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Alt 09.11.2012, 23:17   #1
weiblich MuschelIch
 
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Standard Rattenkönig

Rattenkönig

"Entschuldigen Sie, können Sie mir die Uhrzeit sagen"?
Ich bin auf dem Weg zum Bus und muß mich beeilen an diesem 11. November 2011. Die alte Frau schüttelt die Zeit aus dem Ärmel begleitet von den Worten

"Nach der Zeit fragt nur der Jud'".

Ich frage sie, was der Spruch mir sagen will an diesem 11. November 2011. "Na, so haben wir immer gesagt", antwortet sie mir. Ihr Gesicht ist von vielen Falten gezeichnet, die sich seit dem damals hineingefräst haben und ein Netz von roten Adern hat sich auf die Falten nach dem damals gelegt.

Wir gehen nebeneinander Richtung Bus.

Gerade habe ich in der Zeitung gelesen vom 09. November 1938. Zwei Tage liegt es nur zurück, zwei Tage und 73 Jahre, daß "dem Jud'" hier in meiner Stadt die Synagoge angezündet worden ist.
Befehl kam von ganz oben. Zwei SS-Wägen fuhren zu der Synagoge. Einer war besetzt mit SS-Männern; der andere war gefüllt mit Benzinkanistern. Es wurde eine Burg aus Stühlen gebaut in einem Raum der Synagoge. Er ist nicht näher bezeichnet. Vielleicht ist es der, in dem Menschen ihre Gebete gen Himmel schickten - inbrünstig, verzweifelt, verzückt, hoffnungsvoll und voller Glauben an einen Gott.

In dieser Nacht steigen keine Gebete auf, es steigen Flammen auf.
Das Feuer ist nur so gut, wie der Mensch, der es nutzt. In dieser Nacht nutzt es ein Vieh. Eine menschliche Bestie.

Es gibt die Erzählung vom "Rattenkönig": Dieses Vieh entsteht, wenn die Ratten im Untergrund zuviele werden; dann verkeilen, verbeißen, verbinden sie sich auf mysthische Weise, die ins Dämonische spielt, zu einem einzigen Körper, einem einzigen Organismus. Irr geworden peitscht dieser Rattenkönig durch die Unterwelt auf der Suche nach Erlösung.

Wieviel braunes Vieh hat sich damals verbündet, um diesen Dämonenkönig hervorzubringen, der das Feuer gen Himmel steigen ließ. An einem Ort, den Menschen geheiligt hatten durch die Kraft ihres Glaubens.

Der Bürgermeister hätte dann die Feuerwehr verständigt, so lese ich weiter in der Zeitung. Die kam; allerdings nur, um zu verhindern, daß die Flammen auf die benachbarten Gebäude übergreifen.

In der gleichen Nacht werden alle Juden aus ihren Häusern getrieben und müssen in einem Schandmarsch zum Bahnhof marschieren. Sie tragen ein Plakat auf das die Schergen höhnisch "Auszug der Juden" geschrieben haben. Auszug der Juden zum Bahnhof. Endstation ist Dachau.

Nur der Jud' fragt nach der Zeit.
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Alt 10.11.2012, 00:49   #2
Ex-zonkeye
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Darf ich dir was sagen, MuschelIch? Aber Du musst mir vorher versprechen, dass Du nicht gleich wieder sauer auf mich bist. Sonst darfst Du nicht weiterlesen. Okay?

Okay.

Also: Ich nehme mir die Freiheit, zu sagen, dass ich es satt habe, in jedem dritten Text und jedem dritten Gedicht den Holocaust, das schreckliche Unrecht, das man den Juden im Dritten Reich angetan hat, das Schicksal der Anne Frank, die Gasöfen, die Viehwaggons und die grausigen Pogrome benutzt zu sehen.

Man sucht sich einen Anlass - den verblödeten Spruch einer Oma, den rezenten Rommelrummel, ein Neonazischwein, den Tritt eines Politclowns in ein zurecht gestelltes Fettnäpfchen, ein Datum - und schon geht's los mit der Betroffenheitslührik. Aus der sicheren Entfernung der Jahrzehnte und im Genuss der "späten Geburt" reimen und erzählen wir Erschütterndes von damals, dabei leis in Zweifel ziehend, ob "es" nicht heute oder morgen auch wieder geschehen könnte - wo doch immer noch nur "der Jud" nach der Zeit fragt.

Ich sage, dass ich sie satt habe, diese Krokodilstränen, die nicht heimlich vergossen werden aus echtem Kummer, sondern weil das Wesen, das sie öffentlich vergießt, hofft, ein anderes damit zu täuschen, um es danach nur umso besser verspeisen zu können.

Natürlich willst du mich nicht wirklich fressen, MuschelIch - ein bisschen vielleicht nur, jedenfalls so lange, bis ich Dir zu hundert Prozent recht gebe und Dir gestehe, dass ich heute Nacht wieder nicht werde schlafen können, weil ich die Bilder und die Schreie nicht aus meinem Kopf bekommen werde, die Du mir da gerade wieder eingepflanzt hast.

Ich werde in der Tat wach liegen und grübeln. Aber nicht wegen des Inhalts und des bemerkenswert guten Stils Deines zeitgeschichtlichen Berichtes. Das kann ich nicht mehr, denn ich bin - wie so viele andere - jahrelang darüber schlaflos gelegen. Mir sind die Tränen ausgegangen, mittlerweile. Ich kann und ich will nicht mehr.

Was ich mir wünschte, wäre eine Neubginn, ein neuer Ansatz, etwas, das die Konflikte, denen sich das Judentum im 21. Jahrhundert gegenübersieht, wirklich anspricht und das erkennbar nach einer Lösung sucht. Nicht das ewige Herumgestochere in der Asche.

Einer der von mir am meisten verehrten Menschen dieser Welt ist Daniel Barenboim. Er hat die argentinische, spanische, israelische und palästinensische Staatsbürgerschaft. Er ist ein unglaublicher Klavierspieler und ein Wahnsinnsdirigent. Er hat das "West-Eastern Divan Orchestra" zur Welt gebracht und hält es am Leben. Es besteht zur Hälfte aus Palästinensern und zur Hälfte aus Juden. Als sie Wagner in Tel Aviv spielen wollten, durften sie nicht. Statt seiner haben Herr Obama und die bis in Puppen korrupte "Europäische Union" (was immer die sein soll) den Friedensnobelpreis "gewonnen".

Er fühle sich jüdisch, sagt Barenboim, er sei nicht religiös, aber er spüre "eine Mischung aus Tradition und Schicksal" in sich. Es gebe keinen Tag, sagt er, an dem er nicht traurig sei wegen der aktuellen Konflikte. Im West-Eastern Divan sitzen für den Moment einer Sinfonie Juden und Israelis nebeneinander: "Sie spielen den gleichen Ton, gleich laut, gleich lang. Das geht nur in der Musik!".

Wir müssen schauen, MuschelIch, dass wir davon wegkommen, nach Ewiggestrigem zu suchen und ihm vorzuhalten, wie falsch es immer noch ticke. Bei aller Liebe, die man den Omis gegenüber hat: Sie sind aus der Zeit, sie spielen keine Rolle mehr bei der Frage, wie wir unser Verhältnis mit den Juden neu finden. Kennst du irgendwelche Juden näher?

Es sind obercoole Mädelz und Jungs darunter. Barenboim ist einer von ihnen, einer der liebenswertesten und schwierigsten zugleich. Wenn Du ihn nach einem typischen Judenwitz fragst, erzählt er Dir einen, wenn er Dich oder die Gesellschaft mag, in der er sich befindet:
Zitat:
"Was ist ein Antisemit? Einer, der Juden mehr hasst als unbedingt notwendig (SZ Magazin 44, 2.1..2012)".
Schade, dass wir ihm Deinen Text nicht schicken und ihn fragen können, ob er uns ein paar Tipps wüsste, wie wir zueinander fänden und miteinander weiterkämen. Ich glaube, er hätte ein paar ganz gute Ideen.

lg z
Ex-zonkeye ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.11.2012, 01:03   #3
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Ups
lieber zonkeye, nein, ich bin nicht böse.
Danke, daß Du so achtsam bist und mich "vorwarnst" vor mir selber .

Ich antworte in den nächsten Tagen dazu -
dafür brauche ich Zeit.

Es tut mir leid, daß die Bilder tiefer gehen, als ich das beabsichtigt habe.
Dies und Deine Antwort machen mich gerade sehr betroffen
und ja , echte Tränen habe ich über was anderes geweint .....


Daß Dich das so tief berührt, wirft in mir eine Frage auf, die mich grade sehr umtreibt. Darüber möchte ich hier nicht schreiben; vllt. schicke ich mal ein pn - weiß noch nicht.
Was ich einmal erlebt habe, war Folgendes: Ich las ein therapeutisches Buch über diese Zeit .... das ich sehr gut fand, weil es einen gründlichen und innovativen Ansatz zeigte.
Ich habe Nacht für Nacht entsetzliche Alpträume gehabt und konnte es nicht weiterlesen.

Liebe Grüße

MuschelIch
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Alt 11.11.2012, 17:48   #4
männlich Desperado
 
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Zitat:
Zitat von MuschelIch Beitrag anzeigen
Es gibt die Erzählung vom "Rattenkönig": Dieses Vieh entsteht, wenn die Ratten im Untergrund zuviele werden; dann verkeilen, verbeißen, verbinden sie sich auf mysthische Weise, die ins Dämonische spielt, zu einem einzigen Körper, einem einzigen Organismus. Irr geworden peitscht dieser Rattenkönig durch die Unterwelt auf der Suche nach Erlösung.
Tja, liebe MuschelIch,

nicht nur Ratten tun das, so schlimm dieser Albtraum auch sein mag, die Wirklichkeit ist immer noch um ein Vielfaches schrecklicher.

Laut Zeugenaussagen von KZ "Wärtern" und SS-Offizieren türmte sich in den Duschräumen der Gaskammern bei Einströmen des tödlichen Giftes innerhalb von wenigen Minuten eine menschliche Pyramide, zuunterst lagen die Kranken und Alten, dann folgten die Frauen mit ihren Kindern und darüber die Männer, die stärksten von ihnen ganz oben.

Ich weiß nicht, ob man das jemals vergessen darf und halte jedes Gedicht darüber für gerechtfertigt, noch dazu am Reichskristallnachts-Gedenktag, obgleich ich die Einwände durchaus nachvollziehen und -empfinden kann.

Traurige Grüße
Desperado
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Alt 11.11.2012, 17:59   #5
Ex-zonkeye
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Ich glaube nicht, dass wir von unserem soeben wieder eingestöpselten E-Kauboi gleich Nachhilfeunterricht bräuchten in Sachen Holocaust-Betroffenheit.

Sich mit diesem Thema im Thread eines Posie-Forums dergestalt wichtig zu machen, halte ich für mit der Würde der Opfer des Nazi-Terors unvereinbar. Siehe hierzu vollinhaltlich meine Stellungnahme vom 9.11..

lg z
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Alt 11.11.2012, 18:32   #6
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Weiß jetzt nicht, was der elektrische Cowboy dazu zu sagen hätte und ob der Nachhilfeunterricht braucht...

weiß nur, dass ich betroffen bin seit frühen Kindheitstagen und es bleiben werde bis an mein Lebensende, und da könnte mir Jachweh daselbst und höchstpersönlich kommen mit einer Stellungnahme, es würd mich nicht jucken. Ganz schon geschmacklos, Alter, weit unter deiner Würde, würd ich allerhöchstens zu ihm sagen und hätte recht damit, weshalb er so'n Quatsch auch nie von sich geben würde.

Schon blöd irgendwie, lieber Zonkeye, bist offenbar doch nicht der liebe Gott.

Nö, lass man gut sein, dafür bist Du einfach zu jung, die Gnade der späten Geburt sei Dir von Herzen vergönnt, mach ruhig weiter mit der deutsch-israelisch-jüdischen Verständigung, gute Sache das, Du bist unbelastet genug, aber eins lass Dir noch sagen- Der Holokaust hatte keine Würde.

Weshalb es da auch nichts zu verletzen und verteidigen gibt.

Gute Nacht, Freunde
Desperado
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