Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 15.03.2014, 10:04   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.173


Standard Die Firma

Wenn der „Alte“ im Haus war, ging die Kunde davon wie ein Lauffeuer durch die Abteilungen und es wurde mucksmäuschenstill. Niemand bemerkte, wann er kam und wann er ging, denn sein Büro lag am Anfang des rechtwinkligen Flurs, in dessen Ecke sich lediglich die Buchhaltung befand. Erst danach, in linker Richtung, reihten sich die anderen Büroräume an.

Er war ein Mann von hohem Wuchs und kräftiger Statur und immer korrekt gekleidet, dunkler Anzug mit dezenter Krawatte, obwohl er längst im Ruhestand war und gedachte, das Unternehmen demnächst seinem Sohn zu übertragen. Im Sommer war seine Haut tief gebräunt und kontrastierte stark mit seinem weißen Haar. „Der ist an allen Stellen braun“, kicherte die Belegschaft dann hinter vorgehaltener Hand, denn in den prüden sechziger Jahren traute sich noch niemand, öffentlich das Wort „FKK-Strand“ auszusprechen. Wahrscheinlich war das aber nur eine Erfindung, ein harmloser Witz des kleinen Mannes, um einen Gegenpol zur großherrschaftlichen Aura des „Alten“ zu setzen; denn dessen Erscheinung war imposant und von gottgegebener Autorität.

Er blieb nie lange, und auch seine Sekretärin, die offensichtlich mit ihm alt geworden war, tauchte nur sporadisch aus ihrem Rentendasein auf, um sein Büro auf den neuesten Stand zu bringen.

Die Belegschaft wartete sehnsüchtig auf frischen Wind. In den sechziger Jahren herrschte Aufbruchsstimmung, und man sah die Zeit gekommen, die Firmenleitung dem Junior zu überlassen. Trotz aller Ehrfurcht vor dem „Alten“: Die Zeit des Patriachats war definitiv vorbei. Ohnehin lag das Wohl und Wehe in den Händen des Direktors, einem fünfzigjährigen erfahrenen Hasen, der gleichzeitig Leiter der Betriebsvorbereitung und des Verkaufs war.

In jenen Tagen verstanden sich die Mitarbeiter beinahe als eine Familie. Die meisten von ihnen waren schon eine Ewigkeit im Unternehmen, einige hatten privat Kontakt und waren per Du. Es gab aber auch gewisse Heimlichkeiten.

Da war zum Beispiel der Leiter der Lohnbuchhaltung, ein kleiner, untersetzter Mann, dem niemand ein Abenteuer zugetraut hätte. Trotzdem wusste jeder, dass er seine Mittagspausen in der Betriebswohnung nebenan bei der Frau eines Kollegen verbrachte, der es vorzog, kettenrauchend in seinem Büro in der Modellabteilung zu bleiben und sich neue Kreationen für Damenschuhe auszudenken. Dass der Lohnbuchhalter nicht nur zum Mittagessen bei seiner Freundin war, zeigte sich spätestens an jenem Tag, an dem er vergessen hatte, die Hosenträger unter seinem Pullover am Bund festzumachen, und ihm beim Betreten seines Büros die Hosen runterrutschten. Die Geschichte machte eine Woche lang die Runde.

Und die kleine Pummelige aus der Buchhaltung, die für das Buchen der Belege zuständig war. Weil die Buchungsmaschine einen Höllenlärm machte, stand sie in einem gesonderten kleinen Raum. Dort verbrachte Pummel, grundsätzlich in einen blaugrauen Arbeitskittel gekleidet, viele Stunden mit ihren Belegen. Weil sie sich selten außerhalb dieser Kammer blicken ließ, bekam niemand mit, dass sie schwanger war. Verursacher war eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft. Vater des Kindes wurde der Fahrer des Direktors, ein großer Mann mit Fernandel-Gesicht und Sonnengemüt, der seine Beschützerinstinkte erwachen sah und Pummel rechtzeitig vor der Entbindung heiratete. Kommentar des Vaters (von Pummel), der im Betrieb eine Meisterstellung hatte und sich für seine Tochter abgrundtief schämte: „Die ist mannstoll!“

Aber auch ohne „Skandale“ hatten die Mitarbeiter ihre Eigenheiten. Auffällig in dieser Hinsicht erwies sich der Buchhalter, der irgendwann einmal die Leitung der Abteilung übernehmen sollte. Der Chefbuchhalter war, obwohl im Rentenalter, immer noch da und machte dem jüngeren Kollegen die Nachfolge schwer. Der fügte sich nicht nur untertänig dem Alter und den Verdiensten seines Vorgesetzten, sondern war auch sonst leicht einzuschüchtern. Wenn sich die Prüfer vom Finanzamt angemeldet hatten, badete er bis zum Termin in Angstschweiß, und während der Prüfung war er nahe daran, Selbstmord zu begehen. Wenn der „Alte“ ihn anrief, stand er zum Telefonieren auf und gab dienernd Auskunft, weil er sich beim Strapazieren seiner Halswirbel offensichtlich besser konzentrieren konnte.

Ein Kuriosum war der Leiter der Personalabteilung, in Neudeutsch: Human Resources. Ein kleines, schmales Männlein mit schütterem Haar, grauen Gesichtssprenkeln und Basedow-Augen. Er hieß Fisch. Sein Freizeitspaß war das Angeln, aber nicht aus Passion, sondern weil ihm der Arzt dies aus Gesundheitsgründen – Senken des Blutdrucks, Finden des inneren Gleichgewichts, Kontemplation und ähnlicher Märchen – empfohlen hatte. Sein Fang wanderte regelmäßig in Fremdküchen, denn Fisch aß keinen Fisch.

Einer der Stars des Hauses war der Einkäufer für die Häute: zackig, drahtig, sportlich, sonore Stimme, Schauspielergesicht, Weltumsegler. Die meisten Kaufverträge schloss er mit Händlern in Argentinien ab. Er war der Schwarm aller Lehrmädchen, neben dem nur noch der Direktor, ebenfalls ein gutaussehender Mann, aber viel älter, bestehen konnte.

Herzstück des Unternehmens war die Telefonistin. Bei ihr liefen sprichwörtlich alle Drähte zusammen. Damals, als es noch keine Beeper oder Handys gab, hatte man sich eine „raffinierte“ Technik einfallen lassen, über deren Primitivität heute herzhaft gelacht würde: In den Büros und im Betrieb waren an bestimmten Stellen jeweils drei Glühbirnen in verschiedenen Farben angebracht. Jede „wichtige“ (also in der Regel „leitende“) Person bekam eine bestimmte Farbkombination zugewiesen. Wenn jemand nicht telefonisch erreichbar war, wurde die entsprechende Farbkombination aktiviert, und wenn die gesuchte Person darauf aufmerksam wurde, meldete sie sich bei der Zentrale. Einfach, aber funktional!

Die Telefonistin hatte ihre eigene tragische Geschichte. Ihr Verlobter war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt und galt als verschollen. Nach Jahren der Werbung heiratete sie den Bruder ihres Verlobten … nach Jahren des Abfindens und einer bis dahin glücklichen Ehe stand der Verschollene plötzlich auf der Schwelle. Ihr Ehemann ließ ihr die Wahl, und sie bekannte sich schweren Herzens, aber ihrem Gewissen treu zu ihrer Ehe. Ihr ehemals Verlobter heiratete darauf hin ihre beste Freundin. Jedes Familientreffen wurde ihr von da an zur Qual.

Es gäbe noch manche Geschichte zu erzählen, aber Tatsache ist, dass weder das Unternehmen noch seine Belegschaft eine Zukunft hatten. Schon bald wurde der Markt von Billigschuhen aus dem Ausland überschwemmt. Das Unternehmen ging schließlich in die Insolvenz und wurde an einen ausländischen Bieter verkauft. Lediglich der Markenname ist geblieben, und das war das einzige, woran dieser Bieter interessiert war.

15. März 2014
© Ilka-Maria
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Die Firma



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
firma rattentod Gefühlte Momente und Emotionen 0 20.04.2006 20:44


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.