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Alt 08.09.2011, 01:05   #1
weiblich Philo so Fisch
 
Dabei seit: 09/2011
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Beiträge: 9


Standard einmal durch den Tunnel und wieder zurück

Ursula schaltete einen Gang zurück und wurde langsamer. Der Regen schien sich mit jedem Augenblick noch zu verstärken. Der nächste Tunnel war ungewöhnlich lang. Trotzdem war die andere Seite, wo sie endlich ankommen sollte, schon von weitem zu sehen, zunächst so klein, als blicke man durch den nur punktgroßen Kreis in der eigenen Faust. Sie fuhr noch langsamer. Die Tunnelstraße war so gerade, dass sie fast gar nicht auf das Lenken zu achten brauchte. So blieb das Ende des Tunnels gleichmäßig im Bild, sich kaum merklich vergrößernd. Es hatte tatsächlich etwas von einem Bild, dermaßen unräumlich wirkte, was sich dort an dem Lichtloch im großen Schwarz zeigte. Dass es dort hinten hinaus ins Freie ging, war das nicht vielleicht nur eine Täuschung? Ein Miniaturdia, grell und überbelichtet stand da vor ihr, auf eine völlig finstere Fläche projiziert. Für einen sehr langen Augenblick machte es den Eindruck, sie führe gar nicht mehr, käme nicht mehr von der Stelle, als sei sie sogar aus dem Raum geraten, schwerelos zwischen den Sternen und gleich käme das Aus. Seltsamerweise verstärkte sich dieser Eindruck noch mit dem schließlich Sich-Vergrößern des Tunnelausgangsbilds.

Größer und immer Größer bewegte die kunterbunte Fläche sich auf sie zu, in der rein gar keine Bewegung erschien. Schon zeichneten sich Büsche und endlich auch Gräser ab, wie überdeutlich ausgeleuchtet, lebensechter als lebensecht, und dazu noch wie in Überlebensgröße. Bloß blieben alle Einzelheiten starr. Wo war man? War man überhaupt noch wo? Und das Loch nahm nun beinahe schon die ganze Bildfläche ein, genauso starrendbunt wie am Anfang. Jetzt einige Meter vor dem Verschlucktwerden, rückten die dunklen Tunnelwände auseinander in den Raum und die Gräser und Laubflächen gerieten nach allen Himmelsrichtungen hin in Bewegung, wie aus einem Bann gelassen. Umso freier bewegte sie sich jetzt, im Moment des Austritts aus dem Tunnel und in die Weite hinein.

Ursula hatte fast vier Stunden lang auf einem Stuhl neben ihrem Zimmerfenster gesessen und in den Himmel hinausgestarrt, der immer finsterer wurde, und schließlich war sie eingeschlafen, das Gesicht seitlich gegen die kalte Fensterscheibe gepresst, die Brille schief auf der Nase. Der trübe Beschlag, den ihr Atem auf dem Fenster hinterlassen hatte, glänzte im orangeroten Schein der Straßenlaterne draußen, und durch das künstliche Licht verlor ihr Gesicht alle Farbe. Die Uhr, die sie ums Handgelenk trug zeigte eine Minute vor elf. Gleich würde der Pfleger kommen und den letzten Kontrollgang machen.

Jede Nacht findet er Ursula beim letzten Kontrollgang auf dem Stuhl vor dem Fenster vor. Ursula spricht nicht mehr viel, seit ihr Mann letztes Jahr gestorben ist, sie murmelt nur hin und wieder unverständlich vor sich hin. Und sie will niemandem erzählen warum sie sich nicht an die Heimregeln hält und um neun Uhr im Bett ist, sondern die ganze Nacht in die Sterne starrt.
Der Minutenzeiger der Armbanduhr erreichte die Zwölf und pünktlich öffnete sich die Tür zu Ursulas Zimmer und der Pfleger stand mit grimmiger Miene im Türrahmen und wollte sie ins Bett schicken. Langsam wurde ihm klar, dass das wohl der allerletzte Kontrollgang war, bei dem er Ursula am Fenster sitzend sehen würde.
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