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Alt 01.08.2008, 23:16   #1
Fuenkchen
 
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Standard Durch die Nacht

Auf der Suche nach einem Mann und dessen Geheimnis begibt sich Samantha auf einen gefährlichen Pfad zwischen den Ebenen.
Fuenkchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.08.2008, 23:21   #2
Fuenkchen
 
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Standard Prolog

Prolog

Ohrenbetäubend kreischte die Gitarre auf. Die Boxen schienen zu zerbersten, und in dem engen Raum vibrierte die Luft. Das Publikum tobte, während unsere Band Awaking Dream auf der Bühne neben der Bar ihre Performance ablieferte. Dieser Moment, in dem man sang, war unglaublich. Es war dieses stumpfe Ohnmachtgefühl, als ob man auf einer Brücke steht, kurz bevor man sich in die Tiefe stürzt. Die Menschen, die auf und ab sprangen, die Hände in der Luft mitschwingend, schienen weit entfernt zu sein. Umso länger ich, unfähig zu denken, auf der Brücke schwankte, umso stärker wurde die Besinnungslosigkeit. Die Menschenmasse unter mir war ein aufschäumendes Meer, das sich in meine Richtung ausbreitete, mir näher kam und mich zu überschwämmen drohte.
Ryan Cooper, unser Gitarrist, schmiss die Party anlässlich des Ferienbeginns. Bereits wochenlang zuvor hatte er die Kneipe für den Abend gemietet. An sechzig Mann wurden Einladungen verschickt – ich vermutete jedoch, dass die Zahl der Anwesenden, die seit Feierbeginn in die Kneipe ein und aus gingen, wesentlich größer war.
Ryan schmetterte soeben das letzte Gitarrensolo von „You’re my drug“ auf seiner E-Gitarre hin, und der Holzboden bebte. Dann ebbte die Musik ab, und auch das Licht, das klamm auf uns gerichtet war, verging im Dunkeln. Blindlings stolperte ich an der linken Seite des Bühnenrandes entlang, im Zigarettenqualm nach der zweiten Sängerin, Angel Davis, suchend.
„AU! Sammy, mein Fuß!“, jaulte meine Freundin auf.
„Tut mir Leid. Ich sehe nichts.“
Angel kam hinter einer Rauchwand zum Vorschein, und als ich diese durchbrach, um nach ihrer Hand zu greifen, kam ich mir vor, als hätte ich ein großes Hindernis überwunden. Ich lächelte – und kam mir im darauffolgenden Moment beschränkt vor. Wenn das das Einzige war, worauf ich stolz sein konnte…
„Die Schmerzensschreie kommen aus dieser Richtung. Sammy, bist du hier? Du sollst nicht ständig Amok laufen.“
Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und als ich mich nach ihr umdrehte, stellte ich fest, dass sogar ein Junge dranhing.
„Ryan, du warst super.“
Den überflüssigen Kommentar überhörte ich.
„Und du warst mies wie immer“, neckte er mich.
„Danke. Bist ein Schatz.“
Er griff nach dem Handtuch, das er wie einen Schal um seinen Hals gehängt hatte, und wischte sich damit über das verschwitzte Gesicht. Das rote Muskelshirt, das er zu Beginn des Abends getragen hatte, lag klitschnass neben der Bühne in einer Ecke.
„War zu heiß, da hab ich’s ausgezogen.“
Er war meinem Blick in den hinteren Winkel gefolgt.
„Haben wir das Training angekurbelt?“, kommentierte ich seinen freien Oberkörper.
„Von nichts kommt nichts.“
Hierauf kam Cassandra zu uns herüber, die in unserer Band das Keyboard übernahm. Schüchtern belächelte sie Ryan, und bei seinem Anblick legte sich eine leichte Röte auf ihre Wangen. Eine Situation mehr, in der ich mich fragte, wie Ryan so blind sein konnte. Seit einem halben Jahr rannte Cassandra ihm hinterher, stimmte ihm bei jedem Schwachsinn zu und streichelte sein Ego, aber er bekam von Alledem nichts mit. Vermutlich ignorierte er es absichtlich, um Probleme zu vermeiden. Typisch Jungen eben, möglichst jeglichem Konflikt aus dem Weg gehen.
„Hat ganz gut geklappt, oder?“, meinte Cassandra zurückhaltend.
„Ist super gelaufen. Jetzt aber runter von der Bühne, sonst gibt’s gleich Krach. Massenschlägerei Oleee!“
Angel deutete auf drei Jungen, die am Bühnentreppchen auf unseren Abgang warteten. Sie trugen schwarze Kostüme, auf denen die Knochen eines Skelettes aufgedruckt waren und sahen aus, wie aus einem Horror-Szenario ausgebrochen. Gruselig, solche Maskeraden. Denen wollte ich nicht im Weg stehen.

„Sag mal, hast du Ryan gesehen?“
Cassandra polierte ihr Keyboard, sah jedoch ständig auf, wenn jemand den Raum betrat. Sie tat so, als wäre die Frage nebensächlich gemeint, aber ich wusste, dass sie sich darüber den Kopf zermaterte. Gewiss hatte sie die Befürchtung, er könnte ein anderes Mädchen kennen lernen. Eines ohne Sommersprossen, das selbstbewusster war als sie. Auf Parties sprach Ryan mit jedem und jeder sprach mit Ryan. Die Mädchen rannten zu ihm hin wie die Katze zum Milchnäpfchen – wobei ich Ryan nicht als Milchnäpfchen abtun wollte. Er hatte dieses Auftreten, das es kinderleicht machte, auf ihn zuzugehen. Außerdem war er ein wahrer Entertainer.
„Wo der sich wieder versteckt“, sinnierte ich, „Vielleicht scheucht er Angel durch die Kneipe. Hat er dir was gesagt, Ken?“
Der Schlagzeuger sah von seinem Stick, der ihm während des Auftritts durchgebrochen war, auf.
„Nö.“
Kenneth war ein eher unauffälliger Typ. In unserer Band nahm er keine besondere Stellung ein. Er war zwar Mitglied, jedoch stand ich ihm nicht so nahe wie den anderen. Eigentlich hatte ich nichts mit ihm gemeinsam, und es verwunderte mich manchmal selber, wie er auf der Bühne alle Hemmungen verlor. Wer auch immer das Sprichwort „Stille Wasser sind tief“ in die Welt gesetzt hatte, er hatte Recht.
Es klopfte an der Tür, und Cassandra, die neben ihr im Gang hockte, sah erwartungsvoll zu ihr auf. Zu ihrer Enttäuschung schob sich Benjamin Whites hagerer Körper durch den Türrahmen. Das permanent musterhaft gekämmte Haar lag etwas struppiger als sonst auf seiner Kopfhaut, und man sah ihm an, dass er den gesamten Abend damit beschäftigt gewesen war, unser erstes Album „Torn up in this world“ bekannt zu machen. Sein Hobby war die Arbeit und sobald jemand das Wort „Veranstaltung“ in den Mund nahm, geriet sein Ortungssystem in Fahrt. Wer leitete das Ganze? Wer war für die Acts zuständig und waren wir im Programm unterzubringen? Benjamin sorgte sich um alles.
„Ich habe den Gästen eine Kostprobe eurer Musik zukommen lassen. Die sind mir fast aus den Latschen gekippt.“
„Und das lag nicht an der stickigen Luft?“, fragte ich erstaunt.
„Nur bedingt.“
Ich lächelte.
„Ihnen gefällt deine Art, Gefühle greifbar zu machen“, unterrichtete mich Benjamin.
Er schloss die Tür hinter sich und versperrte der dröhnenden Musik, die vom Partyraum der Kneipe herein strömte, somit den Weg. Hier im Backstagebereich – gemeint ist eine winzige Abstellkammer hinter der Bühne – bekam man nichts von den Betrunkenen mit, die vorne herum taumelten und sich ein Bier nach dem anderen in den Schlund kippten. Ich hasste es, wenn es so laut war, wenn die Leute wild durcheinander sprangen und sich gegenseitig anrempelten. Solange ich auf der Bühne stand, konnte ich damit leben, allerdings graulte es mir jedes Mal davor, mich danach durch die Menge von willenlosen Drogenopfern – ein bisschen übertreiben ist verzeihlich– zu kämpfen. Dafür war ich umso glücklicher, wenn ich mich später in der ruhigen, ein bisschen schmutzigen Abstellkammer wiederfand. Der Auftrag war immerzu der gleiche: von der Gosse nach ganz oben und wieder zurück.
„Ui, unser erster Millionenjob!“
Begeistert klatschte ich in die Hände.
„Bis dahin sind es noch ein paar Jahrzehnte“, blieb Cassandra realistisch, „Ich habe gehört, die Killing Bees veröffentlichen ihre Platte am selben Tag wie wir.“
Ich seufzte. Warum war ich nie so gut informiert wie Cassandra? Das war wohl ein Privileg, das nur ihr vorbehalten war.
„Dann verschieben wir den Termin.“
„Das wird nicht von Nöten sein.“ Benjamin drückte mir zwei Papierfetzen in die Hand, auf denen mit Kugelschreiber gekrakelt etwas geschrieben stand. Soweit ich es erkennen konnte Telefonnummern. Der Alkohol, der an diesem Abend ausgeschenkt wurde, war nicht folgenlos an dem Schreiber des Zettels vorübergegangen. „Wir sollen uns in Kürze telefonisch bei ihnen melden. Es handelt sich um eine Geburtstagsfeier, auf der ihr performen sollt. Morgen weiß ich mehr.“
„Und die andere Nummer?“, fragte ich.
Immerhin existierten zwei Zettel.
„Die hat der Organisator des Benefizkonzertes N.O.T. persönlich eingereicht. Eine anspruchsvolle Angelegenheit.“
„Ich bin dabei“, sagte ich voreilig.
„Ich auch.“
Cassandra stimmte mir immer zu. Fand ich für etwas Begeisterung, gefiel es ihr auch. Kenneth hob nun ebenfalls die Hand, um zu erkennen zu geben, dass er einverstanden war
„Das wird eine Herausforderung.“
„Und wir nehmen sie an.“
„Ihr müsstet viel Proben, viele Texte schreiben. Außerdem müsst ihr an eurem Zusammenspiel arbeiten“, gab Benjamin zu bedenken.
„Dafür treten wir beim Benefizkonzert auf und jeder wird uns sehen“, erinnerte ich ihn, „Wenn das keine Promotion ist.“
Gedanklich kauerte ich im Startblock, wartete auf den Anpfiff, um mit gesammelter Energie los zu sprinten. Benjamin fragte ein letztes Mal nach. Als ich nickte, zauberte er aus seiner Hosentasche einen Terminkalender plus Füllfederhalter hervor und trug den Auftritt am entsprechenden Tag ein. Ich erhob mich von dem wackeligen Gartenstuhl, auf dem ich bis eben gesessen hatte. Wie ein Etwas, das nicht recht wusste, ob es stehen oder liegen sollte, verharrte er in einer Position, in der jeder andere Stuhl unweigerlich zusammengeklappt wäre. Wenn ich die Einrichtung dieses Raumes besah, fragte ich mich, ob man uns als Band ernst nahm. Oder die Leitung wartet darauf, dass etwas zu Bruch geht, damit unsere Versicherung die Renovierung übernimmt, ging es mir durch den Kopf. Meine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Cassandra sah mich fragend an.
„Ich entwickle neue Verschwörungstheorien, nichts Weiter.“
„Ach Sammy, nicht jeder will dir etwas Böses tun.“ Meine Freundin beäugte den Gartenstuhl kritisch. „Vor allem kein Stuhl.“
„Man kann nie vorsichtig genug sein.“ Ich zwinkerte. Eine Sekunde später siegte die Schwerkraft über das Etwas. Der Stuhl kam scheppernd zu Boden. „Was hab ich gesagt?“
Stutzig fixierte Cassandra die Stelle, an welcher der Stuhl eben noch gestanden hatte. Schließlich schickte ich mich an zu gehen. Die Gothicmusik, die gedämpft durch die dünne, untapezierte Kellerwand drang, klang vielversprechend, und ich wollte mich wenigstens kurz auf der Party blicken lassen.
„Kannst du gucken, ob du Ryan irgendwo entdeckst?“ Cassandra hatte bemerkt, dass ich den Raum verlassen wollte. Sie stellte ihr Keyboard beiseite. Wie beleidigt entfuhr diesem ein schriller Ton, als die Blondhaarige unbeabsichtigt eine der weißen Tasten berührte. „Nachher trinkt er wieder zu viel“, fügte sie hinzu.
„Ryan trinkt nie viel.“ Ich war lang genug mit ihm zusammen gewesen, um das beurteilen zu können. Auch, wenn unsere Beziehung inzwischen zwei einhalb Jahre zurücklag, so etwas würde ich nicht vergessen. „Ich sehe mich nach ihm um.“
Ich entfernte mich aus dem Zimmer und lief dem Lärm entgegen.

Wie erwartet herrschte vor der Bühne ein Heidenchaos. Eine weniger bekannte Girlgroup, die sich als Butterfly Chix ausgab, sang und tanzte auf dem Podium, erhielt jedoch nicht die Spur von Aufmerksamkeit. Die Gothicband hatte ich knapp verpasst. Wie in einem Treibhaus, von der Sonne aufgeheizt, hing die Schwüle in der Kneipe. Außerdem roch es stark nach einer Mischung aus Alkohol und Zigarren, und wäre ich nicht von Cassandra beauftragt gewesen, Ryan zu suchen, hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht. Ende. Schluss mit der Party für heute und auf Nimmerwiedersehen. So hingegen sah ich mich gezwungen, mich den Rest des Abends durch die feiernde Menge zu kämpfen, auf der Suche nach dem verschollenen Ryan. Was tat man nicht für seine Freunde. Ich lief an der Bar vorbei, musste mir zahlreiche dahingesabbelte Sätze von betrunkenen Männern weit über meinem Alter aufbürden und machte mir Vorwürfe, dass ich nicht ein einziges Mal hatte Nein sagen können. Auf der Theke tanzten zwei Mädchen miteinander, und ein Mann mit dunklen Schatten unter den Augen schubste mich ihnen grob entgegen.
„Willste nich au ma tanz’n?“
Von seinem Atem wurde mir schwindelig, und ich schwankte ein paar Schritte zurück. Zügig lief ich weiter. Ich wollte nicht, dass er erneut fragte. Die Fähigkeit, nicht nein sagen zu können, vermochte es einen in brenzlige Situationen zu katapultieren. Ryan hier ausfindig zu machen war ein hoffnungsloses Unterfangen. Es waren viel zu viele Menschen anwesend, um ihn zu entdecken. Viel zu viele große Menschen. Ich kam mir kleiner vor, als ich es ohnehin war. Ein Zwerg inmitten lauter Riesen. Verloren stand ich in der grölenden Menge, ließ die Schultern hängen. Mir wurde klar, dass ich in diesem Gedränge nicht einmal die Abstellkammer wiederfinden würde. Dabei war die Kneipe in leerem Zustand gar nicht so groß.
Plötzlich ein warmer Schauer. Aus dem Nichts tauchte er auf und durchfuhr mich langsam in großen Wellen. Feuerströme. So, als wäre ich mit einem Schritt von arktischen Minusgraden auf Tropenklima umgestiegen. Die Hitze, die mit einem Mal durch meinen Körper zirkulierte, raubte mir eine unnachahmliche Sekunde den Atem. Dieses Gefühl war kaum zu beschreiben. Ein glühender Hauch, der mich verschlang, nicht mehr loslassen wollte. Es fühlte sich gut an, wie etwas, das im Verborgenen geschlummert hatte, und nun ausbrechen wollte. Mein ganzer Körper reagierte auf dieses Empfinden; meine Hände zitterten unkontrolliert, meine Beine gaben nach. Jeder Teil von mir wollte in der Wärme versinken. Meine Hände, Beine waren taub, ich spürte nichts. Nichts, außer der Sonnenstrahlen in mir. Dann war es verschwunden. Ich schnappte nach Luft, als wäre ich nach ewigem Tauchen endlich an die Oberfläche gestoßen.
Konfus hielt ich nach der Ursache für die Explosion Ausschau – und da stand sie: Größer als ich, älter als ich und um einiges attraktiver. Der Anblick des Jungen traf mich beinahe ebenso nachhaltig wie die Hitze zuvor. Er hatte verwuschelte, dunkelbraune, eher schwarze Haare. Unter dem mitternachtsblauen Pullover zeichnete sich sein trainierter Oberkörper ab, und seine Augen… ja, seine Augen. Ich schluckte. Solche Augen hatte ich noch nie gesehen. Tiefgrau waren sie. Es war nicht dieses stumpfe Grau, das tausende Menschen in ihrem Blick trugen. Sein Grauton war tiefgehender, facettenreicher und irgendwie – geheimnisvoll bedrohlich, leer. Ich hätte es nie gewagt ihn anzurühren, wäre es nicht durch Zufall geschehen. Er stand da als könnte er auf alles und jeden herabblicken, als wäre er Herrscher dieser Nacht, ein Engel in schwarz, machtvoll. Und er betrachtete mich, mindestens genauso perplex wie ich ihn. Beim Vorbeigehen hatte er mich angestoßen – und dabei ein Chaos an Gefühlen bei mir ausgelöst. Ich fragte mich, ob er das Gleiche gespürt hatte wie ich, als ein Mädchen auf dem Tresen zum wiederholten Male seinen Namen rief.
„Lestat, ich will mich betrinken! Bitte bitte komm schnell!“
Reglos taxierte der Junge mich. Dann nahm auch er sie wahr. Mit zwei Flaschen in der Hand ging er zögernd zu ihr herüber. Ich konnte nicht anders, als ihm hinterher zu starren. Vor der Theke hielt er an. Drei Mädchen tanzten darauf, unter ihnen jenes, welches ihn gerufen hatte. Sie war eine furchterregende Schönheit; ein zerrissener Jeansrock und ein schwarzes Neckholder-Top umhüllten ihren makellosen Körper. An ihrem Hals funkelte eine Kette mit blauen Steinchen. Sie war schön und doch hatte man Respekt vor ihr, wenn nicht Angst, wie man sie vor einem Raubtier hatte. Die verstand es, sich zur Musik zu bewegen! Als sie registrierte, dass Lestat sie endlich erhört hatte und zu ihr geschritten war, ging sie in die Knie und warf sich die glatte, pechschwarze Haarpracht über die Schulter. Ein Schneewittchen der Neuzeit; weniger brav und um einiges aufreizender.
Ich näherte mich den beiden Fremden, war überrascht, dass ich mehr von ihnen erleben wollte. Zwar fühlte ich mich lächerlich, was diese Spionage-Aktion betraf, aber darüber machte ich mir keine weiteren Gedanken. Ich stand fast neben ihnen, aber Schneewittchen und der schwarze Engel schienen meine aufdringlichen Blicke nicht zu bemerken. Und falls doch, wussten sie dies gut zu verbergen. Lestat stellte die beiden Flaschen auf dem Tresen ab und beugte sich zu dem unbekannten Mädchen vor. Ihre Arme legten sich um seinen Hals, und ich wurde beim bloßen Beobachten neidisch. Neidisch, weil sie perfekt zueinander passten. Meinen Blick konnte ich nicht abwenden. Vielleicht war ich einfach gespannt darauf, was weiterhin geschehen würde. Lasziv lächelnd flüsterte Schneewittchen ihm etwas ins Ohr. Lestat kam ihr noch näher, bis die Beiden – wie hätte es anders sein sollen – wild züngelten. Meine Finger tippten nervös auf der Tischplatte herum. Eine alkoholische Flüssigkeit war dort verschüttet worden. Klebrig fühlte sie sich an. Was ein Macho, dieser Kerl. Es hatte etwas Verstörendes, diesen beiden bizarren, sich liebenden Menschen beim Küssen zuzusehen. Obwohl ich Angst vor ihnen hatte, reizte es mich, ihnen nahe zu sein. Lestat, schwer beschäftigt, umfasste nun mit den Händen die Taille des Mädchens, brach den Kuss ab und hievte sie von der Theke auf den Boden. Sie stand nur zittrig, hatte offenbar schon einige Flaschen hinter sich, als sie eine von den beiden, die der Junge ihr gebracht hatte, öffnete und diesem die andere in die Hand drückte. Es war, als hätte man ihr den Befehl Trinken eingespeichert. Mechanisch nahm sie einen Schluck nach dem Anderen.
Auf einmal kamen drei weitere Gestalten dazu, die zu ihnen gehörten. Alle drei waren sie sonderbar, dennoch schön. Das eine Mädchen ähnelte der Freundin von Lestat, war ebenso aufreizend gekleidet, hatte aber etwas kürzeres Haar. Der Junge an ihrer Seite trug einen Irokesen-Haarschnitt und war dementsprechend angezogen: Die Hose zerfetzt, eine Absperrkette daran baumelnd. Das letzte Mädchen hatte im Gegensatz zu allen anderen blonde Haare, die schräg über ihren Augen lagen. Lestats Freundin löste sich von ihm und verfiel in eine freundschaftliche Umarmung mit der Blondhaarigen.
„Jenny, Leute, Jenny ist da! He Jenny, ich hoffe, du hast Alk dabei.“
Ich musste mich nicht sonderlich auf ihre Worte konzentrieren, um sie zu verstehen. Sie war so alkoholisiert, dass sie unkontrolliert laut sprach. Ein Beweis dafür, dass Alkohol Menschen verwandelte. Diese Teufelsmischung brauchte mir niemand anzudrehen.
„Sicher, Wodka für alle!“
Der auffällig gekleidete Junge und seine schwarzhaarige Freundin setzten einige Flaschen auf dem Tresen ab. Das sah nach einer Einladung zum Massenbesäufnis aus. Irgendetwas verzauberte mich an diesen fünf Menschen. Zwar verhielten sie sich uneingeschränkt zügellos, aber etwas Besonderes umgab sie. In meinen Augen glänzten sie. Bevor ich herausfinden konnte, was der Grund für diese Verzauberung war, wurde mir von hinten auf die Schulter geklopft. Der Bann war gebrochen.
„Man kann dich nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.“ Ryan schaute mich verwundert an, und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geglaubt, dass er besorgt war. Unmöglich, dass ich genauso aussah wie ich mich fühlte – total neben der Spur. Ryan bestätigte mir diesen Verdacht. „Du siehst aus wie auf Speed. Hast du Drogen genommen?“
Dass ich ihn gesucht hatte, vergaß ich. Irgendwie war es nicht mehr wichtig. Irrelevant. Ich sah nur die Menschen, sah sie kreischen, trinken und reden.
„Ich glaube wohl“, entgegnete ich betreten.
Fuenkchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2008, 00:04   #3
MutedStoryteller
 
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Liest sich angenehm und flüssig. Atmosphärisch sehr dicht. Es gab nur einige Formulierungen die mir etwas "abgedroschen" erschienen. Der punkt als das ICH den "perfekten" Jungen trifft finde ich etwas schwächer weil nicht so originell wie der Rest.
Ansonsten stimmt vieles hier:
Spannungsbögen, Einleitung, Vorstellung der Figuren, Fokus, Zeitemfinden.
Mir gefällt der Text richtig gut, ich würde weiterlesen.
MutedStoryteller ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2008, 00:06   #4
MutedStoryteller
 
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Spannende vorschau
Ich hoffe das Projekt wird beendet!
MutedStoryteller ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2008, 01:05   #5
Fuenkchen
 
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Oh ja, ein Kommentar

Gefreut hat mich, dass es sich für dich flüssig lesen lies. Ich hatte schon Angst, dass es zu langatmig wird, weil ich gerne ausführlich schreibe (manchmal zuu gerne).

Zu abgedroschen? Kannst du mir ein Beispiel nennen?

Das mit dem "perfekten" Jungen... was soll ich sagen, im späteren Verlauf spielt das eine Rolle. Aber stimmt, ist zu klischeelastig (gibt es das Wort? ). Da muss ich mir wohl noch etwas zu überlegen...
Danke auf jeden Fall für deine ehrliche Meinung!
Kritik ist immer willkommen!
Fuenkchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2008, 01:15   #6
MutedStoryteller
 
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Hehe Naja das mit dem "perfekten" Jungen war ein beispiel.
ganz am Anfang fiel mir noch die Wendung "Stille Wasser sind tief auf..." denn eigentlich beweist das 'ausrasten' des Schlagzeugers ja noch nicht tiefe, was Gedanken anbetrifft. (so hätte ich es verstanden)

Aber wenn ich ehrlich bin: So wie es ist, braucht man das garnicht unbedingt ändern. Vor allem ist das ganze ja hier noch nicht zuende und einen Feinschliff muss es ja später sowieso noch geben wenn alle Kapitel stehen.
Für einen Start ist scheint mir jedenfalls klasse gelungen.
Was soll ich dazu noch sagen

Grüße
Muted Storyteller
MutedStoryteller ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2008, 11:08   #7
Fuenkchen
 
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Brauchst gar nichts mehr dazu zu sagen

Ich hab "Stille Wasser sind tief" immer so gedeutet, dass man auf den ersten Blick unscheinbar und zurückhaltend wirkt, dahinter aber auch eine andere Seite hat, in diesem Falle die des Entertainers.

Ach ja, der Feinschliff. Mein Gott, ich frag mich wie die anderen das machen. Ich hab den Text schon fünf Mal überarbeitet, bald kann ich ihn auswendig. Das ist glaub ich die größte Arbeit, denn irgendwann wird's langweilig, weil... ähm ja, es passiert ja immer dasselbe

Fünkchen
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Alt 02.08.2008, 13:44   #8
Schnuffel
 
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Hallo Fuenkchen!

nein, du hast mich nicht enttäuscht. Abeer das mit dem ,,perfekten Jungen'' erinnert mich sehr an die Bis(S) Bücher.
Zudem habe ich am Anfang nciht verstanden , ob das ,,Ich'' in der Band mitspielte oder einfach nur zuhörte und im Publikum saß (stand).

Gru´ß

Schnuffel
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Alt 04.08.2008, 17:02   #9
Fuenkchen
 
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Standard Kapitel 1

Kapitel 1

Man könnte meinen, es wäre ein schöner Tag. Hinter dem milden Wolkenteppich lugte die Sonne hervor, als wolle sie sich vor ihn schieben, bisher erfolglos. Noch während dieses Morgens würde sie ihn durchdringen können. Und ich, ich würde im Unterricht sitzen. Ich seufzte und tat den letzten Schritt. Jetzt war es geschehen; ich stand auf dem Schulhof. Alles sah noch genauso aus wie beim letzten Mal, als ich vor ungefähr drei Monaten so schnell wie möglich mein Zeugnis eingesteckt und mich denkbarst weit vom Schulgebäude entfernt hatte. Die Ferientage waren wie im Fluge an mir vorübergezogen. Ich hatte versucht mir einzureden, dass es nicht von vorne beginnen würde. Dass mich Hausaufgaben, Referate, Lehrer und ihre folgsamen Referendare nicht wieder in den Wahnsinn treiben würden. Umsonst. Es war, als hätte jemand auf Repeat gedrückt, um mir klar zu machen, wie trostlos mein Leben war. Und ja, das war es. Der Jemand, der dieses Schullied immer und immer wieder abspielte, sollte begreifen, dass ich es allmählich auswendig kannte.
Unter großem Stöhnen kramte ich am Morgen meine Sachen zusammen und machte den Citroën C2 startklar. Der Kleinwagen gehörte meinem Vater, der ihn so gut wie nie benutzte. Ein Wimpernaufschlag der besonderen Art genügte , und er erlaubte mir, ihn für die Schulfahrt zu benutzen. Er brauchte ihn eh nicht, und hätte Mutter ihn nicht haben wollen, hätte der Wagen hinter der Schaufensterscheibe verstauben können. Doch so war meine Mutter eben; ziemlich eigensinnig und sehr durchsetzungsfähig. Mein Vater würde alles für sie tun, ohne ein Wort der Widerrede einzulegen. Noch wartete ich auf den Moment, in dem sie aufspringen und mir eröffnen würde, dass sie Schauspielerin war und das alles ein Theaterstück, in dem sie Diktatorin spielte.
Wie die restlichen der 266 Schüler schlurfte ich über den Schulhof, hielt nach meinen Freunden Ausschau. Der Platz war so überfüllt von drängelnden Jugendlichen, dass ich mich darüber wunderte, wie viele Jungen und Mädchen unsere kleine Ortschule besuchten. Überall hörte man sie sich mit Begrüßungsfloskeln willkommenheißen. An der hohen Fichte am Rande des Schulhofes hatten sich die meisten Jugendlichen versammelt. Wie durch eine unsichtbare Kraft verdrängt standen sie dort und kamen nicht näher. Das Schul-Verdrängungssyndrom hatte zugeschlagen, eindeutig. Der Schulgong würde genügen, um sie wie aufgescheuchte Tauben auseinander stoben zu lassen. Plötzlich hörte ich eine vertraute Stimme aus der Menschenmenge heraus.
„SAMMY! - Hey, lasst mich hier durch! Platz da! - SAMMY!“
Fröhlich zappelnd erschien Angel vor einem Jungen, der durch ihre grobe Art seine Schultasche fallen ließ. Bücher und Hefte lagen auf dem Boden verstreut, und er betrachtete Angel mit verärgertem Gesichtsausdruck. Diese schien es nicht zu bemerken, obgleich sie sich dafür interessierte. Stürmisch rannte sie auf mich zu, als hätte sie mich Wochen lang nicht gesehen. An jedem Tag hatten wir uns getroffen in den Ferien. Hörte sie eine Zeit lang nichts von mir, geriet sie völlig außer Kontrolle. Als Mutter wäre sie unbestreitbar der Albtraum eines jeden Kindes gewesen.
„Ich habe dich überall gesucht!“
Überschwänglich umklammerte sie mich. Ebenso jäh ließ sie wieder los, streckte sich empor, als wollte sie mit der Nasenspitze den Himmel berühren, um nach anderen bekannten Gesichtern zu suchen.
„Sieh mal, Sammy, da ist Ryan! RYAAAN! Juuhuu!“
Ihrem Adlerblick entging Nichts und Niemand. Für einen Moment verschwand sie in der Menge, tauchte wenig später Ryan hinter sich herschleppend erneut vor mir auf.
„Wie schön, dass wir alle wieder zusammen sind.“
„Hey Sammy.“ Ryan warf mir einen gequälten Blick zu, als Angel ihn mit ihrem Dauergrinsen vor mir positionierte. Verzagt bemühte er sich darum, von ihr los zu kommen, allerdings haftete sie an ihm wie eine Klette. „Wie waren deine Ferien?“
„Unvergesslich“, raunte ich, „Mum hat Melody und mich zu einem Stadttrip durch London geschleppt. Wir mussten uns die Geschichte zu jeder blöden Sehenswürdigkeit anhören.“
„Klingt spannend“, lachte Ryan, „Erzähl das Ben, der steht auf Sehenswürdigkeiten.“
Auf einmal bemerkte ich genau diesen hinter mir und fragte mich, ob er die ganze Zeit dort gestanden hatte. Er trug eine gut gefütterte Winterjacke, obwohl es erst Herbst war und bei Weitem nicht notwendig. Schmunzelnd stellte ich fest, dass er aussah wie ein Michelin-Männchen.
„Wenn man vom Teufel spricht.“ Ryan verdrehte die Augen.
„Komm runter, Junge. Ben, wir haben grad von dir gesprochen.“ Angel legte ihm einen Arm auf die Schulter. „Sammy war in den Ferien auf einem Stadttrip in London.“
Sie brauchte nicht weiter zu sprechen. Benjamin rückte seine Brille zurecht, die seine Augen noch größer wirken ließ - wie überdimensionale Murmeln sahen sie aus - und schaute mich eindringlich an.
„Wie viele Tage hat euer Aufenthalt umfasst?“
„Vier.“
Die einzigen vier Tage, an denen ich von Angel nur über das Netzwerk erreichbar war. Ihre Telefonrechnung blieb davon nicht unberührt.
Benjamin traute mir nicht zu, dass ich freiwillig an einem solchen Ausflug teilnahm. Zu Recht. Hätte mein Vater dem Ganzen nicht so überaus passiv gegenüber gestanden, hätte ich getrost zu Hause bleiben können. Ich hätte mich vor dem Fernseher aufs Sofa verkrümelt und keinen Laut von mir gegeben. Ich wäre ein Wunschkind gewesen – leise, brav und pflegeleicht. Leider aber fuhr meine Mutter ihre nach Macht heischenden Krallen auch über mir aus.
„Vier Tage?! London ist unwahrscheinlich teuer! Vier Tage… davon kann ich nur träumen.“
Benjamins Gesichtsausdruck verwandelte sich in den eines Kindes, das zum aller ersten Male einen Schritt vor die eigene Haustüre gesetzt hatte und nicht recht glauben konnte, wie groß die Welt draußen war. Während er zu schwärmen begann von Madame Tussaud’s Wax Museum und der lebensnahen Brad Pitt Wachsfigur, schienen Ryans Augenlider immer schwerer zu werden. Vielleicht lag es an der Inhaltslosigkeit, die er bei Benjamins Sätzen verspürte. Voller Begeisterung berichtete uns der von seinem letzten Aufenthalt in London. Atemberaubend für ihn, langweilig für den Rest.
„ … und dann waren wir noch beim Tower of London … “
„Wie viele Blütenblätter hat eigentlich ein Gänseblümchen?“ Angel setzte einen nachdenklichen Blick auf. Als Benjamin schwieg, fuhr sie fort. „Lasst uns den Klassenraum suchen! Keine Lust, zu spät zu kommen.“
Schlechte Lüge, dachte ich mir. Angel war so ziemlich die Letzte, die sich um ein rechtzeitiges Erscheinen zum Unterricht sorgte. Das war so, als würde ein Massenmörder über die Nächstenliebe predigen. Sie verzog das Gesicht, selbst verwundert über die Aussage, die sie eben getroffen hatte.
„Whow, Angie mutiert zur Streberin.“ Ryan pfiff durch die Zähne. „Hast wohl zu viel Sonne abgekriegt in den Ferien.“
„Vielleicht wär’s echt eine coole Idee, dieses Jahr durchzupowern. Für mein Zeugnis wäre das ein Höhenflug.“
„Mit vorzeitigem Absturz“, neckte Ryan sie.
„Aus, sei nicht so böse“, ermahnte ich ihn, was ihn dazu brachte, die Hände wie zum Gebet zu falten.
„Okay, Mama.“
Ich blickte theatralisch nach oben.
„Dass du immer übertreiben musst.“
„Warum, Mama?“
Er schob seine Unterlippe schmollend vor und zog die Augenbrauen ein Stück hoch. Ich wank belustigt ab.
„Ist gut, ich verzeihe dir. Sei weiterhin lieb, und du kriegst ’nen Keks.“
Angel ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. An einer Hand zählte sie ab, wie viele vieren und fünfen sie dieses Jahr bekommen würde, würde ihr Höhenflug nicht bald beginnen . Unwirsch betrachtete sie die sieben Finger. Mit Jedem wurde Ryans Grinsen breiter. Tröstend tätschelte er ihr auf den Kopf.
„Ach Angielein, so rosig ist die Ferndiagnose nicht, hm? Was wirst du plötzlich so verantwortungsbewusst? Du machst mir Angst, ganz ehrlich.“
„Du bist wohl böse“, stellte ich endgültig fest.

Nach einigem Suchen machten wir den Biologieraum im zweiten Stockwerk des Neubaus ausfindig. Für gewöhnlich zogen wir es vor, völlig unkoordiniert durch das Schulgebäude zu tigern. Dieses Mal hingegen war eine echte Enttäuschung gewesen, und wir standen schon nach schlappen zehn Minuten vor dem Raum, dem die Biologieklasse von Ms Adrian zugeteilt worden war. Besonders ärgerlich daran war, dass wir uns nicht über die Organisation des ersten Schultages beschweren konnten.
„Ich vermisse schon jetzt die kleinen, engen Kursräume mit den brüchigen Pappkartonwänden.“
Scherzhaft weinte ich den alten Klassenzimmern nach. Über die Ferien hatte sich die Schulverwaltung scheinbar die Mühe gemacht, alle Räume zu renovieren. Der Boden war mit einer blaugrün getupften Kunststoffauslegeware bedeckt, und der Geruch nach Farbe ließ darauf schließen, dass die Wände erst vor Kurzem mit dem weißgrauen Farbton gestrichen worden waren. Die polierten Tische erinnerten nicht im Geringsten an die beschmierten, die wir zuvor gehabt hatten, und zu meiner größten Verwunderung hing neben der grünen Wandtafel Geodreieck und Zirkel - in einem völlig unbeschädigten Zustand. Das wird sich demnächst ändern, ging es mir durch den Kopf, und ich musste mich unweigerlich an das letzte Jahr erinnern. Einige Schüler aus dem Biologiekurs kamen auf die glorreiche Idee, Fußball in der Klasse zu spielen, wobei zwei Fensterscheiben zu Bruch gingen. Wenn unsere Schüler etwas konnten, so war es Materialien zu demolieren.
Angel und ich beschlossen, Banknachbarn zu werden. Somit saß ich in der zweiten Bank von Innen, konnte also problemlos mit Ryan und Cassandra quatschen, die am Tisch neben uns Platz genommen hatten. Während Angel weiterhin auf mich einplapperte, als habe jemand vergessen, ihr die Batterie herauszunehmen, ging die Türe auf, und Ms Adrian kam herein. Anstelle einer Stunde Biologie diskutierte unsere Reihe, wann die Bandproben stattfinden sollten, während der Rest der Klasse Gespräche über Nichtigkeiten wie den Sporttag, der am Mittwoch anstand, führte. Zudem lobte Ms Adrian das gepflegte Äußere des Klassenraumes, bemerkte jedoch im selben Satz, dass dies vermutlich nicht allzu lange andauern würde. Wer sagte es, diese Frau kannte uns verdammt gut.

Irgendwie gelang es mir, die Schulstunden bis zur großen Pause ohne besondere Vorkommnisse hinter mich zu bringen. In Geschichte schlief ich fast ein und auch Physik und Mathematik, meine auserwählten Hassfächer, waren noch genauso unausstehlich wie die Lehrerin, die sie unterrichtete. Besagte Lehrerin trug den ausdrucksstarken Namen Ms. Bale, was so viel wie Unheil bedeutete. Aus irgendeinem Grund hasste sie mich. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Nur manchmal, da war sie froh, mich zu haben. Wenn sie sich aufregte beispielsweise. Was gab ich für eine schöne Zielscheibe ab! Nach diesen beiden Fächern des Grauens folgten Französisch und der Tanzunterricht bei Ms Waller.
Nun stand die große Pause bevor. Auch in der Kantine war alles beim Alten geblieben: Cassandra beanspruchte weiterhin den Sitzplatz neben Ryan für sich, mir stets beschwörend, sie würde ihn nur nett finden, und Angel wechselte ein Schimpfwort nach dem anderen mit Denise Hunt, die am Tisch hinter uns saß. Wie immer beendete sie die Konversation nach fünf Minuten mit dem Satz: „Gespräche mit dir sind billig, genau wie du“ und wandte sich mir zu.
„Ich hasse sie so sehr“, wiederholte sie sich mit einem Blick in Denise’ Richtung.
Diese saß mit ihren Abziehbildern Natasha Mason und Melody Lewis, die bedauernswerter Weise meine Schwester war, an einem Tisch und beschwerte sich zeitgleich über Angel. Von ihren beiden Freundinnen kam zustimmendes Kopfnicken.
„Ach, Angie, reg dich nicht auf!“
Sie saß mir gegenüber, weshalb ich mich vorlehnte, um sie trotz der üblichen Gesprächslautstärke meiner Mitschüler zu verstehen.
„Diese blöde Ziege geht mir furchtbar auf die Nerven. Aber weißt du was? Ich werde - “
Sie brach mitten im Satz ab.
„Du wirst was?“, hakte ich nach.
„Oh mein Gott, jetzt ist alles vorbei.“
Entgeistert schaute sie hinter mich, daher drehte auch ich mich um, nach der Ursache für Angels geistigen Absturz suchend. Und tatsächlich, da saß sie, oder besser er, älter als ich, vielleicht 17, ganz alleine an einem Tisch und stützte seinen Kopf mit einer Hand ab. Auch ich musste zugeben, ihn hier noch nie zuvor gesehen zu haben – obwohl... er kam mir bekannt vor. Ich strengte mein Gedächtnis an, musterte die verwuschelten dunkelbraunen, fast schwarzen Haare. Das kann nicht sein, war alles, was ich dachte. Panik war alles, was ich fühlte. Es war der Junge von Ryans Party zu Beginn der Ferien. Drei Monate lag sie zurück, kein Wunder also, dass ich mich nicht sofort an ihn erinnert hatte. Doch so eine Person vergisst man nicht, nicht jemanden wie ihn. Wie hieß er noch gleich? Lestat? Lestat.
„Ist er nicht, ist er nicht… hmmm…“, Angel suchte nach den richtigen Worten, „perfekt?“
Perfekt war übertrieben. Schwarzgekleidete Typen waren nie mein Fall gewesen. Angels eigentlich genauso wenig.
„Ein bisschen mehr Farbe würde ihm gut tun.“
Und ein Lächeln. Wenn er lächelte, mochte er sogar freundlich aussehen.
„Wer so aussieht, kann ruhig wie’n Untoter rumlaufen “, fand sie, „Ich sag’s dir; der oder keiner.“
Nun wurde auch Ryan auf unser Gespräch aufmerksam.
„Ihr gebt endlich zu, dass ihr mich scharf findet?“
Ryan war mit diesem Jungen nicht zu vergleichen. Er sah nicht schlecht aus mit seinen hochgegelten braunen Haaren und den dunkelblauen Augen, aber an Lestat kam er nicht ran. Von Benjamin ganz zu Schweigen. Denn auch, wenn sein Stil verboten gehörte, hatte er eine Ausstrahlung, die jede Menge Pluspunkte versprach. Seine Augen verrieten, dass er ein Geheimnis war. Und welche Frau mochte keine Geheimnisse?
„Schlechter Witz“, erwiderte Angel und starrte ihn weiter an, als würde es nichts anderes mehr geben, „Leute, guckt nur! Er sieht mich an!“
Ich richtete meinen Blick von Ryan auf den neuen Schüler. Tatsächlich, er sah in unsere Richtung. Er sah zu mir. Oh mein Gott, Sammy, guck weg, ging es mir blitzartig durch den Kopf. Sein Blick machte mir Angst. Gruselig und doch atemberaubend.
„Der da?“, fragte Ryan ungläubig, unseren Blicken zum Tisch des Jungen folgend, „Sieht aus wie’n Grufti.“ Keiner sagte etwas zu Ryans Äußerung. „Sag bloß, auf sowas stehst du“, hakte er bei mir nach.
„Er ist anders.“
So, wie ich es sagte, klang es fast wie etwas Gutes. Verständnislos schüttelte Ryan den Kopf.
„Ich fass es nicht. Mum meinte, das hier wäre eine stilvolle Schule und ich muss feststellen, dass ihr alle an Geschmacksverirrung leidet.“
„Ich will gar nichts von dem!“
„Ich aber“, sagte Angel offen und ließ sich nicht davon abbringen, ihn weiter anzustarren.
„Sorry, aber da habt ihr keine Chance. Der braucht eine von seinem Kaliber, eine in schwarz gekleidete Domina.“
Eine wie Schneewittchen. Es schellte. Schnell warf ich Lestat einen letzten Blick zu. Er sah mich an. Noch immer. Ich war mir vollkommen sicher. Er wirkte konzentriert. Er verunsicherte mich. So schnell wie möglich wollte ich die Kantine verlassen. Auch, als ich mich durch die Menge zwang, spürte ich seine Blicke in meinem Nacken.
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Alt 04.08.2008, 17:29   #10
Fuenkchen
 
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Ich stand vor dem Eingang des Schulgebäudes, nach den richtigen Gedanken suchend.
„Überfällt dich die Unlust schon am ersten Tag?“
Es war Cassandra, die gerade noch ein Stück von ihrem Apfel abbiss. Den Rest warf sie in einen Mülleimer, der neben mir stand.
„Ich war nur - ich weiß nicht.“
„Angie ist ja durcheinander. Und das wegen einem Grufti, der keinen Wert auf Gesellschaft legt.“ Ich nickte stumm. Warum sollte er sonst alleine an einem Tisch sitzen? Er hatte die Schüler gemustert, als würde er ihnen etwas antun, wenn sie sich zu ihm setzten. Als würde er sie warnen. „Dich hat er besonders eigenartig angesehen. Ist dir das aufgefallen?“
„Wie hätte es mir entgehen können?“
„Hat es dich gestört?“
„Es hat mir Angst gemacht. Ich mag es nicht, wenn Menschen voreingenommen sind – und dabei so gefährlich aussehen.“
Cassandra meinte, einige Leute könnte man nicht verstehen und man sollte sie besser in Ruhe lassen. Dann ging sie ins Gebäude, ich stolperte ihr hinterher.
Der Englischunterricht fand bei Ms Paine in irgendeinem Raum an dem vor uns liegenden Flur statt. Da Cassandra wie gewohnt der informiertere Teil von uns beiden war, peilte sie sofort die richtige Tür an. Sie klopfte, und wir betraten den Raum, in dem alle anderen Schüler des Englisch-Kurses bereits eingetroffen waren.
„Entschuldigung für die Verspätung. Wir haben den Raum nicht finden können“, rechtfertigte Cassandra die Verspätung.
Es schien, als würde uns Ms Paine die Erklärung abkaufen, denn sie bat uns bloß, rasch einen Sitzplatz zu suchen. Cassandra lief unverzüglich zu Ryan, der nur widerwillig aufrückte, da er den Platz scheinbar für mich freigehalten hatte. Schnell suchte ich mit den Augen nach einem freien Stuhl, als mir auffiel, dass auch der Junge aus der Kantine den Englisch-Kurs bei uns besuchte. Und wie sollte es anders sein, befand sich der letzte freie Platz an seinem Tisch.
„Setz dich bitte neben Lestat Moran!“, ordnete Ms Paine an und deutete auf den Neuen.
Mein Herz schlug schneller. Ich wollte nicht so nah bei jemandem sein, der in einem Horrorfilm hätte mitspielen können. Solche Typen liefen da mit Streitaxt rum, und ich musste neben ihm sitzen und lächeln. Ich lief zu seinem Tisch und setzte mich neben ihn. Er rührte sich nicht. Tat so, als wäre ich nicht da. Seine Schulsachen lagen bereits auf dem Tisch. Ich atmete geräuschvoll aus und kramte ebenfalls meine Hefte aus dem Rucksack. Vorne gab Ms Paine die Arbeitsanweisungen.
„Es geht sofort an die Arbeit. Es werden Arbeitsblätter zu dem Buch Der Richter und sein Henker ausgegeben. Ihr habt eine Stunde, um sie zu bearbeiten. Der Rest ist Hausaufgabe. Lucas, teil bitte die Arbeitsblätter aus!“
Der Roman war aus dem Deutschen übersetzt worden. Er handelte von einem Kriminalpolizisten, der versuchte, einem Mörder seine Tat nachzuweisen. Dieser hatte zahlreiche schmutzige Geschäfte durchgeführt, ohne, dass er jemals zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Ms Paine drückte Lucas, einem ziemlich kleinen Jungen mit Brille, einen ganzen Stapel Blätter in die Hand. Dieser lief reihum und teilte sie wie angeordnet aus. Ich nahm zwei der Blätter entgegen und legte eines davon vor Lestat.
„Bitte“, sagte ich unsicher.
Ich hasste verkrampfte Gespräche, doch so, wie es aussah, würde ich nicht um eines herumkommen. Lestat entgegnete nichts. Kein einziges Wort kam über seine schönen Lippen. Er schaute nicht auf. Seiner Haltung war keine Emotion zu entnehmen. Zurückgelehnt hing er auf seinem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. Was er wohl dachte? Vermutlich hielt er mich für dumm. Für ein dummes, kleines Mädchen. Ich hatte mich immer gefragt, was Leute wie er über ihr Umfeld dachten. Ob sie merkten, dass sie anders waren? Ich begann, das vor mir liegende Arbeitsblatt durchzulesen, als Ms Paine verkündete, dass das Blatt gemeinsam mit dem Sitznachbarn zu bearbeiten sei. Weiterhin stumm nahm Lestat das Blatt in die Hand und las sich den Inhalt durch. Es gab drei Aufgaben. Die Erste verlangte, den zeitlichen Ablauf der Geschichte zu analysieren. Dazu hatte ich mir bereits Notizen in der Lektüre gemacht, weshalb ich das dünne Buch zur Hand nahm und diese zunächst herausschrieb. Nach wenigen Minuten war die Aufgabe erledigt. Nun sollte mir irgendetwas auffallen, vermutete ich. Nur was? Ob ich Lestat fragen sollte? Ich blickte ihn abermals an. Er starrte auf das Display seines Handys, das er unter dem Tisch versteckt hielt, und schrieb eine SMS.
„Für wen ist die?“, fragte ich, in der Hoffnung, ein Gespräch zustande zu bringen.
„Geht dich nichts an.“
Okay, er hielt mich für ein dummes, kleines Mädchen. Ich setzte mich wieder an das Arbeitsblatt. Ich hatte keine Lust, alles zu Hause erledigen zu müssen. Nach einiger Zeit - die Stunde war fast zu Ende und Lestats Schreibblock immer noch leer - bemerkte dieser, dass er eine Aufgabe zu bewältigen hatte. Genervt legte er sein Handy beiseite und setzte sich an das Arbeitsblatt. Vielleicht war dies endlich meine Chance, trotz Allem noch ein Wort mit ihm zu wechseln.
„Hast du noch nicht angefangen?“, informierte ich mich ungeschickt, als ob ich die Antwort nicht wüsste.
Er schaute auf. Ich blickte in seine tiefgrauen Augen.
„Nein“, meinte er knapp mit einer Stimme, mit der er wohl das Herz eines jeden Mädchens hätte brechen können.
Er hatte es kurz, in einem harten Tonfall gesagt, und dennoch war dieses eine Wort allein so klangvoll, dass es wie eine ganze Anreihung von Lauten in meinem Kopf widerhallte. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Drrrrng. Stundenende. Der Sitzplatz neben mir war leer. Plötzlich. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Als hätte man ihn aus dem Bild radiert. Vor mir sah ich noch seine grauen Augen.
„Sammy? Alles okay?“, fragte mich Cassandra, verwundert über meinen abwesenden Gesichtsausdruck, „Komm und vergiss deine Sporttasche nicht.“

„Und ich hab versucht nett zu sein und er war total arrogant und irgendwann dachte ich, ich lass es einfach, weil es hat eh keinen Sinn, und solche Kerle lässt man besser in Ruhe.“
Ich musste meinem Unmut Luft machen, und wer eignete sich dazu besser als Zuhörerinnen wie Angel und Cassandra?
„Du hast neben ihm gesessen?“, erkundigte sich Angel in einem Tonfall, der ihre Eifersucht klar zum Vorschein brachte.
Sie zog sich das Sporttop über den Kopf und wartete meine Antwort ab.
„Ich wurde gezwungen.“
„Wofür eine Rechtfertigung?“
Cassandra band sich die Schnürsenkel zu und stand von der Bank auf.
„Das war keine Rechtfertigung“, widersprach ich.
„Gehen wir jetzt endlich in die Halle?“, fragte Angel und verdrehte die Augen, „Wer will schon über Gruftis reden.“

So schnell konnte sich meine Freude auf den Sport also in Luft auflösen. Mr. Cadwell, unser Sportlehrer, und ein Individuum an unserer sonst mit weiblichem Lehrpersonal ausgestatteten Schule, hatte angekündigt, das Thema Basketball vorzeitig zu beenden und das Thema Klettern zu behandeln. Nicht nur, dass sich dies als Bezeichnung für eine ernstzunehmende Unterrichtseinheit ziemlich lächerlich anhörte, es war auch etwas, was mir im Leben nie viel Glück beschert hatte. Ich musste sofort daran denken, wie ich mir im Alter von zehn Jahren bei dem Versuch, einen mittelgroßen Baum zu erklettern, den Arm gebrochen hatte. Es war nicht bei diesem einen Vorfall geblieben. Wusste Mr. Cadwell eigentlich, dass ich mich in Lebensgefahr befand, wann immer es ums Klettern ging? Kein Zweifel, ich würde die Sportstunde niemals überleben.
„Auf geht’s zur Kletterwand“, meinte er munter und deutete auf ein Gestell auf Rädern, das sich in der Mitte des Raumes befand.
Das konnte er mir nicht antun. Cassandra, Angel, ich und die Jungs waren in einem Team. Leider wussten sie nichts von meiner Schwäche, was das Klettern anbelangte, und so kam es dazu, dass ich bei einem zeitlichen Wettkampf zuletzt klettern sollte. Bis zu diesem Moment waren wir den anderen weit voraus. Na ja, bis zu diesem Moment. Ich wollte ja hoch - nur die Wand wollte nicht. Ich war stolz genug, als ich die Hälfte dieses Höllengeräts erklommen hatte, doch dann - ich hatte wohl aus Versehen mit meinem Fuß die Befestigung gelöst - begann plötzlich die ganze Wand zu wackeln. Schließlich kippte sie geradewegs Richtung Boden. Es gab keine Verletzten, was ein reiner Glücksfall war. Ob man mich noch einmal auf ein solches Gerät loslassen würde? Vermutlich nicht. Zumindest verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer, und bald konnte man überall von der Samantha hören, die die Kletterwand gestürzt hatte.

Trotz dieses niederschmetternden Ereignisses war der Tag recht gut verlaufen, wie ich es mir nach der letzten Stunde, in welcher ich bei der Bücherei-AG teilnahm, dachte. Langweilig war’s auf keinen Fall, überlegte ich mir, und musste an Lestat denken. Eher frustrierend. Ich stand mit Ryan auf dem Schulhof vor dem Altbau, und besah mir die Schüler, die sich, wie immer nach einem solchen Schultag, Richtung Parkplatz bewegten. Tatsächlich, die Sonne stand wie ein gelber Gummiball am Himmel und die Wolken waren abgezogen. Endlich Schule aus. Die Luft draußen roch verlockend wie lange nicht mehr. Nach Freizeit roch sie. Zu Hause würde ich mir zuerst ein T-Shirt anziehen. Froh darüber, dass ich dieses Schuljahr nicht mit Melody im selben Wagen nach Hause fahren musste, kramte ich den Fahrzeugschlüssel aus meinem Rucksack. Ihre sinnlosen Gespräche über Mode und den neuesten Klatsch konnte ich mir wirklich nicht mehr antun. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass Denise sie täglich nach der Schule bei sich haben wollte. Soweit ich wusste, würden sie heute gemeinsam die neue Ausgabe der Vanity Fair studieren. Melody und ich hatten schon immer unterschiedliche Interessen verfolgt. Ich hätte die Zeitschrift eher als Unterlage für Bastelarbeiten genutzt.
„Geht’s nach Hause?“, erkundigte sich Ryan.
„Nein, nach Mc Donald’s.
Was für eine Frage.
„Wir haben Mr Cadwell im Kickboxen.“
„Gut oder schlecht?
„Gut. Wenn du wüsstest, wie aggressiv der sein kann. Ein richtiger Schlägertyp ist das. Der Hammer!“
„Die Bücherei-AG macht auch Spaß“, entgegnete ich.
„Mit Benjamin, oder?“
„Ja, er kennt sämtliche Autoren und ihre Werke.“
„Er kennt alles und jeden. Nur in manchen Dingen, da kann ich ihm noch was beibringen“, meinte er und grinste mich frech an.
„Da magst du Recht haben“, lachte nun auch ich.
Nach ewigem Suchen holte ich den Schlüssel aus der Tasche hervor. Ich wollte mich gerade von Ryan verabschieden, da entdeckte ich hinter ihm am anderen Ende des mittlerweile fast leeren Schulhofes Lestat. Er stand dort an die Fichte gelehnt und schien auf jemanden zu warten. Wieder tippte er auf seinem Handy herum. Wie viel Geld er da wohl rein steckte? Dann kam ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar auf ihn zu, und er steckte sein Handy in die Tasche. Schneewittchen. Die hohen Absatzschuhe betonten ihre lange Beine und obwohl es Herbst war, trug sie einen Minirock.
„Wow“, meinte auch Ryan und allein für dieses Wort hätte ich ihn erschlagen können, „Für einen Grufti gar nicht schlecht.“
Reichte es nicht, dass ich wusste, wie toll sie aussah? Musste sie sich von überall Bestätigung holen?
„Ich bin weg“, beschloss ich kurz angebunden.
Ich lief Richtung Parkplatz, ignorierte die beiden. Ich wollte nicht sehen, wie er sie küsste.
Fuenkchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.08.2008, 12:27   #11
labahannes
 
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Hallo Fuenkchen,

mir gefällt die Geschichte bisher sehr gut. Ich habe die Bis(s) Bücher nicht gelesen insofern kann ich dazu nichts sagen.
Gründe wurden ja schon genug aufgezählt
ich freue mich shcon auf weitere Teile

Johannes
labahannes ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.08.2008, 16:49   #12
Fuenkchen
 
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Standard Kapitel 2

Kapitel 2


Durch das beschlagene Fensterglas blickte ich auf die Garage vor mir, meine Gedanken zogen Kreise. Der Motor des Citroën surrte kaum vernehmbar im Hintergrund. Dieses Mädchen, wieso machte es mich wütend? Ihr Anblick hatte sich in mein Gehirn eingebrannt, als sei es von Bedeutung. Rasch verdrängte ich das Gefühl, der Annahme, es sei lächerlich, sich über sowas den Kopf zu zerbrechen. Im Gegensatz zu der guten Erinnerung an die Unbekannte verschwamm Lestats Bild immer mehr vor meinem geistigen Auge, umso öfter ich es mir vorzustellen versuchte. Stück für Stück bemühte ich mich, seine Besonderheiten zusammenzutragen; die tiefgrauen Augen, das dunkle Haar und die schlanke Figur. Die Kälte, die er ausstrahlte, als wäre in seinem Herzen Winter. Das Feuer, was in mir aufloderte, wenn ich ihn berührte. Er war ein Puzzle, bei dem die Teile nicht zueinander passten. Ein Puzzle, das nicht lösbar war. Jedes einzelne Merkmal, jedes Puzzlestück, stimmte, aber fügte man sie zusammen, entstand ein falsches Bild. Egal, wie ich die Teile anordnete, es kam nie die erschreckend schöne Gestalt zum Vorschein, deren Anblick wie Rauschgift war. Gefährlich, und doch wollte ich mehr.
Enttäuscht über die schwache Erinnerung schlurfte ich zur Haustür, holte den Schlüssel hervor und drehte ihn im Schloss herum. Sobald ich das Haus betrat, fiel der größte Unmut von mir ab. Ich hatte erwartet den selben langweiligen Schulalltag wie die Jahre davor zu erfahren, und nun gab es Grund genug zu hoffen, dass sich dieses Jahr von den anderen abheben würde. Wenigstens ein bisschen. Bloß ein paar Tage, Wochen oder Monate. Dafür wäre ich bis in alle Ewigkeit dankbar. Vermutlich war dies nicht mehr als eine Hoffnung, etwas, an dem ich mich festhalten wollte. Nachdem ich meine beige Cord-Jacke und den weißen Wollschal in dem Kleiderschrank neben der Tür untergebracht hatte, betrat ich das Wohnzimmer, dessen durch und durch kastanienfarbene Ausstattung mich zu besänftigen versuchte.
„Samantha!“
Um den Esstisch in der Mitte des spärlich beleuchteten Raumes herum saßen meine Mutter und mein Vater – dazu Joshua und Grace. Es war Grace, die meinen Namen aussprach, um mich zu begrüßen, zugleich aber wie eine Krankheit, die sie schleunigst wieder loswerden wollte. Grace, meine Tante mütterlicherseits, die ständig ohne Anmeldung auf der Matte stand, um mit meiner Mutter zu tratschen. Sie war eine jener Personen, bei denen das Aussehen zu dem Charakter wie die Faust aufs Auge passte.
„Musst du heute nicht länger in der Schule bleiben? Hausaufgabenbetreuung oder sowas?“, bemerkte sie abfällig und schielte mich unter ihrem großen, mit Blumen verzierten Schirmhut hervor an, „Geh mit Joshua hoch spielen!“
Spielen. So, als wären wir Kinder, bei denen ein Lego-Baukasten genügte, damit sie Ruhe gaben. Joshua schickte sich an, die Klatschrunde zu verlassen und nach oben zu gehen, wie seine Mutter es verlangt hatte. Doch gerade, als ich die Klinke in die Hand nahm, wurde die Tür von der anderen Seite geöffnet. Melodys schmales Gesicht lugte durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen, und sie drängte sich an mir vorbei, um sich zu den anderen zu gesellen.
„Oh Melody! Ein Überraschungsgast, wie schön“, freute sich Grace.
„Wie war die Schule?“, fragte Mutter im gewohnt hektischen Tonfall.
Melody grinste mich an, dann setzte sie sich neben meine Tante.
„Schön, schön, Mama“, zwitscherte sie. Und dann in meine Richtung: „Mach dir keinen Stress, Denise wartet draußen im Auto. Ich habe mein Schminkköfferchen liegen lassen. Wehe, du hast dich daran vergriffen.“
Als würde ich an ihre Sachen gehen. Ich hatte meine eigene Schminke. Immer diese Unterstellungen. Ich verließ den Raum und presste ein Ohr an die Türwand.
„Was tust du da?“, informierte sich Joshua, der hinter mir stand.
„Ich will hören, was sie sagen“, entgegnete ich, ohne mich ihm zuzuwenden.
Joshua sagte nichts mehr. Ich wusste, dass er es nicht gut fand, aber das spielte keine Rolle. Wenigstens konnte ich durch sein Schweigen besser verstehen, was die anderen im Wohnzimmer beredeten.
„Es heißt, eine entfernte Verwandte hätte es ihm zugesteckt“, hörte ich meine Tante sagen, „Soll er von der Affäre wissen! Ein Mann mehr oder weniger.“
„Und dann? Wie hat er reagiert?“, fiepte Melody an Grace gewandt.
„Scheidung.“ Joshua meldete sich hinter mir zu Wort. „Er will sich scheiden lassen. Komm, ich mag mit dir reden.“

Das Rennrad meines Meerschweinchens drehte sich immer schneller, bis Chipper kaum mehr mithalten konnte. Die Pfötchen rasten über das Gitter des Rades, und seine Knopfaugen schauten mich trotz der Anstrengung liebevoll an.
„Hast du dein Zimmer neu gestrichen?“, bemerkte Joshua, der sich verwundert umsah.
Die Tapete trug nun eine hellrote Farbe, und sogar den schmutzigen Teppich hatte ich herausgerissen und einen weißen legen lassen. Man konnte meinen, eine Schneedecke zöge sich über den Zimmerboden. Auch die Möbel hatte ich neuerkauft. Alles aus eigener Tasche finanziert. Wie in Trance war ich vor der Schule durch die Straßen gepilgert und hatte mich über den Regen ausgelassen, der meine Haare struppig in alle Richtungen abstehen ließ. Aber es hatte sich gelohnt und ich hatte bei der Einrichtung nicht aufs Geld achten müssen.
„Ich? Streichen?“ Ich spielte schockiert. „Bitte, ich lasse streichen. Mein Zimmer gefiel mir nicht mehr. Es war mir zu dunkel.“
„Sieht ziemlich neumodisch aus“, meinte Joshua und begutachtete die Einrichtung.
Er setzte sich neben mich aufs Bett, welches leicht nachgab. Inzwischen hatte ich Chipper aus seinem Höllenrad befreit und ihn auf meinen Schoß verfrachtet, wo er eine Streicheleinheit nach der anderen genoss.
„Den hab ich noch nie gesehen.“
Ich streichelte über Chippers flauschiges, schwarz-braunes Fell und übergab ihn an Joshua, der ihm unsicher auf den Kopf tätschelte.
„Hab ich ihn dir nicht vorgestellt?“, fragte ich überrascht, „Den hab ich schon seit Jahren. Das einzige männliche Wesen, was einem zuhört, wenn man mit ihm spricht.“
Ich lächelte, und strich dem Meerschweinchen erneut über das Fell.
„Wie niedlich, der Hamster.“
„Es ist ein Meerschweinchen.“ Ich beäugte Joshua misstrauisch. „Ein Schweizer Teddy Meerschweinchen.“
„Wie niedlich, das Meerschweinchen.“
Wir schwiegen uns eine Weile an. Mir fiel es immer schwer ein Thema zu finden, bei dem ich nicht neunzig Prozent Gesprächsanteil haben würde.
„Kennst du Lestat Moran?“, sprudelte es plötzlich aus mir heraus.
Zunächst schien Joshua erstaunt, doch dann ging er auf meine Frage ein.
„Mister Lestat Moran? Der hat bei uns auf der Straße gewohnt. Ein paar Tage, dann ist er umgezogen.“
„So kurz?“
„So kurz“, wiederholte Joshua, „Er zieht ständig um. Es gibt keinen Grund dafür. Wahrscheinlich gefiel ihm unsere Schule nicht oder unsere Straße. Oder die Mädchen waren ihm nicht hübsch genug.“
„Oh.“ Für einen Moment sank ich zusammen, dann richtete ich mich wieder auf. „Mochtest du ihn?“
„Ich habe nicht mit ihm geredet. Wahrscheinlich konnte er an den Jungs auch nichts Interessantes finden“, vermutete er, „In Geschichte saß ich neben ihm.“
Das kannte ich. Mit mir hatte er während Englisch auch nicht viel gesprochen. Nichts Freundliches jedenfalls.
„Er ist drei Jahre älter und hat den selben Kurs wie ich besucht“, berichtete Joshua.
„Er ist siebzehn?“ Ich hatte im Kopf nachgerechnet. Für in etwa so alt hatte ich ihn gehalten. Damit war er zwei Jahre älter als ich. „Hat er nicht gut mitgearbeitet?“
Joshua lächelte zunächst, dann verdrehte er die Augen.
„Meine Nachbarin hat ihn den Klassengeist getauft. Er war da, aber irgendwie auch nicht. Sein Handy war das einzige, zu dem er Kontakt aufgenommen hat.“
„Sag mal, Josh, bist du eifersüchtig auf Lestat?“, fragte ich ihn direkt. Es war nur ein Gefühl, denn solche Sätze über eine für ihn ziemlich unbekannte Person kannte ich von ihm nicht. „Ist was vorgefallen zwischen euch?“ Da steckte mehr dahinter und ich liebte Intrigen. Ich wollte, dass Joshua mir von ihnen erzählte. Angel sagte immer, dass nur ich so neugierig wäre und an jeder Lebensgeschichte mitwirken wolle, aber ich glaube, das liegt im Wesen des Menschen. Was andere verheimlichten, die Dinge, die sie verdrängten und von denen sie niemandem erzählten, sie interessierten mich ungemein. Jeder Mensch war wie eine Spielkarte und man sah bloß die Rückseite. Um das Ganze zu sehen, musste man die Karte umdrehen. Es würde Spaß machen, Lestat umzudrehen und zu erfahren, was er im Verborgenen hielt.
„Du kannst es dir denken.“ Joshua suchte auf seiner Jeans nach nicht vorhandenen Flusen. „Na ja, es gab da dieses Mädchen, das ich nach der Schule gesehen habe. Es waren nur ein paar Worte, die wir ausgetauscht haben, und die für sie wohl nichts bedeuteten.“ Er schnippte die Scheinfussel von seiner Hose und sucht nach weiteren. „Sie war in der Hinsicht etwas lockerer als ich. Sie hat mich mal in eine Disco verschleppt.“
„Du warst tanzen?!“
Ich wurde hellhörig.
„Natürlich nicht aus eigenem Antrieb. Ich konnte es ihr nicht abschlagen… egal, zumindest blieb es bei dem einen Treffen. Weißt du, was passiert ist?“
„Sie stand auf Lestat?“, vermutete ich.
„Schlimmer. Sie war mit ihm zusammen.“ Er schlug sich vor den Kopf. „Ausgerechnet sie!“
Ein Stechen. Fast hätte ich zugegeben, dass ich mit ihm fühlen konnte, aber diese Blöße wollte ich mir nicht geben.
„Mach dir nichts draus“; tröstete ich ihn halbherzig.
„Das musst du sagen! Du stehst genauso auf den Typen.“
„Quatsch. Ich bin da etwas farbiger veranlagt.“
Joshua rückte ein Stück zu mir rüber.
„Wenn du lügst, wandert dein Blick durch den ganzen Raum.“ Verdammt. „Tu mir einen Gefallen.“
„Welchen?“
„Verrenn dich bitte in Nichts.“
Ich wollte die Karte nur umdrehen. Es war komisch. Alles mit Lestat war komisch. Ich wollte, dass er normal mit mir redete. Und dass er mich toll fand. Ich wollte mir beweisen, dass ich selbst einen Grufti dazu bringen konnte, mich zu mögen. Der Gedanke an sich war zugegebener Maßen ein wenig selbstsüchtig, aber ich glaube auch das liegt im Wesen des Menschen. Es war wie ein Spiel. Eine Herausforderung, die ich annehmen wollte.
„Selbst seine Familie hat er vergrault.“ Fast konnte ich ein Lächeln auf Joshuas Gesicht erkennen. „An unserer Schule grassierte das Gerücht, dass er keine lebenden Verwandten mehr habe. Während der drei Tage fand ein Elternsprechtag statt, und weder seine Mutter noch sein Vater sind erschienen.“ Joshua verschränkte die Arme vorm Brustkorb. „Niemand hat jemanden außer ihm und seiner Freundin das Haus verlassen sehen. Die beiden haben sich den ganzen Tag darin abgeschottet. Für die Schule kamen sie nach draußen, danach verschwanden sie wieder ins Haus als ginge der Tag danach zu Ende.“
Das war mehr als komisch. Ich hielt es für selbstverständlich, dass man zunächst die Stadt und die weitere Umgebung erkundete, wenn man in eine neue Gegend zog. Aber er war eben ein Klassengeist, jemand, der keinen Wert darauf legte, für andere sichtbar zu werden.
„Joshua, komm, wir gehen!“, hörte man Grace schrill von unten her nach ihm rufen.
„Ja, Mutter, einen Moment noch!“

Gelangweilt blätterte ich die Seite des Kinderbuches um und deutete mit dem Finger auf die bunte Zeichnung eines Bauernhofes.
„Guck mal Emi, eine Katze!“ Emily saß fröhlich strampelnd auf meinem Schoß, suchte im Bild nach der Katze. Ihr warmer Körper schmiegte sich ganz nah an meinen. „Und wie macht die Katze?“
Nachdenklich beäugte meine Schwester das Bild, fuhr mit dem Finger über das getigerte Kätzchen, das vor dem Scheunentor saß.
„Mjau mjau mjau!“, lallte sie mit einem Mal munter drauf los.
Lächelnd verwuschelte ich ihre hellbraunen Locken, fragte weiter: „Und was ist das für ein Tier?“
Ich zeigte auf eine quietschgelbe Ente, die zu einem Wasserloch watschelte und dabei von einer ganzen Schar kleinerer Enten verfolgt wurde.
„Huhn!“
„Och nein, Emi, ein Entchen.“
Mit diesen Worten legte ich das Kinderbuch beiseite und setzte Emily auf einer vor dem Fernseher ausgebreiteten Krabbeldecke ab.
„Enteschen“, sprach sie mir mit kindlichem Tonfall nach und griff nach dem Plüschhund mit den Schlappohren, den ich vor sie gelegt hatte.
Ein paar Minuten sollte sie sich alleine beschäftigen.
Mutter hatte mich beauftragt auf Emily aufzupassen, weil sie und Vater am späten Nachmittag zum Essen ausgegangen waren. Melody sei noch bei Denise, hatte sie mir erklärt, und so war ich die Einzige, die zugegen war. Ich wollte gerade in die Küche gehen, um ein Fläschchen für Emily aufzuwärmen, als plötzlich das Klingeln des Telefons ertönte. Ich lief zur Fensterbank, auf welcher der Apparat vor sich hin vibrierte.
„Hallo Samantha, hier spricht Benjamin.“
„Hi Ben, was gibt’s?“
Benjamin hatte mich noch nie zu Hause angerufen. Vermutlich hatte er sich nie getraut, was nicht zuletzt an den vielen Gerüchten lag, die an der Schule umhergingen. Scheinbar sagte man sich, Benjamin sei in mich verliebt, was ich für eine absolut abwegige Idee hielt. Dennoch hatte es ihm den Mut genommen, auf mich zuzugehen. Die Leute redeten viel und freuten sich, wenn es jemandem zum Belächeln gab. Mir sollte es egal sein, ich machte es ja genauso.
„Ich wollte…“, begann er unsicher.
„Sprich dich aus, Ben.“
„Hast du, äh – bist du mit den Vorbereitungen für dein Physikreferat zu Ende?“
„Das hab ich völlig vergessen! Aber der Abgabetermin ist eh erst in drei Tagen.“
„Wenn es in deinem Interesse wäre, könnte ich dir einen Besuch abstatten“, bot mir Benjamin an, „Dazu gibt es wegen der Band einiges zu besprechen. Thema des Referats ist die Reihenschaltung, nicht wahr?“
„Ich habe ehrlich gesagt keinen Plan wie dieses Ding funktioniert. Magst du übermorgen vorbeikommen?“
„Da hätte ich Zeit. Zeit habe ich immer. Die Frage ist nur, ob ich sie bereits für andere Zwecke benötige.“
„Übermorgen benötigst du sie aber nicht für andere Zwecke?“, versuchte ich seine komplizierte Formulierung zu wiederholen.
„Nein, Donnerstag steht nichts an. Wenn jemand bereit ist, an sich zu arbeiten, unterstütze ich ihn gerne.“
„Das wäre lieb von dir!“
„Nichts zu danken.“
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, legte ich auf. Ich platzierte das Telefon wieder auf der Fensterbank und wollte gerade zurück ins Wohnzimmer gehen, da glaubte ich, jemandem vom Fenster weghuschen zu sehen. Wie lange hatte er da gestanden? Er, mit dem schwarzen Haar. Für einen Moment erstarrte ich, als wäre das Bild eingefroren. Er war es gewesen, ganz sicher. Lestat.
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Alt 18.08.2008, 18:56   #13
labahannes
 
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hallo fuenkchen, die geschichte macht weiterhin spaß zu lesen
es tut mir ja leid aber mir ist wieder ein klischee oder eher gesagt eine parallel zu einem bekannten werk eaufgefallen: die tante harry potter 3 oder so

naja ansonstne isse wirklich gut

noch was am rande,heißt es nicht "miau,miau,miau"?

Mfg johannes
labahannes ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.08.2008, 19:32   #14
Dave
 
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Bin gespannt auf die Fortsetzung :-)

Liebe Grüße
Dave
Dave ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.08.2008, 11:34   #15
weiblich Orange
 
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Hi Fuenkchen!

Du hast zwar schon Kommentare, aber das hilft dir jetzt nichts.
Ich entdecke mit der Tante keine Parallelen zu Harry Potter, ich meine es gibt ja recht viele Tanten auf der Welt, also nicht so super unwahrscheinlich.

Das mit dem Mjau ist mir auch aufgefallen, ich finde es passt. (Habe ich nach kurzer Rücksprache mit meiner Katze beschlossen...)

Was mir total gut gefällt ist, dass du das Gefühl deiner ich-Erzählerin gegenüber Lestat nicht als romantische Liebe beschreibst sondern als eine Herausforderung, als ein Spiel.

Allerdings finde ich baust du mit deinen Beschreibungen von Lestat, das Klischee des "dunklen Unbekannten" weiter auf.

Mir gefallen auch deine Personen und die Dialoge, sie sind richtig plastisch und realistisch.

Außerdem habe ich noch eine kleines Problem: Beschreibst du nicht im ersten Kapitel, dass deine Protagonistin mit dem Auto in die Schule fährt? Oder habe ich das falsch in Erinnerung? Auf jeden Fall schreibst du hier das sie erst 15 ist, also auch in den US, noch zu jung für einen Führerschein. Oder fährt sie ohne Führerschein?

Viele Grüße
Orange
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Alt 22.08.2008, 15:01   #16
labahannes
 
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ich glaube in einigen Teilen der USA ist das Autofahrne schon ab 14 erlaubt(kann mich aber auch irren)
zu der Tante: es ist nic hdie tante sondern die schreckliche Tante iwie aber naja das macht den text ja nich deutlich schlechter.
labahannes ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.08.2008, 17:20   #17
Fuenkchen
 
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Hallo Orange!

Zu deinem Problem: labahannes hat das schon richtig erkannt. In einigen Teilen der USA ist das Autofahren ab 14 erlaubt, hab mich vorher danach erkundigt Ich bitte dich, Sammy würde nie ohne Führerschein fahren

Zitat:
Allerdings finde ich baust du mit deinen Beschreibungen von Lestat, das Klischee des "dunklen Unbekannten" weiter auf.
Dazu muss ich mir später auch noch was einfallen lassen. Wie du erkannt hast beschreibe ich das Ganze als Spiel. Dachte, es dadurch wenigstens ein bisschen in eine andere Richtung lenken zu können.

Freut mich, dass deine Katze mir zustimmt :-) Sie scheint mir sehr sympathsich zu sein.

Dass dir die Personen gefallen ist für mich das größte Kompliment. Du kennst das sicher selber, dass sie einem als Schreiberin nach einiger Zeit total ans Herz wachsen - und es ist schön zu hören, dass sie auf dich real wirken.

Liebe Grüße,
Fünkchen.
Fuenkchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.08.2008, 12:05   #18
Fuenkchen
 
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Standard Kapitel 3

Kapitel 3

Verschlafen blinzelte ich durch die Dunkelheit. Etwas hatte sich verändert. Mein Zimmer lag nach wie vor im Düsteren, nur ein wenig Licht fiel hinein. Ich benötigte einige Sekunden, um zu registrieren, dass das Fenster einen Spalt geöffnet war. Durch den Luftstrom bewegt schlackerte die Gardine wie Algen im Meer leicht hin und her. Ich schob die Bettdecke beiseite, schlaftrunken, wollte aufstehen und das Fenster schließen. Schwerfällig saß ich auf der Bettkante, denn es fällt weiß Gott nicht leicht, sich in einem solch von Müdigkeit erschöpften Moment aus dem Bett zu bewegen, da erhellte plötzlich ein weiteres Licht mein Zimmer. Diesmal war es die Nachttischlampe, die von einer Person, die leicht über das Bett gebeugt vor mir stand, betätigt worden war. Zuerst wollte ich schreien, da erkannte ich Lestats Gesicht. Mein Wunsch loszukreischen verstärkte sich.
„Was suchst du denn hier?“
Er sah sich im Zimmer um, reagierte nicht auf meine Frage. Dann richtete sich sein Blick auf mich und er hielt mir seine Hand entgegen.
„Verbrecher spielen.“ Er zwinkerte. „Ich muss sagen, dein Zimmer ist nicht gerade einbruchsicher. Gitterstäbe vor den Fenstern würden sich gut machen – obwohl, die würden mich auch nicht aufhalten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und jetzt kommst du mit.“
War das ein Traum? Es musste einer sein. Unmöglich, dass Lestat mitten in der Nacht durchs Fenster in mein Zimmer einstieg, um mich irgendwohin zu verschleppen. Meinte er das ernst? Wie in Trance nahm ich seine Hand. Sie war echt. Es war kein Traum. Ich spürte die kalte Handinnenseite, die meine Hand umfasste. Die Kälte verwandelte sich in Wärme und floss wie Lava durch den Arm in meinen Bauch, in meinen Rücken, floss durch meinen ganzen Körper. Ich glaubte zu glühen. Er glühte. Wir glühten. Auf einmal wurde mir schwindelig, und ich schloss die Augen. Alles schien sich in rasendem Tempo zu drehen. Während ich den Boden unter den Füßen verlor, spürte ich Lestats festen Griff. Dann hielt alles inne.
Ich öffnete die Augen, nahm die Umrisse eines Saales wahr, an dessen hinterster Wand sich ein ellenlanges Bücherregal erstreckte. Es war, als würde ich vom Ufer aus in einen Teich blicken. Ich konnte alles erkennen, aber das Bild war verschwommen und undeutlich. Um mich herum waren Menschen, die sich mehr oder weniger kontrolliert unterhielten. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Neben mir Lestat, der meine Hand losließ. Wie sich das anfühlte! Als würde ich fliegen, nichts, was mich am Boden hielt. Hinter mir endlose Leere, und für einen Moment glaubte ich, schwerelos zu sein. Dann ein unangenehmer Druck auf meinen Ohren, und alles drehte sich erneut. Ein Rauschen, ein ohrenbetäubendes Rauschen.
Ich befand mich wieder in meinem Zimmer. Im Schlafanzug saß ich auf dem Bett, meine Füße waren eisigkalt. Vor mir lag die umgeschlagene Decke, keine Spur von Lestat. Ich setzte einen Fuß auf den Boden, da glaubte ich, alles würde sich auf den Kopf stellen. Der Raum kippte, und ich kippte mit! Mir war schwindelig, alles war verkehrt, verdreht, und wenige Sekunden später befand ich mich wieder in dem Saal, zusammen mit Lestat und den Unbekannten. Diese Schwerelosigkeit! Die Luft kribbelte unter meinen Füßen wie Brause.
„Sie schafft es hierher. Es klappt tatsächlich“, hörte ich Lestat sagen.
Die Worte waren nicht synchron mit seinen Mundbewegungen, sodass ich nicht wusste, ob wirklich er es war, der da sprach.
„Können wir mit ihr arbeiten?“, fragte ein Mann ihm gegenüber mit tiefer Stimme, „Wird es nicht zu Komplikationen kommen?“
„Dazu kann es immer kommen, immerhin ist es das erste Mal, dass sie hier ist.“
Es war ruhig. Der Raum verschwamm mehr und mehr vor meinen Augen.
„Einen Versuch ist es wert“, meinte der Mann nach einiger Zeit. Erst jetzt fiel mir sein britischer Akzent auf. „Es ist unsere letzte Chance.“
Daraufhin meldete sich Schneewittchen hinter ihm zu Wort. Das Mädchen, das ich vor der Schule gesehen hatte, das Mädchen von der Party.
„Lasst uns was anderes probieren.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Es bringt nichts. Im Gegenteil, das gibt Probleme. Große Probleme. Jemand soll sie zurück bringen, in ihrem Alter gehört man zu der Uhrzeit ins Bett.“
„Fahr mal die Krallen ein, Kätzchen.“ Lestat tätschelte ihr den Kopf und Schneewittchen verstummte.
„Was soll der Aufstand, Lorraine?“, erkundigte sich der fremde Mann gelassen.
„Vielleicht hat sie sich Tollwut eingefangen.“ Für den Spruch kassierte Lestat einen Schlag in die Seite. „Hey!“
„Ihr werdet schon sehen“, zischte das Mädchen kaum hörbar.
Dann ertönte das Rauschen, das Bild flackerte.
„Ich bring sie nach Hause“, bemerkte Lestat und sah mich an, „Sie verschwindet ständig.“
Die Zimmerdecke kam mir näher, und aus Angst davor ging ich in die Knie. Die Umgebung war inzwischen so stark verfremdet, dass ich Lestat, der mir seine Hand reichte, kaum als diesen identifizieren konnte.
„Sie hat diese glänzenden Augen. Nicht alles, was glänzt, ist Gold“, meinte Lorraine spitz und kehrte uns den Rücken zu.
Ich schloss die Augen und verlor im nächsten Moment den Halt, wirbelte umher, bis alles ruhig wurde.

„Sammy?“ Die Stimme meines Vaters weckte mich.
Es war ein Morgen wie jeder andere; Mein Vater ließ die Zimmertür offen stehen, ging in die Küche zu meiner Mutter, die im Morgenmantel am Tisch saß und die Todesanzeigen studierte, während ich halb unter meinem Bett lag… Unter meinem Bett?! Ruckartig sprang ich auf und stieß prompt mit der Schulter gegen das Bettgestell. Jetzt war ich wenigstens wach. Ich sah zum Fenster herüber. Es war geschlossen, gerade so, als wäre nie etwas gewesen. Doch ein Blick zur brennenden Nachttischlampe verriet, dass ich falsch lag. Was hatte ich unter meinem Bett zu suchen? Mit dem Schlafwandeln hatte ich mit elf Jahren aufgehört. Getrunken hatte ich auch nichts… oder? Ich kratzte mir am Kopf. Was war geschehen, nachdem in der Nacht alles verschwommen war? War Lestat tatsächlich in meinem Zimmer gewesen? Mühselig rappelte ich mich auf und knipste das Licht der Nachttischlampe aus.

Vorsichtig parkte ich den Citroën zwischen einem brüchigen Lada und einem Kleinwagen. Nach dem Frühstück war ich auf direktem Wege zur Schule gefahren, die nun vor mir in den trüben Himmel aufragte. Als ich den Parkplatz überquert und in die Pausenhalle eingetreten war, erspähte ich Benjamin und Cassandra, die, auf einer Holzbank sitzend, die Hausaufgaben verglichen. Ich wurde in die Diskussion über den Graph mit der Scheitelpunktform 4 (x+2)²-10 miteinbezogen, ob ich wollte oder nicht. Benjamin erklärte uns die Hausaufgaben so lange, bis ich noch weniger verstand als zu Beginn. Aber das hatte Mathe an sich, entweder man verstand es oder man würde es nie verstehen. Sollte ich Benjamin sagen, dass es mich nicht interessierte? Vermutlich wäre er dann enttäuscht. Manchmal fiel es schwer, zu entscheiden, ob man ehrlich oder freundlich sein sollte. Glücklicherweise wurde mir die Entscheidung abgenommen.
„Huch!“ Es wurde dunkel.
„Na?“
„Ryan?“
„Bingo“, meinte der, und die Hände vor meinen Augen verschwanden.
Mit einem Blick nach hinten stellte ich sicher, dass wirklich er es war. Er stand dort, in seiner Hand ein weißer Zettel.
„Für mich?“, wollte ich wissen und griff nach dem Stück Papier, „Das ist aber süß von dir!“
„Ah ah ah, ich muss dich enttäuschen!“ Ryan hielt den Zettel extra weit entfernt von mir hinter seinem Rücken versteckt. „Ich verkünde.“ Er nahm eine aufrechte Haltung ein, räusperte sich und hielt sich das Blatt so nah vor die Augen, dass es fast seine Nasenspitze berührte.
„Spiel dich nicht auf“, forderte ich lachend und schubste ihn leicht.
„Schon gut.“ Er setzte zu einer Rede an. „Ich stelle euch die verschiedenen Disziplinen für den Sporttag am Mittwoch vor. Angeboten werden; Kugelstoßen, Speerweitwurf, Sprint, Weitsprung und Wettbewerbe wie der Sit-up-Wettkampf, das Basketballspiel, das Volleyballspiel und Klettern. Natürlich steht auch der heißgeliebte Langlauf zur Auswahl.“
Mir graute es vor dem Klettern, zu dem mich Ryan und die anderen hundertprozentig nötigen würden.
„Langlauf“, ächzte Cassandra, „Als würde ich mir freiwillig die Füße wund laufen. Nein danke.“
Da hatte sie Recht. Langlauf, das bedeutete sportlichen Selbstmord. Langlauf, das war der Weg zur Hölle von mehreren tausend Metern.
„Wer mitmacht, der kriegt von mir höchstpersönlich eine Fußmassage verpasst“, bot Ryan an.
„Ui, das klingt gut. Vielleicht kann man sich dabei sogar entspannen“, neckte ich ihn.
„Was willst du damit andeuten?“
„Nichts.“ Ich grinste. Während unserer Beziehung waren seine Massagekünste durchaus verbesserungsfähig gewesen.
„Beim Langlauf steck ich euch in die Tasche.“
Ich musste mir eingestehen, dass er ziemlich trainiert war, und vielleicht würde er dieses Jahr gewinnen. Ich wusste, dass er sich lange darauf vorbereitet hatte. Ihm ging es weniger darum, seine Sportlichkeit unter Beweis zu stellen, als viel mehr darum, dass ihm alle zujubeln würden, würde er das Ziel als Erster erreichen.
„Und Lestat, den puste ich sowieso weg“, fügte er siegessicher hinzu. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde immer breiter, „Gruftis gehören in den Keller und nicht auf den Sportplatz.“
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Alt 24.08.2008, 16:31   #19
Fuenkchen
 
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Ohne sie zu falten stopfte ich die Sportkleidung nach dem Tanzunterricht in meine Tasche, die zur Unterbringung meiner Schuhe viel zu klein war. Dies hatte ich meiner Mutter zuzuschreiben, die ihren Einfluss auch beim Kauf der Sporttasche angewendet hatte, womit die Wahl auf die preiswertere der beiden gefallen war. Sie fühlte sich dazu auserkoren, überall ihre Ansichten durchzusetzen.
„Für was hast du dich eingeschrieben?“, erkundigte sich Angel, die neben mir stand, und belustigt meinen Kampf mit der Sporttasche und den Tanzschuhen betrachtete, „Für’s Kugelstoßen?“
In der ersten Stunde bei unserer Klassenlehrerin waren Listen durch die Reihen gereicht worden, in denen man sich für die Sportdisziplinen anmelden konnte. Außerdem waren wir, wie sollte es einen Tag vor dem jährlichen Sporttag anders sein, wieder mit Informationen überschüttet worden. Was wir alles mitbringen sollten, wann wir uns trafen, wo wir uns trafen und, und, und. Wie jedes Jahr waren dieselben Fragen gestellt worden, und wie jedes Jahr gab es auch an diesem Tag dieselben Antworten wie immer. Hauptsache es blieb weniger Zeit für den eigentlichen Biologieunterricht.
„Bist du lustig“, meinte ich unter großem Ächzen, mich bemühend, den Reißverschluss der Tasche zu schließen, „Cassy hat mich ‚aus Versehen’ für’s Klettern eingeschrieben. Das war Absicht. Nach gestern weiß sie genau, dass das lebensgefährdend ist.“
Angel lachte bei der Erinnerung an die Stunde auf.
„Es schaute aber zu süß aus, wie du geguckt hast, als das Ding runtergekracht ist“, meinte sie neckisch.
„Ich erinnere mich an nichts“, leugnete ich, meiner Freundin die Zunge rausstreckend, „Aber du und das Kugelstoßen. Warum machst du jedes Jahr mit? Geglänzt hast du noch nie dabei.“
Angel, die es leid war, mein Schauspiel mit der Sporttasche zu beobachten, nahm die Tanzschuhe und drückte sie mir in die Hand.
„Hey, sag nichts, Superman wäre auf meine Leistung neidisch gewesen“, sagte sie ironisch, „Ich sag nur Kletterwand. Lass das auf dich wirken; Kleeeetteeerwand.“
Das war wohl wieder eines dieser Dinge, mit denen man mich bis an mein Lebensende aufziehen würde. Später am Sterbebett würde man mich noch daran erinnern. Zumindest Angel würde das tun.
„Angie, Angie, Angie. Warte nur, ich werde Weltmeisterin im Klettern.“ Ich hängte mir die Sporttasche über die linke Schulter und spürte sogleich, wie mir der Träger in den Hals schnitt und mich zu erwürgen drohte. So war es gewesen, Sporttasche gegen mich – Nun ja, die Sporttasche hatte gesiegt. „Hach, und es wird keiner mehr sagen „Guck mal, das ist doch das Mädchen von der Kletterwand.““
„Ich befürchte, es ist wahrscheinlicher, dass Cassy Ryan rumkriegt“, bedauerte Angel, „Du bist ’ne lebende Legende. Wie kann man so schusselig sein und die Befestigung vom Kletterdingsda lösen? Außerdem gibt’s gar keinen Preis für’s Klettern, glaub ich.“
„Unsinn, den muss es geben“, verlangte ich, „Sonst führ ich ihn ein.“

Fünf Minuten später saßen wir an unserem Stammtisch in der Kantine, zusammen mit den anderen aus unserer Gruppe. Hauptthema war natürlich Lestat, der auffällige Typ, dem Angel den Decknamen Fred gegeben hatte.
„Nochmal, warum nennen wir ihn Fred?“
Cassandra biss von ihrem Käsebrot ab. Als Angel uns über den neuen Namen des Schülers aufgeklärt hatte, hatte sie sich gleich verschluckt, sodass Ryan sie mit ein paar groben Schlägen zurück ins Leben rufen musste.
„Cassy, das ist doch logisch“, meinte Angel kopfschüttelnd, „Stell dir vor, er kriegt raus, dass wir oder besser gesagt ich immer von ihm reden.“
„Stell dir vor, er kriegt raus, dass er Fred heißt.“ Ich musste schmunzeln. Das wäre ein Szenario. Angel würde sich in Grund und Boden schämen und am Ende Cassandra und mich dafür verantwortlich machen, weil wir sie nicht davor bewahrt hatten. „Fred. Das passt überhaupt nicht zu ihm. Kein Fred würde rumlaufen wie ein Toter.“
„Woher willst du wissen, was Fred anziehen würde? Kennst du Fred denn?“ Angel war mitten in ihren irrsinnigen Gedankengängen, da wollte ich sie nicht unterbrechen. Das Mädchen sollte Philosophin werden und Geld dafür verlangen. „Fred ist Kult. Das muss Schicksal sein.“
Verträumt sah sie zu ihm rüber. Den Kopf stützte sie mit den Händen ab, den Blick auf Lestat, die Attraktion, gerichtet. Der saß, wie am vorherigen Tag, alleine an einem Tisch am anderen Ende der Kantine. Eindringlich starrte Angel ihn an. Dass andere sie komisch von der Seite anschielten, interessierte sie nicht. Mir fiel keine Weise ein, wie sie hätte auffälliger sein können.
„Kennt jemand das Mädchen neben mir? Ich stell sie zum Verkauf frei.“
„Wie schön, dass er hier ist“; erklärte Angel, „Mit… mir.“
„Und zweihundert anderen Schülern“, meinte Ryan weniger begeistert.
„265“, korrigierte ich ihn.
Seufzend träumte Angel weiter, ging nicht auf die Kommentare der anderen ein.
„Das kann kein Zufall sein.“ Widerstrebend schüttelte sie den Kopf. „Es ist ein Zeichen!“
Sie drehte völlig durch. So war sie immer, wenn sie verliebt war. Ich hoffte, dass dies nicht allzu oft der Fall sein würde. Kein Mensch war so anstrengend wie sie.
„Er ist zur fünften Stunde gekommen“, merkte Cassandra an, die wie gewohnt über alles bescheid wusste.
„Erst zur fünften?!“, fragte Angel entsetzt, „Wahrscheinlich findet er unsere Schule absolut öde. Also, wenn ich so wäre wie Lestat, dann wäre ich derselben Meinung. Wir sind alle unter seinem Niveau und können uns nicht vorstellen, wie es sein muss, so zu sein wie er.“
„Boah, Angel!“, ermahnte Ryan sie und schlug mit den Händen auf den Tisch. Es polterte laut und klang wie der Donner zu Beginn eines Gewitters. „Lestat ist mit Sicherheit nicht der einzige coole Typ an unserer Schule – und wenn du auf Untote stehst, dann geh auf den Friedhof.“
Wie geistlos. Wenn Ryan sauer war, sank das Niveau für gewöhnlich. Wenn Angel sauer war, kam jede Rettung zu spät. Sie riss die Augen weit auf, überrascht über eine solche Reaktion.
„Was ist denn bei dir kaputt?!“, fuhr sie ihn an, „Komm mir nicht mit der billigen Tour. Neidisch, huh? Weil du niemanden interessierst, weil du uninteressant bist.“
„Täusch nur ich mich oder schmecken die Spaghetti heute anders als sonst?“, versuchte ich ungeschickt vom Thema abzulenken. Ich holte Angel zurück. Sie hatte sich bereits über den Tisch zu Ryan gelehnt.
Cassandra kicherte. „Ich muss Ryan zustimmen. Niemand gehört auf ein Podest gestellt.“
„Das Leben ist kein Ponyhof“, stellte Angel klar, „Das ist harter Konkurrenzkampf, Schätzchen. Ist mir scheißegal, was ihr denkt!“
Ich drückte Angel wieder in ihren Stuhl und wandte mich Benjamin zu, darauf hoffend, dass er etwas sagen würde.
„Sich wegen einer Nichtigkeit wie dieser zu streiten, macht keinen Sinn, und falls es doch einen macht, dann jenen, keinen Sinn zu haben.“ Wie gut, dass man immer auf ihn zählen konnte. „Worte sind Worte, Taten sind Taten. Solange den Worten keine Taten folgen, sind diese nichts wert. Ich schlage ein anderes Thema vor.“
Für einen Moment war es still, wie immer, wenn Benjamin so etwas vom Stapel ließ. Ich wusste, dass er mit dem, was er sagte, Recht hatte.
„Wie ist Physik gelaufen, Sammy?“, löste Cassandra die Anspannung, „Hat dich Ms Bale wegen des Referates angesprochen?“
Dankbar für die Wendung des Gesprächs, bejahte ich: „Sie erinnert mich jeden Tag daran. Die Frau wartet nur darauf, mir den Kopf abhacken zu können.“
„Das ist - “, begann Cassandra, als Denise, Melody und Natasha an unserem Tisch erschienen und mit ihrer bloßen Anwesenheit das Gespräch abwürgten.
„Halli hallo!“, näselte Denise. Ihre Stimme war so penetrant, das man sie automatisch zu ignorieren versuchte, wenn sie den Mund aufmachte. Melody und Natasha standen neben ihr, eine links, eine rechts, wie Leibwächterinnen. Wie sonst auch setzte Denise dazu an, das Wort der drei zu führen: „Ein verlorenes Jungenherz ist keiner Träne würdig.“
Ich wusste, dass sie allein mit der Absicht angetreten war, Angel in Wut zu versetzen. Angel selbst schien dies nicht zu bemerken, denn sie ging sofort auf sie ein und lockte somit ein befriedigtes Lächeln auf Denise’ Gesicht hervor.
„Denny Mausi, mach ’nen Abflug oder muss ich dir dabei helfen?“, spottete meine Freundin leicht gereizt.
„Schluss, Ende, Aus.“ Ryan hob kapitulierend die Hände. „Wenn die jetzt auch noch kommt, ist die Sache gelaufen. Das könnt ihr nicht mit mir machen!“
Er stand auf und verließ die Gruppe. Cassandra zögerte keine Sekunde und folgte ihm.
„Was ist dein Plan, Angel?“, wollte Denise wissen, „Was startest du wegen dem Herren dort drüben?“
Lestat hatte längst registriert, dass über ihn gesprochen, ja gestritten wurde, denn er blickte zu Denise herüber, die mit dem Finger auf ihn zeigte. Peinlicher konnte es kaum werden. Wie konnte ich so tun, als hätte ich mit dem ganzen Geschehen nichts zu tun? Lestat beachtete uns nicht weiter. Nur mich sah er eine Weile fragend an. Komisch, er sah gar nicht sauer aus.
„Du bist aber keine Frau der großen Worte“, flötete Denise, als Angel sich bemühte, sie zu ignorieren.
„Was schlägst du denn vor?“
Man merkte, wie sehr Angel sich beherrschen musste, nicht ausfallend zu werden.
„Schmeiß dich an ihn ran.“ Denise setzte einen fordernden Blick auf. „Wir wollen Action sehen! Du hast doch so eine große Klappe. Oder nein, lass es bleiben, deine Chancen stehen eh gleich null.“
„Haha“, lachte Melody wie auf Kommando, als wäre Denise’ Aussage in irgendeiner Weise lustig gewesen.
Triumphierend lächelte Denise und fügte hinzu: „Die Arme. Sie ist von der Angst vor einer Abfuhr wie gelähmt.“
Angel machte eine wegwerfende Handbewegung, stand dann gemächlich auf und schob den Stuhl an den Tisch.
„Träum weiter, Denny Mausi. Mach’s vor. Große Worte spucken kann jeder.“
Melody und Natasha warfen sich hinter ihrem Vorbild unsichere Blicke zu. Denise versprach sich doch nicht ernsthaft eine Chance bei Lestat… Barbiepüppchen trifft auf Grufti, war alles, was mir dazu einfiel.
„Uhh, ist da jemand ungläubig?“, erkundigte sich Denise und ihre Sicherheit schien nicht verloren gegangen zu sein, „Komm mit, Engelchen. Ich zeig dir, auf was die Jungs abfahren.“
Kaum hatte sie den Satz beendet, drehte sie sich um und stakste auf ihren mit Glassteinchen besetzten Peeptoes durch die Kantine, geradewegs auf Lestat zu. Die Absätze klackerten auf dem Boden. Dieser Cheerleaderverschnitt; lange Beine, spitze Gesichtszüge und ein strahlendweißes Lächeln. Sie machte die Schulkantine zu ihrem Laufsteg. Die Schüler blieben um uns herum stehen und betrachteten das seltsame Bild plötzlich aufkommenden Übermutes, das Denise zweifelsohne bot. Mit gerunzelter Stirn folgte ihr Angel durch den Gang, den die anderen Schüler und Schülerrinnen inzwischen gebildet hatten. Zögernd lief auch ich den beiden nach, noch immer nicht im Klaren darüber, was in diesem Moment in Denise krankem Köpfchen vor sich ging. Lestat nahm zunächst keine Notiz von Denise und dem, was auf ihn zu kam. Ich kam mir vor wie bei einem Truppenmarsch. Als wäre ich Soldat und würde in den Krieg ziehen. Erst, als Denise sich übertrieben selbstbewusst vor Lestats Tisch positionierte, schaute dieser bedächtig auf.
„Hi Lestat!“ Was für eine Barbiestimme. „Wie geht’s?“
„Hallo“, meinte Angel kleinlaut und scharrte mit dem Fuß über den Boden.
Lestat wirkte von Denise’ Auftritt nicht sonderlich angetan. Misstrauisch sah er sich um, erkannte, dass ihn alle musterten. Unter seinem Blick setzten die Zuschauer schlagartig das fort, was sie getan hatten, bevor Denise das Aufsehen aller erregt hatte; die Totenstille, die bis eben geherrscht hatte, wurde durch das gewohnte Tuscheln im Hintergrund ersetzt, und die jüngeren Schüler rannten wie zuvor wild durch die Kantine.
„Hmm.“
Lestat stand auf und stellte sich vor Denise. Sein Blick ging an ihr vorbei, bis er auf mich fiel. Eindringlich betrachtete er mich, und ich bekam Angst, er würde in dem Ganzen einen Streich sehen, für den ich verantwortlich war. Im Endeffekt lag die Schuld immer bei mir. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis die unruhig gewordene Denise unseren Blickkontakt trennte.
„Ich hab gestern in meine Kristallkugel geschaut.“ Sie klatschte in die Hände. „Ich sah uns bei mir zuhause. Heute Abend schauen wir zusammen DVDs, was hältst du davon?“
Sein Kopf schnellte zu ihr herüber.
„Ach“, meinte er etwas perplex, und man konnte ihm anmerken, dass er nicht im Geringsten auf sie geachtet hatte, „Was ist los?“
Genauso hatte sich seine Stimme im Traum angehört, und diese Tatsache ließ mich darüber grübeln, ob es sich um mehr als nur eine Illusion handeln konnte.
„DVD-Abend? Heute? Bei mir?“
Denise klang ungeduldig.
„Bei dir?“
Ungläubig zog er die Augenbrauen hoch.
„Oder ich komm zu dir, du hast die Wahl“, bot sie ihm an und ging einen Schritt auf ihn zu.
Unglaublich, dass sie auf Männerfang ging, nur um Angel den einen Jungen wegzuschnappen, den sie interessant fand. Denise’ Hand legte sie auf seine Schulter. Lestat schüttelte sie sofort wieder ab.
„Ich schlag vor, du schaust bei dir mit dir und ohne mich DVDs“, machte er ein Gegenangebot und nahm einen Schritt rückwärts.
Erschüttert klappte Denise’ Mund auf. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Was? Bist Besseres gewöhnt, ja?“, erkundigte sie sich empört.
„Ähm, er hat eine Freundin“, warf ich zögerlich ein, wodurch Lestats Blick erneut auf mich fiel.
„Ja, stimmt“, bestätigte er, zog dabei jedoch aus einem mir unbekannten Grund die Schultern hoch.
„Das spielt keine Rolle. Ich bekomm alles, was ich will. Jeden, den ich will. Und dich kriege ich auch!“
Das klang wie eine Drohung. Eingeschnappt stampfte Denise davon, gefolgt von Melody und Natasha. Angel fixierte den Boden und fummelte nervös an ihren Fingern herum. Ich hatte das Bedürfnis, mich für Denise’ Verhalten zu rechtfertigen. Lestat musste uns für völlig verrückt halten!
„Sorry, sie ist heute ein bisschen komisch. Sie hat neue Medikamente gegen ihre Stauballergie verschrieben bekommen. Wahrscheinlich verträgt sie die nicht.“
Innerlich gab ich mir eine Ohrfeige. Für ihn war sie wahrscheinlich nicht die Einzige, die seltsam wirkte. Ich erinnerte mich an die Sportstunde und fragte mich schreckhaft, ob er wohl von der Sache mit der Kletterwand erfahren hatte. Nicht auszudenken, wenn! Vermutlich blamierte ich mich mit Allem, was ich sagte, umso mehr. Eingeschüchtert von diesem Gedanken war ich damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich mich schnellstmöglich aus der Kantine verdrücken konnte. Besser wäre, ich müsste ihm nie wieder unter die Augen treten. Ich könnte umziehen, mich von der Schule abmelden, niemand würde wissen, dass -
„Sie ist… anders“, antwortete er.
Sehr redselig war er ja nicht. Meinen Gesprächsanteil würde er jedenfalls nicht maßgeblich senken. Ich drehte mich um und schlich Richtung Kantinenausgang. Uff, dachte ich beschämt, also das war wieder eine Meisterleistung.
Fuenkchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.08.2008, 17:09   #20
Fuenkchen
 
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Jetzt aber. Nein, fast. Er hatte dazu angesetzt, den Mund aufzumachen, oder? Vermutlich nicht. Von allen Redeverweigerern war er der Schlimmste. Wie in der letztens Englischstunde, beschäftigte sich Lestat ausschließlich mit seinem Handy. Dazu roch er so unverschämt gut. Joop, wenn ich mich nicht irrte. Und das im Unterricht. Ich beschloss, keine Typen zu mögen, die sich für den Unterricht einparfümierten. Frustriert erledigte ich wenigstens meinen Teil der Arbeit und schrieb eine Charakteristik über eine Figur, die in dem zu behandelnden Roman die Rolle des Mörders übernahm. Ms Paine, die heute mit überaus kurzem Rock und einer weißen Strumpfhose darunter zum Unterricht erschienen war, stand an der Wandtafel und erklärte die Aufgabe.
„Tschanz ist also der Mörder“, informierte sie uns und genoss es sichtlich, dass alle Augen der männlichen Kursteilnehmer auf ihre ellenlangen Beine gerichtet waren, „Allerdings ist er nur ein Mittel zum Zweck. Das ist die Behauptung, die ich aufstelle. Ich möchte, dass sie in der Charakterisierung ausführlich erläutert wird. Gut, ihr könnt anfangen.“
Sie rückte sich den Stuhl vorm Lehrerpult zurecht und nahm Platz. Ich warf einen Blick auf meinen Tischnachbarn, der offensichtlich nicht eine Sekunde dafür aufgebracht hatte, der Lehrerin zuzuhören und im Gegensatz zu den anderen Schülern auch an ihren Beinen nicht interessiert war. Seufzend nahm ich meinen blauen Federhalter aus dem Mäppchen vor mir und notierte zunächst Datum und Überschrift auf einem linierten Blatt. Die anderen Kursteilnehmer verfielen auf der Stelle in eine ruhige Arbeitsphase; manche überlegten gemeinsam mit ihrem Nachbarn, was sie schreiben konnten. Plötzlich geschah etwas, womit ich nie gerechnet hätte – Lestat legte das Handy beiseite. Angespannt las er sich die Aufgabenstellung an der Tafel durch, die Ms Paine dort mit sorgfältiger Handschrift angeschrieben hatte. Er nahm einen Stift zur Hand und sah auf das noch leere Blatt vor sich. Jetzt konnte es ja losgehen, ging es mir durch den Kopf – doch dann legte er den Stift wieder beiseite und holte sein Handy zum wiederholten Male hervor. Es piepte nervig.
„Das kann nicht wahr sein!“, heulte ich lauter als gewollt auf und klappte innerlich zusammen.
Die gesamte Klasse starrte mich an, als sei ich nicht völlig beisammen. 26 Augenpaare fixierten mich – ich hätte im Erdboden versinken können! Wieso musste ich mich so blamieren? Das war doch nicht mehr menschlich. Lestat musste mich inzwischen für eine Versagerin halten! Peinlich berührt sah ich zu ihm herüber, der blickte weiter auf sein Handy, wirkte auf mich allerdings so, als bemühe er sich vergeblich darum, nicht in einen Lachanfall auszubrechen. Der hatte ja doch Emotionen. Noch immer war alles um uns still. Es schien, als könnte sich Lestat kaum beherrschen. Urplötzlich sank er vor Lachen auf seinem Tisch zusammen und konnte sich nicht mehr einkriegen.
„Du bist so genial!“, hörte ich ihn keuchen, als sein Kopf auf die Tischplatte sank.
Er lachte noch immer. Egal, wie düster Menschen wirkten, sobald sie lachten, wurde es im Raum ein Stückchen heller. Die anderen konnten nicht aufhören, uns anzustieren, als wären wir nicht von dieser Welt. Jetzt kam ich mir beschränkt vor. Garantiert hatte er etwas gegen mich. Immerhin lachte er gerade über meine Dummheit.
„Leute“, begann Ms Paine unschlüssig, nachdem sie uns eine Weile beobachtet hatte, „Macht bitte mit eurer Arbeit weiter! Und Lestat, das ist nicht der Moment für Flirtspiele irgendeiner Art. Versuch den Testosteronspiegel unten zu halten.“
Lestat räusperte sich.
„’Tschuldige, ging nicht anders.“
Die Blicke lösten sich von uns, und ich wandte mich Lestat zu, der sich inzwischen aufgerichtet hatte. Er biss sich auf die Lippen und starrte geradeaus, sich bemühend, nicht erneut zu lachen.
„Wir müssen reden“, bestimmte ich.
„Ich habe das befürchtet.“ Seine Augen verengten sich. „Ihr Frauen seid alle gleich. Ich kann mit euch nichts anfangen. Immer muss man reden. So viele Probleme kann es gar nicht geben!“
Mein Gott. So viel hatte er noch nie am Stück geredet. Und der war wirklich männlich…?
„Du hast eine Freundin, du musst damit umgehen können.“
Lestat grinste.
„Frag mal meine Freundin.“
Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare.
„Ich stell dir eine Frage, okay?“
„Gut.“
Er schaltete sein Handy aus. Wow, ich hatte seine Aufmerksamkeit erlangt. Wie hatte ich das denn angestellt?
„Hast du was gegen mich?“
„Würde es dich stören, wenn ich was gegen dich hätte?“, stellte Lestat die Gegenfrage und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich.
Egal, wie er guckte, er war einfach mystisch. Selbst jetzt, wo er meiner Frage auswich, glich er einem Engel. Na okay, mit schwarzen Haaren und grauen Augen. Einem schwarzen Engel.
„War klar, dass ich von dir keine normale Antwort kriege.“ Ich tat so, als würde ich mich der Aufgabe widmen, konnte mich aber nicht konzentrieren. „Willst du eine Antwort dadrauf?“
„Wolltest du gerade eine haben?“, kam die Gegenfrage.
„Nein“, meinte ich verärgert.
Ich kritzelte irgendwelche Worte auf das Blatt Papier vor mir. Der war anstrengender als Angel. Das musste ich ihr erzählen.
„Also doch“, schlussfolgerte er ganz ruhig.
„Wie kannst du das behaupten?“
Ich regte mich darüber auf, dass die Wut in mir aufstieg und in meinem Kopf pochte.. Man konnte es auch kompliziert machen.
„Du bist eine Frau und du schreist“, meinte der dunkle Engel leichthin.
Ms Paine kam zu unserem Tisch, sodass ich mich dazu zwang, gelassen zu wirken, auch, wenn mir der Ärger geradezu ins Gesicht geschrieben war. Ich hasse ihn, fluchte ich innerlich. Tat ich das? Der Kerl war jenseits von gut und Böse.
„Jetzt aber ruhig, ihr beiden!“, verlangte die Englischlehrerin, weswegen ich mich von Lestat abwendete und auf mein Schreibblatt blickte.
Die Lehrerin ließ wieder von uns ab. Sie war nicht eine derjenigen, die sofort Strafen verteilten, wenn man sich falsch verhielt. Dennoch hatte sie die Klasse gut unter Kontrolle. Auch Lestat sah wieder auf sein Blatt.
„Nerv ich dich?“, fragte er ohne aufzusehen, und man konnte das verborgene Vergnügen, das ihm diese Frage bereitete, kaum überhören.
„Und wie!“, entgegnete ich spitz.
Lestat lächelte zufrieden.

„Bist du noch sauer?“, fragte ich Ryan behutsam, als wir nach der Schule auf dem Hof standen.
„Nee, passt schon“, meinte der versöhnlich, „Mich stört es nicht, dass Angel jetzt auf dem Gleis fährt. Das ist mir ziemlich egal.“
Ich hörte ihm nur halb zu, denn mit meinen Gedanken war ich ganz woanders. Ich wartete auf sie. Auf das Mädchen vom vorherigen Tag, das mir diese Nacht auch im Traum erschienen war. Momentan rührte sich noch nichts. Lestat stand wieder am anderen Ende des Schulhofes mit seinem Handy in der Hand. Er telefonierte.
„Was ist es denn, was dich stört?“, hakte ich nach, während ich verzweifelt nach meinem Autoschlüssel suchte.
„Du hast es aber mit deinem Schlüssel, was?“ Er lachte. „Na ja, mich stört, dass du genauso denkst wie Angie. Was der Typ an Aussehen hat, fehlt ihm im Kopf.“
In diesem Moment betrat das Mädchen, welches der fremde Mann in meinem Traum Lorraine genannt hatte, den Schulhof, auch mit einem Handy ans Ohr gepresst. Wie konnte man diesen Anblick nur beschreiben? Sie wirkte wie von einem dunklen Schleier umgeben; die langen Beine, die glänzenden Haare und ihre Bewegungen, die ein wenig denen einer Katze ähnelten.
„Du, sorry, ich bin weg“, haspelte ich und warf mir meine Schultasche über den Rücken.
Zeit, die Karte umzudrehen. Ryan entdeckte nach dieser voreiligen Verabschiedung sofort Lestat, und als ich über den Schulhof eilte, erkannte ich aus den Augenwinkeln, wie Ryan den Kopf schüttelte. Ich lief ein paar Meter weiter auf die Tannen zu, vor denen Lestat stand. Inzwischen hatte Lorraine ihn entdeckt und trippelte auf ihren High-Heels auf ihn zu, noch immer mit dem Handy am Ohr. Mir wurde bei ihrem Anblick ganz kalt. Zwar regnete es nicht, aber sommerliche Temperaturen herrschten lange nicht mehr. Trotzdem, sie trug einen Mini und ein Netztop. Als Lestat sie bemerkte, klappte er sein Handy zusammen und umarmte sie zur Begrüßung. Ihre Hände legten sich um seinen Hals, und ich musste mir eingestehen, dass die beiden besser zusammen passten als Angel und er. Dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr. Nach einer Weile kam ich mir ziemlich dumm vor, dass ich da stand und die beiden beobachtete. Worauf wollte ich eigentlich hinaus? Hatte ich kein eigenes Leben? Ich fühlte mich wie ein Privatdetektiv, der sich selbst angeheuert hatte. Ich wollte mich gerade umdrehen, um die Aktion zu beenden, da sah ich wie Lorraine aufgeregt zu gestikulieren begann. Wie ärgerlich es doch war, wenn man so weit entfernt stehen musste und nichts verstand. Lestat suchte den Schulhof nach irgendetwas ab. Sein Blick hielt bei mir an, und er nickte in meine Richtung.
Fuenkchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.10.2008, 11:27   #21
blumenmädchen
 
Dabei seit: 10/2008
Beiträge: 17


hey fuenkchen...
mein kommentar kommt wohl ein wenig spät, aber ich habe das Poetry gerade erst entdeckt...
tja die anderen haben ja schon den großteil an konstruktiver kritik vorweg genommen und so bin ich nur noch über folgende stelle gestolpert:...waren noch genauso unausstehlich wie die Lehrerin, die sie unterrichtete. Besagte Lehrerin...-also einfach ne Wortwiederholung, zB erstetzbar durch "Person" oder so...
ansonsten hat mir das lesen riesenspaß gemacht und deshalb stürtze ich mich jetzt auf kapitel 2
blumenmädchen ist offline   Mit Zitat antworten
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