln, die jegliches sensible Gespür um ihre Wirkung vermissen lassen.

So liegt auch in jeder guten Eigenschaft der Hang zur Entartung verborgen. Wie unermesslich aber ist die Trauer, die ein älterer Mensch empfinden muss, wenn er sieht, wie ein vortrefflich veranlagter Jüngling, der alle Voraussetzungen zur Vollkommenheit in sich trägt, durch den übertriebenen Zwang zum Perfektionismus in die Fänge des Bösen gerät. Wie bitter sind die Tränen, die man innerlich vergießt, wenn man die Enttäuschung erlebt, dass der junge Siegfried nur mit einem gezinkten Schwert den Speer des alten Wotan zerbricht. Der Junge soll siegen, ihm gehört die Welt. Aber er soll es tun mit ehrlichen Waffen, mit geradem offenen Blick. Wenn einer bei jeder Selbstrechtfertigung schneller eine Ausrede findet, wie die Maus das Loch, dann vergibt er sich der schönsten Eigenschaft, die die Natur in ihn hineingelegt hat, nämlich der Liebenswürdigkeit.
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