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Alt 16.06.2008, 16:04   #1
WuselSassi
 
Dabei seit: 06/2008
Beiträge: 8


Standard Selbsterkenntnis, oder: Nix ist anders.

Die Stimmung ist billig- melancholisch. Fast wie die von kitschigen Landschaftsbildern, bei denen man, auf städtischen Flohmärkten, geneigt ist sie zu kaufen, weil sie so schlecht, also schon bald wieder gut, sind.
„Früher war nicht alles besser, aber anders.“, sagst du oft, und: „Deine Biographie ist nur so lange etwas besonderes, wie sich niemand darin wiederfindet.“ *War es nicht angenehm, als die Klamotten noch so richtig scheiße aussahen, weil die Eltern sie gekauft hatten?*, lese ich.
*In deiner Kindheit war erst eine Brille eine mittelschwere Katastrophe und nicht schon ein einziges Wort. Es reichte zu sagen „Oh, ich habe gewiss eine sechs“ um dazu zu gehören – auch wenn du wusstest, dass es im schlechtesten Fall auf eine 2+ im Diktat über den Doktor und den kranken Hund hinauslaufen würde.
Freunde verlor man im Streit, den Hosenknopf auf dem Spielplatz und die eigene Haut wenn man vom Fahrrad fiel und über den heißen Asphalt schlitterte. Das Fahrrad mit 21 Gängen, das größte Geschenk der Welt! Und dieses Gefühl als bei der ersten Kommunion Gott noch so nah war, wie das Holz der Kirchenbank und so real, so selbstverständlich.
Mit 5 Mark Taschengeld konnte man richtig gut angeben und von den Gummibärchen die man sich kaufte hatte man niemals viel, da man mit vollen Händen an die besten Freunde verschenkte um den nicht-besten-Freunden zu zeigen, wer die besseren waren. So ein bisschen unschuldige Schadenfreude.
Doch dann kam sie, diese Zeit, viel zu schnell, in der du dich fühltest wie die Steine die du kurz zuvor noch über das Wasser hast springen lassen. Gut genug zum wegwerfen und selbst dazu manchmal die falsche Wahl.
Die Realität überfiel dich, drang in dich ein und zeigte dir die ehemals so faszinierende Welt der „großen Kinder“. Dein Pathos wuchs quasi ersichtlich für deine komplette Außenwelt und alle wussten: „Da kommt eine Pubertätsopfer!“. Ja, es stand dir quasi auf der Stirn geschrieben.
Erkenntnis als schmerzhafter Prozess. Schmerzhafter noch als die Erkenntnis: Der Weg dorthin.
Freundschaften, die nicht dem Streit erlagen und dann, Wissens beider Seiten, beendet waren, sondern die sich im Schweigen suhlten, langsam dahinsiechend, einen üblen Geruch hinterlassend, einfach so davon starben, egal welche Anstrengungen man zur Rettung unternahm.
Nein, Menschen vertragen sich nicht immer und leben dennoch weiterhin zusammen, stecken sich und ihre Umwelt immer wieder erneut mit pathogenem Hass an. Ein „auf wiedersehen“ ist doch viel öfters ein „auf Nimmerwiedersehen“, als man bisher glaubte.
Du bist NICHT beliebt, weil du dein bestes gibst oder einfach nur du bist und alte Regeln sind im Nachhinein nicht viel mehr wert als der Dreck unter dem Rand einer Kloschüssel. Was blieb dir, als deine kindliche Wahrnehmungswelt, diese Jahrelange Arbeit, aus deinen Händen geweht wurde und sich zu den tausenden anderen Kinderwelten gesellte, die der Wind mit sich getragen hatte?
Du bist so austauschbar wie niemand sonst und das macht dich besonders.
Wenn du nicht so sein kannst, wie die anderen, dann sei eben anders als sie!*, steht da.
*Nur um hinterher wieder so zu sein, wie noch Jemand.
Jeder hat einen bösen Zwilling. Nur wer sagt dir, dass du der Gute bist? Was tust du um deine Meinung zu rechtfertigen? „Ich brauche kein Argument, ich bin selbst eins!“
Du suchtest dein Heil und die Erklärung für all die Missstände im Glauben, im Gegenteil deines Glaubens und in der Ablehnung von derlei Mumpitz und am Ende blieb als letztes Wissen, dass sowohl Antwort A, als auch Antwort B richtig sein könnten.*
Ich klappe das die schwarz-rote Kladde zu. Versonnen beobachte ich die Staubkorner die, Goldstaub gleich, zwischen den braunen Umzugskartons, im Sonnenlicht tanzen. Billig-melancholisch, wie gesagt. Ich lächel versonnen.
Irgendwo schreien und lachen Kinder um die Wetter. Ich suche in den Plastiktüten nach einem Stift und setze ihn an der Stelle an, wo meine Erinnerung in dem weiß der Seiten untergeht.
*Aber irgendwie ist doch alles anders. Egal was war, es war nicht so schlimm, wie es schien – oder? Irgendwann versankest du dann doch vollkommen im Selbstmitleid. Um Platz für Neues zu schaffen brauchte es Trümmer. Viele Trümmer. Aber diese Erkenntnis, wie es scheint die Wichtigste, kam zugleich als die Letzte und Endgültigste. Als finale Konsequenz eines jugendlichen Protestes gegen die Welt, die Veränderung, die Umwelt, das Elternhaus.
Du fandest Neues in den Tiefen deiner geheimen Freude am unglücklich sein. Neue Erkenntnisse, mehr Wert als die zuvor so betrauerte verlorene Unschuld und Kindlichkeit.
Nur durch deine Kompensationsversuche bist du das geworden, was heute aus dem Spiegel mit einem ach so kecken und dreisten Lächeln der Welt entgegen strahlt.
Dekadenz und Arroganz beißen sich mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Selektive Auswahl der Leute, denen man die eine oder andere Seite zeigen möchte.
Das Gewissen beeinflusst durch verschiedene Quellen, als höchste Instanz des eigenen Handelns. Kein Gott, kein Teufel, kein „Etwas“.
Die Ansammlung von schönen Erinnerungen und die Hoffnung auf mehr solch grandioser Ereignisse als ultimatives Lebensziel.
Woran es bei dir lag? Woran es lag? Vielleicht lag es daran, dass das Gefühl der Ohrfeige, die dir dein Vater gab, in dem Stolz unterging, seiner besoffenen Visage Widerworte gegeben zu haben.
Vielleicht lag es daran, dass das Verstümmeln deiner Körperteile keine Sucht, sondern nur Spaß war und du so schnell aufhören konntest, wie du angefangen hattest.
Vielleicht lag es daran, dass direkt der zweite Kerl mit dem du in die Kiste gehüpft bist, nicht mit dir zusammen war. Und du es auch gar nicht wolltest.
Vielleicht war es das Marihuana, vielleicht war es der Alkohol, vielleicht die Zigarettenstummel.
Vielleicht waren es all die Kerle, die dir neben oben genannten auch noch das Gefühl von Attraktivität gaben.
Vielleicht war es deine große Liebe, die kam und ging und die zweite große Liebe, die dich von all dem wieder befreite.
Vielleicht war es die Musik, die deinem Leben Sinn gab, die Freunde die mit ihr kamen, der Stolz auf die guten Noten, die Gedanken, die du dir machtest, der Hochmut, der kam als du dich „älter“ als die Anderen fühltest, vielleicht war es dein Dickkopf.
Und nun sitzt du alleine da, aber glücklich. Mit 17 in der eigenen Wohnung, im eigenen Leben, mit der Liebe eines Menschen und der Intelligenz eines Mädchens, dass immer noch gerne in Selbstmitleid versinkt. Vielleicht, so denkst du manchmal, sollte ich nicht so arrogant tun. Vielleicht sollte ich einfach zeigen, wie es manchmal in mir aussieht. In den Stunden, wo ich weiß, dass mich hier Niemand besuchen wird, außer meiner Liebe. Vielleicht sollte ich mal zeigen, wie dumm ich mich eigentlich fühle. Vielleicht, so denkst du, sollte ich aufhören Maskerade zu spielen, wie ein Clown durch die Welt zu rennen. Vielleicht, so denkst du auch oft, sollte ich aufhören zu jammern.

Und so geschieht es auch.“
Ich klappe die Kladde zu. Eine Stunde ist verstrichen. Mein Stil hat sich verändert, meine Gedanken sind im Grunde die selben. Ich bin zu stolz und will es nicht wahrhaben. Also stecke ich die Kladde ganz hinten in das neue Bücherregal – und warte auf den nächsten Umzug.
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