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Alt 21.05.2005, 16:48   #1
Schreiberling
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 6


Standard Ein Engel auf Abwegen

Der kleine Engel saß – nachtein, nachtaus – auf seinem Stern und blickte hinab auf die Millionen Lichter der Erde. Wie sehr wünschte er sich doch, einmal dorthin fliegen zu können und die Menschen zu besuchen. Doch die Eltern des kleinen Engels hatten es ihm strengstens verboten, da es angeblich zu gefährlich sei.
Doch in dieser Nacht wollte der kleine Engel sich über die Anweisungen der Eltern hinwegsetzen und einen kleinen Ausflug zur Erde machen. Er wollte all die glücklichen Menschen sehen, die er sich immer vorstellte. Die Menschen auf Erden mussten einfach glücklich sein, sie hatten schließlich alles, was das Herz begehrte.
Der kleine Engel schaute sich um, ob ihn auch niemand bemerkte und machte sich dann schnell auf den Weg.
Der Flug war lang und anstrengend. Nach einer kleinen Zwischenlandung auf dem Mond setzte ich der kleine Engel erschöpft auf einen Schornstein. Aufmerksam blickte er sich um. Überall waren Lichter und Lampen. Wie kleine Sterne sahen sie aus. Häuser türmten sich auf. Eins neben dem anderen. Und laut war es auch. Nach einer kurzen Verschnaufpause machte der kleine Engel sich auf den Weg, die Welt weiter zu erkunden. Er flatterte durch Straßen und Häuserschluchten. Unter ihm liefen Menschen. Lachende Menschen. Manche grölten auch ganz furchtbar. Dem kleinen Engel war das alles nicht ganz geheuer und so ließ er sich erst einmal auf einem hochgelegenen Fensterbrett nieder. Zuerst blickte er stumm in die Nacht, doch plötzlich hörte er ein leises Schluchzen. Erstaunt blickte er sich um. Woher kam dieses Schluchzen? Er drehte sich um und schaute neugierig in den Raum, der hinter dem Fenster lag, an das er sich gerade gelehnt hatte. Da saß jemand auf einem Bett. Zusammengekauert. Und schluchzend. Dem kleinen Engel wurde ganz schwer ums Herz. Warum war dieser kleine Erdling denn nicht glücklich? So glücklich wie alle anderen Erdlinge auch? Warum saß dieses Mädchen dort, erfüllt von Trauer? Der kleine Engel war erstaunt. Noch nie war er selber traurig gewesen und so recht konnte er sich darunter auch nichts vorstellen, doch jetzt, wo er diese weinende Gestalt dort sitzen sah, wusste er plötzlich ganz genau, was Traurigkeit bedeutete.
Der kleine Engel fasste einen Entschluss. Er wollte diesem traurigen Menschen unbedingt helfen. Der kleine Engel machte sich so klein wie möglich und zwängte sich vorsichtig durch den Fensterspalt. Leise flatterte er auf das Bett zu. Alles war so fremd in diesem Raum, aber dennoch strahlte es eine gewisse Vertrautheit aus. Der kleine Engel ließ sich neben dem Mädchen auf dem Bett nieder. Das Mädchen bemerkte ihn nicht. Der kleine Engel betrachtete es. Noch nie hatte er einen Menschen aus der Nähe gesehen. Ein ausgemergelter Körper, versteckt unter weiten Klamotten. Die langen, dunklen Haare fielen dem Mädchen ins Gesicht, sodass der kleine Engel die Augen nicht sehen konnte. Seine Eltern hatten dem kleinen Engel einmal gesagt, dass man, wenn man den Menschen lange genug in die Augen blickte, seine Gedanken lesen könnte. Der kleine Engel war fasziniert von der traurigen Gestalt, die neben ihm kauerte. Er traute sich kaum zu atmen, um das Mädchen nicht zu erschrecken. Aber was machte dieses Mädchen so traurig? Der kleine Engel wollte es unbedingt wissen.
Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen. „Schau mich an“, flüsterte er. Das Mädchen neben ihm zuckte zusammen und hob ruckartig den Kopf. Der kleine Engel blickte in ein tränennasses Gesicht. Ein schmerzverzogener Mund und große, glasige Augen,. Ganz tief blickte er in diese Augen. Der Erdling regte sich nicht. Starrte ihn nur an, mit einem leeren Blick. Langsam drangen die Gedanken des Mädchens zum kleinen Engel vor. „Ich werde müde... Gleich ist es vorbei... Hoffentlich finden sie mich jetzt nicht... Ich habe extra die stärksten Schlaftabletten genommen, die ich gefunden habe...“ Der kleine Engel erschrak. Was hatte dies zu bedeuten? Warum tat dieses traurige Mädchen das? Die Antwort auf seine Frage folgte sogleich durch die Gedanken des Mädchens: „Er hat mir wehgetan... Er hat mir meinen Körper genommen... Warum hat er das getan? Ich kann nicht mehr...“ Die Gedanken des Mädchens wurden schwächer. Langsam schloss es die Augen. Der kleine Engel verlor die Verbindung. Langsam legte das Mädchen sich hin. Der kleine Engel blieb sitzen. Sanft legte er seine kleine Hand auf den Arm des Mädchens. Es hatte beschlossen die Welt zu verlassen. Eine traurige Welt voller Schmerz und Pein. Plötzlich verspürte der kleine Engel ein Gefühl, das er ebenfalls nicht kannte. Er fühlte Wut. Der kleine Engel war zornig. Zornig darüber, dass man dem kleinen Geschöpf nicht geholfen hatte. Und jetzt lag es neben ihm, langsam dahingehend. Er sah, wie das Heben und Senken der Brust des Mädchens immer schwacher wurde. Der kleine Engel blieb sitzen. Er konnte es nicht retten, aber er wollte es auch nicht alleine lassen. Er schaute in das Gesicht des Mädchens. Ein hübsches Gesicht. Dieser Mund hat mit Sicherheit früher einmal gelächelt. Der kleine Engel würde alles dafür geben, das Mädchen einmal lächeln zu sehen. Doch dazu war es jetzt zu spät. Vollkommen ruhig und bewegungslos lag das Mädchen da. Kein Atemzug mehr. Stille.
Der kleine Engel nahm die seine Hand nicht vom Arm des Mädchens. Er fühlte sich so unendlich von Trauer erfüllt.
Plötzlich hörte er einen zarte Stimme hinter sich. Eine vertraute Stimme.
Er drehte sich um. Hinter ihm schwebte ein kleines Engelsmädchen. Ein lächelndes Engelsmädchen. „Erkennst du mich nicht?“, fragte es sanft lächelnd. Der kleine Engel traute seinen Augen nicht. Das war das Mädchen. Das Mädchen, deren toter Körper so friedlich neben ihm lag. Der kleine Engel schwebte langsam auf das Engelsmädchen zu. „Du bist es“, flüsterte er. Das Engelsmädchen nickte und griff nach der Hand des kleinen Engels. Gemeinsam schwebten sie durch das Fenster, hinaus in die Nacht. Sie machten sich auf den Weg zum Stern des kleinen Engels, um sich dort niederzulassen und die Erde aus der Ferne zu beobachten.
Sie wollten nie wieder Schmerz, Trauer oder Wut spüren und wagten sich nie wieder zurück auf die Erde.
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Alt 22.05.2005, 15:00   #2
Silent Winter
 
Dabei seit: 04/2005
Beiträge: 224


Wunderschön und bittersüß... Nicht zu beschreibend oder genau geschrieben, nicht zu offen gelassen... Klingt wie eine Kindergeschichte, ich würde sagen so... grundschulniveau, was aber garnicht zum Inhalt passt. Trotzdem einfach toll. Inhaltlich.. bitter. Aber wunderschön... *herzchen mal*
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