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Alt 21.12.2012, 02:35   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Das Adventsmärchen

An einem ersten Advent vor langer Zeit schickte der Stadtschmied seine kleine Tochter Auguste hinaus in den Wald zum Brennholz-Sammeln. Daran war für das Mädchen nichts Neues, war sie dieser Routine doch schon so viele Male nachgegangen und dennoch betrachtete sie es dank ihrer gottvollen Fantasie stets als ein Abenteuer. Dieses Abenteuer trieb sie an jenem Nachmittage tiefer in den gespenstischen, kargen Wald als sonst. Der Wald war an einem Hang gelegen und zum ersten Male kam sie bis zu dem Rücken der Erhebung und darüber hinaus, wo der Tannicht noch viel dichter und düsterer war. Ein wenig hatte Auguste Angst in der seelenlosen Abgeschiedenheit ganz alleine, aber ihre kindliche Entdeckungslust war größer, so dass sie immer tiefer vordrang, bis sie schließlich an einer Lichtung dunkelgraues, beinahe schwarzes Gemäuer erblickte.

Als sie näher kam, erkannte sie, dass es sich um ein altes, verlassenes Schloss handelte; zwei Türmer, einer auf der Vorderseite neben dem Tor, einer aus dem Hintergrunde in die Höhe ragend, beide mit spitzen Dächern, mit Erkern und allerlei dämonisch aussehenden Statuen verziert, warfen bizarre Schatten auf das von Efeu verschlungene Haupthaus zu Augustes Linken. Vorsichtig durchschritt sie das riesige Torgewölbe und blickte, im konzisen Innenhof angelangt, aufmerksam um sich: vor ihr ein mit dunklem Laub gefüllter Brunnen, aus dessen Mitte sich ein großer steinerner Drache aufbaute und zu ihr hinunter blickte. Sein Maul war zur Drohung weit aufgerissen und Auguste vermutete, dass er einmal Wasser gespiehen haben musste; zwei nackte, knorrige Eichen erschwerten es der Sonne, den Hof auszuleuchten. Über dem Eingang zum Haupthaus bemerkte Auguste ein in den Stein geschlagenes Gesicht eines merkwürdigen Wesens mit hämisch ausgestreckter Zunge: halb Mensch, halb Ziege mit Hörnern, so schien es. Dieses Schloss, so dachte sie, musste das Anwesen eines bösen Königs gewesen sein.

Nachdem sie den Hof eine Weile begangen hatte, packte Auguste die Neugier und sie ging durch die Tür gegenüber des Tors. Diese führte direkt zu einer engen Wendeltreppe, die sie hinauf bis zur Spitze des Turms stieg, wobei sie immer wieder Halt machte, um sich die Spinnweben aus dem Gesicht zu wischen. Oben angelangt, lief sie aufgeregt zu den Holzbalken, die das Dach über ihr stützten und zwischen denen kleine unbeglaste Fenster eine weite Aussicht versprachen. Fast die gesamte Weite vor ihr war mit Wald bedeckt, doch als sie sich nach links umdrehte, zeigten sich wundersame, zerklüftete Felsen, die Speeren ähnlich spitz aus der Flora herausragten. Zu ihrer Rechten erkannte sie in weiter Ferne eine Wiese, die jemand zum Ausritt für sich entdeckt hatte. Unweigerlich überkam sie ein erhabenes Gefühl der Unantastbarkeit, das sie freilich nicht hätte so nennen können, aber sie wusste, dass sie den Reiter sehen konnte, während sie für ihn auf dem fernen Turm unsichtbar blieb. Nur kurz währte ihre Freude darüber, denn sogleich fühlte sie sich sehr einsam und das der Wind frostig zwischen Terasse und Dachgebälk hindurch pfiff, beschloss sie, wieder hinabzusteigen.

Sie ging jedoch nicht bis ganz nach unten, sondern verließ den Turm zu der angelehnten morschen Holztüre zum Gang auf der Schlossmauer. Je näher sie dem vermutlich interessantesten Teil des Schlosses kam, desto erwartungsvoller war sie: ob es dort noch alte Möbel gab? Skelette? Vielleicht Geister? Sie betrat das verwitterte Haupthaus durch eine große, fensterähnliche Glastür vor einer Terasse, auf der ein Tischen und ein bronzener Stuhl stand, dessen Lehne aus ornamentalen Rosen geformt war. Der Raum war lang und kalt mit verzogenem Parkett und trotz der großen Fenster, die auf der linken Seite hintereinander gereiht waren, hatte das Licht eine eigentümliche, beinahe diesige Mattheit. Furchtbar leer und verlassen empfing sie diese verstaubte Halle. Lediglich ein Gemälde einer jungen, hübschen Frau hing an der rechten Wand. Als Auguste zu dem Bild hinging, um es sich genauer, anzuschauen, knarrte es plötzlich aus dem Zimmer nebenan und sie erschrak. Jedoch hielt sie es für eines dieser Geräusche, die alte Gebäude manchmal grundlos von sich geben und schlich weiter zu dem Gemälde hin. Sie war ganz in der anmutigen Schönheit vertieft, da sprang plötzlich die Tür zu ihrer Linken auf und eine schattige gestalt stand im Türrahmen.

Es überkam sie die Anregung, sofort zu fliehen, doch dann bemerkte sie, dass die Gestalt regungslos stehen blieb und vor ihr mehr Angst zu haben schien als sie vor ihr. Also fragte sie wissbegierig: "Bist du der König?" Der Schatten trat aus dem Türrahmen heraus in die Halle und wurde gleichsam zu einem freundlich schmunzelnden, gebrechlichen alten Mann, der zur Antwort gab: "Nun, so könnte man mich nennen." "Wohnst du in diesem Schloss?", wollte Auguste wissen. "Ja, das tue ich schon seit langer, langer Zeit." "Es sieht hier so einsam aus. Wohnst du ganz alleine?" Der Mann senkte den Kopf: "Ja." "Aber warum? Hast du denn keine Freunde?" Der Alte zögerte offensichtlich, ob er überhaupt antworten solle, sagte dann aber bestimmt: "Ich brauche keine Freunde. Ich will niemanden sehen. Seit langer Zeit bist du der erste Mensch, mit dem ich rede, denn ich verlasse niemals das Haus. Du musst also verzeihen, wenn ich ein wenig aus der Übung bin!" Auguste, darüber verwundert, schaute traurig drein und piepste mitfühlend: "Das macht doch nichts. Wie lange hast du denn das Schloss nicht mehr verlassen?" Der Mann getraute sich nur sporadisch, dem Mädchen in die Augen zu sehen, aber immer wenn sie anfing zu reden, bewog ihr aufgewecktes Wesen ihn unweigerlich, seine Augenbrauen zu heben, wodurch seine ganze innewohnende Güte offenbart wurde. "Seit über 21 Jahren. Seit meine Frau starb", antwortete er freimütig, zu dem Gemälde blickend und Auguste verstand. Sie verstand, indem sie auf das verblasste Bild vor ihr schaute. Sie verstand, obwohl oder gerade weil sie um ein Vielfaches jünger war als 21 Jahre. "Vater macht sich bestimmt schon Sorgen", erklärte sie sanft "Ich heiße Auguste." "Ich heiße Wolfgang." "Wir sehen uns nächste Woche", rief sie munter, während sie zur Tür hinaus hüpfte, so dass Wolfgang keine Gelegenheit mehr hatte, ihr zu widersprechen. "Aber", dachte er sogleich "welcher Mensch wäre denn so herzlos, den Besuch eines unschuldigen Kindes abzulehnen?" Und für wahr - er war nicht herzlos, nur so einsam, dass er genau hinhören musste, um zu wissen, dass er ein Herz hatte.

Am zweiten Advent kam es in der Tat dazu, dass Auguste vor dem Holz-Sammeln Wolfgang einen weiteren Besuch abstattete. Der erste Schnee erreichte die Anhöhe, auf der das Schloss stand, während es in der Stadt nur Nebel hatte. Da Auguste nun im Bilde war, dass das Anwesen bewohnt war, klopfte sie an der großen Pforte des Haupthauses, die zum Teil von einer mächtigen Ranke bedeckt war, die von der begrünten Wand herabhing. Dort wartete sie höflich einige Zeit, bis der leiblich schwerfällige Mann ihr die Tür öffnete. Auch wenn er diese gewöhnliche Handlung lange Zeit nicht mehr übte, lachte er sofort mit jedem Zeichen, das seine Mimik zur Verfügung hatte und stieß ein dankbares "Guten Tag, liebe Auguste!" aus. "Guten Tag, lieber König!" erwiderte sie ganz natürlich und Wolfgang kam darüber so sehr ins Lachen, dass er zu husten anfing. Als er sich gefangen hatte, wies er sie an, ihm zu folgen. Er ging die große, mit rotem Teppich behängte Treppe hinauf, durch einen kleinen Flur, in dem ein leerer Spiegelrahmen und ein schmuckes Sofa Augustes Aufmerksamkeit anzogen, hinein in "sein" Zimmer, wie er es nannte. Obgleich ein Kind in Augustes Alter jeden unbewegten Moment als todesgleich auffasst, übte die Ruhe, die der sanfte Mann ausstrahlte auf sie einen geheimnisvollen, die Zeit zum Erliegen bringenden Zauber aus, wenn sie etwa hinter ihm her ging in einem Schritt, der ihr fast wie Stillstand erschien.

"Sein" Zimmer - das war ein etwas größerer Raum mit einem kleinen Fenster an der Wand gegenüber der Tür, mit kaum etwas bestückt, als mit einem Hocker in der Zimmermitte, einem gut gepolsterten Bänkchen rechts neben der Tür in der Ecke, einem kleinen Tischchen mit Stuhl am Fenster und Bücher. Die Wände waren über und über mit Büchern, die in großen Regalen sauber in Reihe standen, geradezu tapeziert! Es sah mehr aus wie eine Bibliothek als wie ein Zimmer, das jemand als "sein" Zimmer bezeichnen würde. Auf dem Bänkchen nahmen sie nebeneinander Platz und Auguste fand, dass es überraschend gemütlich war. "Du, König Wolfgan", setzte sie ihre Frage an "wenn du niemals das Haus verlässt, wie kommst du dann an dein Essen?""Das ist eine sehr erwachsene Frage.", bemerkte Wolfgang "Nun, mein Neffe bringt mir seit... seitdem jede Woche ein Paket mit allem, was ich so brauche und gerne habe. Das ist jede Woche das Gleiche und er stellt es mir gütiger Weise immer an die Tür, durch die ich dich herein gelassen habe. Ach, oft tut es mir leid, dass er mich so lange nicht mehr gesehen hat." "Dann hast du auch deinen Neffen 21 Jahre lang nicht gesehen?" "Doch doch, ich sehe ihn jede Woche kommen und gehen durch das Fenster dort vorne." Auguste rennt zum Fenster und schaut hinaus, während Wolfgang fortfährt: "Ich sehe ihn gerne. Er ist ein guter Mann mit Familie. Ich sehe es gerne, wenn er so pflichtbewusst und meist frohsinnig mit der Kiste aus dem Wald kommt und ich sehe es gerne, wenn er mit dem geldkuvert, das ich für ihn an der Tür bereitzulegen pflege wieder geht. Weißt du, solange er das Geld nehmen kann, weiß er, dass ich noch lebe. Er ist vermutlich der einzige Mensch, der weiß, dass ich noch lebe." "Und ich", ergänzte Auguste stolz. Wolfgang schmunzelte: "Ja, und du."

Mit großen Marschschritten begab sie sich zur Erheiterung des inzwischen nachdenklich wirkenden Mannes wieder zurück zur Bank. Sie überlegte kurz und fragte interessiert: "Und woher hast du das viele Geld dafür?" "Das habe ich alles hier im Haus. Das reicht für sieben Leben. Früher hat mir die halbe Stadt gehört, aber nach dem Tode meiner Frau habe ich all meine Geschäfte und Häuser verkauft und von dem Geld lebe ich jetzt." Das Mädchen stellte fest: "Dann bist du jetzt kein König mehr, nicht wahr?" "So ist es." "Ich werde dich trotzdem König nennen", beschloss sie zur Freude Wolfgangs und schob nach: "Geld für sieben Leben! Was willst du denn damit anfangen, hier so alleine im Wald?" Der belesene Mann wusste darauf keine Antwort und zuckte nur mit den Schultern. Schließlich fragte Auguste mit dem süßesten Ausdruck: "Willst du mir helfen, Holz zu sammeln?" Wolfgang jedoch lehnte ab, auch wenn er nur ungern diesen Ausdruck kindlicher Hoffnung und Unvoreingenommenheit in ein von Enttäuschung kündendes Gesicht verwandeln wollte, aber es blieb ihm wohl kaum etwas übrig, als darauf zu verweisen, dass er nicht nach draußen gehen kann. Da hörte er nur ein herzerweichendes "Bitte! Das würde mir so eine große Freude machen!" und wandt sich schließlich geschickt heraus: "Ich habe doch gar keine Schuhe mehr. Nur diese Hausschuhe und damit kann ich doch nicht durch den Schnee gehen." Die Kleine gab sich schweren Herzens damit zufrieden. Man unterhielt sich noch etwa eine Stunde und bald konnte Wolfgang seine Augen nicht mehr von seiner lebhaften Gesprächspartnerin lassen, wenn sie alles, was sie zu sagen hatte mindestens ebenso verständlich und nachempfindbar mit den Händen und den Augen sagte wie mit dem Mund, so dass ihm der Abschied ähnlich unangenehm war wie es sonst ein Willkommenheißen gewesen wäre, auch wenn Auguste bekräftigte, dass es erneut nur für eine Woche sei.

Am dritten Advent wartete Wolfgang auf das fröhliche Kind, doch da es zu der üblichen Uhrzeit nicht erschienen war, fing er an, sich Sorgen zu machen. Die Stunden verstrichen und es drohte bald, dunkel zu werden. Bekümmert sah er aus dem Fenster und traute sich kaum, ein Auge von der Stelle zu nehmen, an der sie erscheinen musste. Ob sie sich verlaufen hatte? Aber nein, sie kannte doch den Weg. Ob ihr etwas zugestoßen sei? Vielleicht sollte er wirklich über seinen Schatten springen und im Wald nach ihr suchen. Aber vielleicht hatte er ja auch einfach ihr Klopfen nicht gehört. Wäre sie dann jedoch nicht einfach eingetreten? Viele Gedankenspiele und Szenen wechselten in seinem Kopf hin und her, während er gebannt zum Wald schaute. Und plötzlich sah er sie kommen, quick lebendig und munter wie eh und je. Vor Freude schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und machte sich auf den Weg hinunter zur Tür, um Auguste nicht so lange warten zu lassen.

Sie nahmen den gewohnten Platz in seinem Zimmer ein. Weil Auguste wieder bewundernd auf all die Bücher blickte und sich fragte, ob er sie alle gelesen habe, bot er ihr an: "Du darfst dir eins aussuchen. Ich habe auch einige Kindermärchen. Die befinden sich hinten bei dem Fenster." Bedauernd entgegnete sie: "Ich kann nicht lesen." "Wenn du möchtest, kann ich es dir beibringen." "Oh ja! Das würdest du tun, lieber König Wolfgang?" "Wenn du mich regelmäßig besuchen kommst." Einige Zeit sprachen sie über Wolfgangs Bücher, was sich im Großen und Ganzen so zugetan hat, dass Auguste auf ein Buch zeigte und wissen wollte, worum es ginge, woraufhin Wolfgang bereitwillig die Märchen, Romane und wissenschaftlichen Untersuchungen zusammenfasste, die sich dahinter verbargen. Kaum einen Gedanken konnte er dabei zu Ende bringen, ohne dass das neugierige Mädchen interessiert nachhakte und eine Frage stellte, die der Mann mit großer Freude beantwortete und sie fand, dass er ein guter Lehrer und Geschichtenerzähler sei. Und diesem Geschichtenerzähler wiederum war es das wertvollste Geschenk, das er sich vorstellen konnte, an jedem unbefangenen Staunen, jeder klugen Frage und jedem hingebungsvollen Ausdruck der Liebe und Dankbarkeit für das verstandene Wort teilzuhaben. Schließlich äußerte das Kind eine Bekümmerung: "Weißt du, was mich ein bisschen traurig macht? Du bist so klug und weißt so viele Geschichten, aber hast sie so lange für dich behalten."

In dunkles, mattes Grau begann der Himmel sich zu färben. Noch war es hell genug, um nach draußen zu sehen, doch im Wald breitete sich ein düsterer Schatten aus, der den Weg von dem Gestrüpp schwer unterscheidbar machte. Da stieß Auguste erschrocken aus: "Schau mal, wie spät es schon ist! Und im Wald ist es schon dunkel. Kannst du mich bitte nach Hause bringen?" Dass ihm die Lage unangenehm war, stand Wolfgang ins Gesicht geschrieben. Er hatte Angst, das Haus zu verlassen, nicht wegen der Dunkelheit, sondern weil er immer Angst davor hatte, aber konnte ja auch kaum das Kind alleine in den dunklen Wald lassen. Also machte er ihr den Vorschlag, im Schloss zu schlafen. "Ich wollte schon immer in einem richtigen Schloss schlafen. Aber Vater weiß ja nicht, wo ich bin und er wird mich vermissen und die ganze Nacht kein Auge zu machen. Dann wird er ganz furchtbar traurig sein" entgegnete sie mit überzogener Besorgnis, konnte sich ein verschmitztes Lächeln jedoch nicht ganz verkneifen. "Aber du weißt doch; ich habe gar keine Schuhe." "Ich habe dir welche von Vater mitgebracht. Die werden dir passen; stehen draußen vor der Tür." "Also gut, aber ich bringe dich nur bis zum Waldesrand. Von da an findest du den Weg. Das hat man nun davon, wenn man einem Menschen seine Tür öffnet!", grummelte der Alte, während sie sich auf den Weg nach draußen machten.

Seine Schritte waren vorsichtig, während Auguste trotz der Dunkelheit beschwingt über jeden Baumstamm sprang, fühlte sie sich doch, Wolfgangs Hand haltend, wohl behütet. An den neuen Zustand, so weit weg von zu Hause zu sein, musste dieser sich erst gewöhnen und als habe ihn jemand in eine völlig fremde Welt gesetzt, fühlte er sich hilflos und glaubte sich eher von dem Kind geleitet als umgekehrt. Doch nach kurzer Zeit ließ er sich auf alles ein, auf die Weichheit der belaubten Erde (das Weicheste, das er lange Zeit unter seinen Füßen fühlen konnte, war der Treppenläufer), auf das Knarren der zertretenen Äste, auf die Unebenheit des Bodens, auf den allgegenwärtigen wohilgen Geruch und uaf die Freiheit, in alle vier Himmelsrichtungen zu gehen, so weit er es wünschte. All diese Eindrücke bereicherten seine Sinne wie die Sinne eines Neugeborenen und mit jedem Schritt fühlte er sich freier und lebendiger. Am Waldesrand verabschiedeten sich die beiden Weggefährten und Wolfgang ging alleine nach Hause.

An Weihnachten saßen Wolfgang und Auguste wieder auf dem Bänkchen in seinem Zimmer. Man sah ihm an, dass er etwas nicht länger verbergen konnte und er kramte eine Schachtel unter seinen Füßen hervor: "Hier für dich! Sei bitte nicht enttäuscht! Das ist mein erstes Geschenk seit einer Ewigkeit." Er stellte die Schachtel zwischen die beiden auf das Polster und Auguste lachte mit dem ganzen Körper. Auch er konnte kaum erwarten, dass sie es öffnen würde und schaute gespannt und glücklich auf das Geschenk. Hätte der fähigste Künstler diese Szene in einer Zeichnung festgehalten, man könnte darauf nicht erkennen, wer wen beschenkt. Ohne Zögern öffnete sie die Schachtel und quietschte: "Oh danke, lieber König Wolfgang! Mein erstes Buch!" "Es ist unser Buch", erklärte er "Ich schreibe darin jede Woche unsere Geschichte weiter, so wie sie geschieht und wenn du mich besuchen kommst, lesen wir gemeinsam." Obwohl Auguste nicht lesen konnte, schlug sie das Buch sofort auf. Die ersten Seiten waren bereits beschrieben. An einer zufälligen Stelle blätterte sie nicht mehr weiter und bat Wolfgang darum, vorzulesen. Er las laut: "Der König wollte wieder nach Hause. Zu groß war die Furcht vor der Freiheit. Aber der Zauber war mächtiger und keine Poesie könnte einfangen, wie vertraut ihm bald alles Neue war, als er eins wurde mit dem, was ihn umgab, als er ganz und gar in das Wunder eintauchte, vor dem er sich so lange selbst beschützen wollte."

"Das ist schön! Glaubst du an Zauber?", fragte Auguste halb rethorisch. "Wie könnte ich denn nicht an Zauber glauben? Ich bin doch Teil eines Zaubers geworden. Vor langer Zeit, als ich meine Frau kennenlernte - das war auch ein Zauber. Aber mit der Zeit habe ich vergessen, dass es Magie gibt. Weißt du, ein Mensch alleine kann keine Wunder erfahren. Dazu braucht man immer zwei." Das Mädchen verstand die Gelegenheit zu nutzen: "Weißt du, was ein Wunder wäre? Wenn du mich heute nach Hause bringst, bis vor die Tür." "Das kann ich leider nicht tun Die Stadt ist voller Menschen und ich habe doch so lange niemanden gesehen. Es ist besser, wenn das so bleibt." Jedoch, Auguste flehte: "Ach bitte! Weil heute Weihnachten ist. Weihnachten ist doch der Tag der Wunder, weil man niemandem einen Wunsch abschlagen kann." "Na gut", ließ er sich überreden "aber nur weil Weihnachten ist."

Und so geschah es, dass der Mann und das Kind gemeinsam in die Stadt gingen. Sanft rieselte der Schnee in die ausgeleuchteten Gassen hinein, durch die sie am Abend schritten, doch Wolfgang ging mit gesenktem Kopf, als könne ihn der Schnee erschlagen, jeden Blickkontakt mit Passanten meidend, so dass er den glitzernd weißen Teppich auf den Dächern nicht sehen konnte. Die Menschen, die vorüber gingen, waren von Weihnachten beseelt, die Gesichter in der Zuversicht eines kommenden Wunders gelöst, obgleich die meisten von ihnen an 364 Tagen im Jahr nicht an Wunder glaubten und ein jeder grüßte die beiden und wünschte ihnen von ganzem Herzen ein gesegnetes Weihnachtsfest. Beide freuten sich sehr über die vielen liebevollen Gesten und grüßten artig zurück, doch Wolfgang tat es stets in der Furcht vor mehr Nähe und war jedesmal froh, wenn sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, weitergingen. An Augustes Haus angekommen, erwartete sie ihr Vater schon an der Tür: "Na, meine kleine Auguste, da bist du ja endlich! Gerade noch rechtzeitig, wie immer: die Gans ist gleich so weit. Wen hast du denn mitgebracht?" "Das ist mein lieber Freund König Wolfgang", antwortete sie. Ihr Vater, ein großer, kräftig gebauter Mann mit dickem Bart und sanftmütigen Gesichtszügen, empfing den Fremden herzlich: "Ach, sie gibt es wirklich. Sie müssen verzeihen! Meine Tochter denkt sich gerne Märchen aus und da dachte ich, sie seien frei erfunden. Na, umso besser, dass dem nicht so ist! Dann haben wir doch endlich einen Abnehmer für die Gans. Es ist reichlich Essen da. An Weihnachten sollte man immer für Einen mehr kochen. Kommen sie herein in die gute Stube!" Wolfgang versuchte höflich, aber bestimmt abzulehnen: "Nein, nein. Ich möchte ihnen keine Umstände machen", aber des Schmieds Griff, wie er ihn um die Schultern fasste und ins Haus schob, war sowohl voller Milde als auch voller Kraft und gegen keines von beiden konnte sich der alte Mann wehren.

Sie saßen in der Wohnstube um einen kleinen Tisch herum und der Vater schnitt die Gans an, servierte jedem dazu Rotkohl und Brot und schenkte, ohne zu fragen, seinem Gast ein Glas Rotwein ein. Der Tisch war festlich gedeckt mit dem Geschirr, das nur einmal im Jahr zur Verwendung kommt, liebevoll dekoriert mit Tannenzweigen, einem Adventskranz und Nüsse, Wein, Käse und Pudding standen bereit. Nicht oft gab es für die beiden, einen so reich gedeckten Tisch, das sah man dem baufälligen, engen ZimCDPhen an, in dessen Mitte dies alles wie eine paradiesische Insel stand. Passend dazu war zu erkennen, dass Augustes Vater sich schwer damit tat, sich an die schicke Weste und das Hemd zu gewöhnen, das er trug. Es war das Köstlichste, das Wolfgang seit langer, langer Zeit gegessen hatte, was nicht daran lag, dass das Fleisch besonders erlesen gewesen wäre, auch nicht, dass der Koch ein Meister seines Faches war, nein, es war nur einfach so, dass es etwas völlig anderes ist, ein Essen mit jemandem zu teilen, das dieser zubereitete, um zur gemütlichen Geselligkeit einzuladen. Und in der Tat - es war gemütlich. Zuerst war Wolfgang noch ein wenig zurückhaltend, antwortete mehr, als das er von sich aus etwas zu sagen hatte, aber der rustikale Mann war ihm von Beginn an so vertraut (vermutlich weil er ihm gegenüber so zutraulich war), dass er wusste, dieser Mensch könne ihm niemals etwas Böses wollen. Und dann war da ja noch seine liebgewonnene Augsute neben ihm, die viel über Wolfgangs Märchen erzählte und ihn einlud, noch mehr Märchen und Geschichten zu erzählen. Wie der Mann zu erzählen begann, hatte er die gesamte Aufmerksamkeit seiner beiden Gesprächspartner. Es wurde über alles Mögliche gesprochen, gewitzelt, gelacht. Es war ein riesiger Spaß und eine wundervolle Familiarität, die Wolfgang bald nie wieder zu Weihnachten missen wollte.

Plötzlich stand er auf und entschuldigte sich: "Tut mir leid. Es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen, aber ich muss jetzt aufbrechen. Vielen Dank für die herzliche und herzhafte Bewirtung." Auguste glaubte, dass der Zauber seine Kraft verlor und fragte: "Och, willst du etwa schon zurück ins Schloss?" "Nein, ich glaube, Weihnachten ist der Tag, an dem man auch für seine Familie da sein sollte. Ich möchte jetzt gerne meinen Neffen besuchen; da hätte ich schon längst sein müssen. Aber nicht traurig sein, meine liebe Auguste! Wir sehen uns bald wieder." Auguste atmete auf: "Wenn das so ist, dann bin ich nicht traurig. Hab viel Spaß bei deinem zweiten Weihnachtsfest!" Also ging Wolfgang zum Haus seines Neffens, sah kurz durch das Fenster, wie er mit seiner Frau und den Kindern um den Kamin herumsaß, zögerte einen Moment in dem Glauben, er könne dieses Glück stören, ging dann aber entschlossen zur Tür, richtete seinen Schal und seinen Mantel und klopfte an. Als sein Neffe die Tür öffnete, entfuhr im spontan ein dankbares: "Onkel! Wie lange habe ich dich nicht gesehen, aber das ist völlig egal, denn du bist hier!" und er umarmte ihn so warm und eng, als wollte er alle verpassten Umarmungen der letzten Jahrzehnte nachholen. "Komm, ich stelle dich meiner Familie vor... unserer Familie", korrigierte er sich schmunzelnd. Während sie hineingingen, fragte der Neffe seinen Onkel, wie er nach so vielen Jahren zu dem Glück komme, seinen geliebten Onkel wieder in die Arme nehmen zu dürfen und der Onkel erwiderte: "Weil heute Weihnachten ist."
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