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Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten.

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Alt 29.09.2012, 19:01   #1
männlich Desperado
 
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Standard Die linke Wange

Die andere Wange

Ich kämpfe nicht, auch wenn’s mich schmerzt,
der Freundschaft Gold für nichts verscherzt,
ich gebe nach und weiche aus,
husch wie ein Schatten durch das Haus,
kommt Zorn auch manchmal in mir auf,
lass ich ihm heimlich seinen Lauf.
Mit Dreck beworfen wasch ich mich,
schrubb meine Haut mir fürchterlich,
auch in des Schlammes dickem Brei
wehr ich mich nicht- ich bin so frei.

Was ich auch tu, ich mach’s verkehrt,
ich werd bekrittelt und belehrt,
würd selbst er sich nach Regeln richten,
die er bestimmt, es könnt sich lichten,
ich könnt ein Wort des Dauerns sagen,
versöhnlich Friedensschlüsse wagen.
Und wär er nicht zu feig zu hören,
könnt ich zum Einhalt ihn bekehren,
so fährt er fort mit seinem Hass
und kränkt mich ohne Unterlass.

Dem einen Schatz, dem andern Bürde,
der heil’ge Wert der Menschenwürde,
wenn Hochmut schmäht, was mir ist Ehre,
bin ich nicht hier, dass ich belehre,
wenn angeklagt ich ohne Schuld,
senk ich mein Antlitz in Geduld
und trauerschwer mein Haupt ich neige,
ich sprech nicht wider, nein, ich schweige,
so hat’s mein Meister mich gelehrt,
ich glaube, das ist nicht verkehrt.

Wenn ich dem Arg mich widersetze,
nur meine Seel ich mir zerfetze,
denn heize ich mit „falschem“ Holz,
verletzt die Rüge meinen Stolz,
wenn für ein Scheit ich ausgescholten
und hab doch Böses nicht vergolten
mit lauter Stimme Glutes Wut-
ich bleibe stumm und auf der Hut,
kauf lächelnd Pressholz ohne Bange,
so halt ich hin die andre Wange.

Will ich ihm die Leviten lesen,
so tut er, als sei nichts gewesen,
ich pralle gegen eine Mauer,
doch er liegt ständig auf der Lauer,
wie er kann demüt'gen und höhnen,
um dann in Selbstmitleid zu stöhnen,
arglistig Mitleid zu erheischen,
ich lass mich nicht mehr länger täuschen,
das größte Übel jeder Zeit
ist heuchelnde Scheinheiligkeit.

Es fehlt ihm ganz an gutem Willen,
ich könnt ertragen seine Grillen,
ein Zwängler ist ein Kranker nur,
mir ähnlich wund in der Natur,
ich könnt um seinen Wahn mich kümmern,
der sucht und findet einen Dümmern,
jedoch die Selbstgerechtigkeit
ist Makel nur, mitnichten Leid.
Und wer da sagt: Ich habe recht
auch wenn’s nicht stimmt-
ist einfach schlecht.


Oktober 2005
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Alt 29.09.2012, 21:53   #2
weiblich Poetibus
 
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Hallo, Desperado,

ich schreibe zuerst, was mein Gedanke war, als ich das Gedicht zu Ende gelesen hatte. Der letzte Vers, drei Worte, aber er bringt es fertig, das ganze Gedicht bzw. dessen Aussage "umzukippen". DAS nenne ich eine Pointe, wenn mit ihr das ganze Werk "steht und fällt". Note 1 A dafür!

Die berühmte linke Wange. Wenn ich frech wäre, was ich frecherweise jetzt mal bin, dann würde ich sagen: Wieso stellst du dich "gegen"über, dorthin, wohin er schlägt? Ich stehe gar nicht da. Ergo trifft er die rechte Wange nicht, und die linke auch nicht, da ich ihm keine von beiden hinhalte. Hinter so einer Ohrfeige steckt ziemlich viel Bewegungsenergie, und da sich diese dann nicht umwandeln lässt - hm, irgendwo muss sie ja hin. Wärmeenergie? Nein, ich habe noch nie gesehen, dass ein Ärmel brennt. Ich denke, das führt meistens dazu, dass sie von der Hand hinunter zu den Füßen wandert, was dort zu einer Bewegung führt und ihn dann aus dem Gleichgewicht bringt. Metaphorisch und praktisch betrachtet.

Wieder ernsthaft: Gut ausformuliert und dargestellt. Das LI ist ein "Dulder", der hier die "linke Wange" eigentlich nur aus dem Grund hinhält, um sein "Gut-Sein" zu demonstrieren, selbst aber Urteile fällt und für "schlecht" erklärt. Gleichzeitig aber "Urteile verurteilt". Das widerspricht sich bildschön. Denn damit wird das LI selbst selbstgerecht. Ob das LI wohl (andernorts?) Ohrfeigen austeilt? Das halte ich für sehr gut möglich.

Das wird aber, wie bereits von mir geschrieben, erst nach dem letzten Vers deutlich, weshalb ich das Gedicht dann gleich noch einmal las. Wobei ich beim ersten Lesen eher Bedauern und Mitgefühl empfand, was beim zweiten Lesen dann als "Mitleidsheischerei" und ja, Selbstmitleid zu mir herüberkam. Das finde ich wirklich faszinierend, denn die Worte sind "genau dieselben".

2005 - ich weiß nicht, ob du vorhast, es (vielleicht) noch ein wenig zu überarbeiten? Es ist Geschmackssache, klar, aber für mich sind doch etwas zu viele Inversionen vorhanden. Und ein paar Holperer in der Betonung, wie z. B. "arglistig". Nimm's mit Humor, wenn ich sage: Meiner demutsvoll bescheidenen Meinung und meines unbedeutenden Geschmacks nach.

Wirklich sehr gerne gelesen.

Freundlichen Gruß,

Poetibus
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Alt 29.09.2012, 22:07   #3
weiblich Ilka-Maria
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Mir fiel beim Lesen dieses Textes spontan der Film "Der Mann vom großen Fluß" ein, ein Paradebeispiel dafür, wie ein Mensch seiner Linie treu bleiben will, aber trotz besten Willens den unliebsamen Weg gehen muß.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.09.2012, 09:38   #4
männlich Desperado
 
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Guten Morgen!

Tja, Poetibus, hinter vielen Gedicht versteckt sich eine wahre Geschichte, die sehr viel weniger humoristisch ist, sondern einfach nur bitter. Als -notgedrungener- Untermieter für ein halbes Jahr dem Psychoterror des Mieters ausgesetzt zu sein, der sich noch dazu als Schönwetterfreund häutet, das tut tatsächlich ordentlich weh.

Dass es in seiner Kleinwohnung niemand länger als ein Jahr ausgehalten hatte, schrieb ich bis dahin den archaischen Wohnverhältnissen zu, wurde aber eines Besseren belehrt, es vergraulte die Leute systematisch eine nach dem anderen, meiner Nachfolgerin, die eine Traumbleibe gefunden zu haben glaubte, da sie das einfache Leben dem konfortablen vorzog, erging es um keinen Deut besser. Und er schaffte es jedes Mal, den Leuten dabei ein schlechtes Gewissen zu machen und sich als Opfer ihrer mangelnden Kooperationsbereitschaft hinzustellen. Sowas gibt's.

Aber das nur als Erklärung für den Hintergrund des -sicher nicht ganz ausgegorenen- Gedichtes.

Das Dilemma einer Situation wie dieser ist immer das, seine aufkommenden, anwachsenden und schließlich dominierenden negativen Gefühle dem Quälgeist gegenüber zu rechtfertigen, da sie mitunter gehörig kräftig sein können. Und natürlich das leidige: Warum ist der so fies zu mir, warum behandelt der mich so mies, ich tu doch wirklich, was ich kann, damit es klappt unterm selben Dach, und hab ihm doch nie was getan.

Ich hatte es diesbezüglich sogar wesentlich leichter als meine meist wesentlich jüngeren VorgängerInnen und NachfolgerInnen, die ihn nicht oder kaum kannten, nach einer ersten nicht ganz unerwarteten Schockphase und Ernüchterung mit angemessener Trauerarbeit sagte ich mir, du Vollidiot kannst mich mal dreimalkreuzweise und ich mache, dass ich hier wegkomme. So gesehen war er sogar Starthilfe für mich und hat mir eine ohnehin anstehende gar nicht so einfache Entscheidung erleichtert. Die ich dann auch konsequent fällte, und ob ich nun als der Gute oder der Böse hervorging aus dem Schlamassel, war mir vollkommen schnurz und ist es heute erst recht, ich habe seine Probleme bei ihm gelassen und jeglichen Kontakt abgebrochen.

Natürlich fragst du dich in derlei unerquicklichen Situationen, was wäre wenn und gesetzt den Fall, dass... ich mich selbst reinwaschen müsste, mich ihm gegenüber behaupten, meine Unschuld beweisen und ihm den schwarzen Peter zuschieben... obgleich der ihm sowieso gehört... um vor mir oder sonst wem bestehen zu können, was zwangsläufig nur nach hinten losgehen kann, weil erfahrungsgemäß alles auf einen selber zurückfällt.

Aus einer solchen Stimmung heraus entstand das Gedicht. Und wie ich sehe, konnte ich wenigstens die vertrackte Ironie darin einigermaßen zum Ausdruck bringen.


"Der Mann vom großen Fluss", Ilka-Maria, was war das noch gleich für eine Geschichte, ich krieg sie grad nicht präsent, weiß aber, dass ich den Film kenne...

Schönen geruhsamen Sonntag!
Desperado
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Alt 30.09.2012, 10:31   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
"Der Mann vom großen Fluss", Ilka-Maria, was war das noch gleich für eine Geschichte, ich krieg sie grad nicht präsent, weiß aber, dass ich den Film kenne...
Das ist die Geschichte von dem Familienvater, der glaubte, sich durch Ignoranz aus allem heraushalten zu können. In diesem konkreten Fall aus dem Sezessionskrieg. Bis der Krieg zu ihn kam und Soldaten während seiner Abwesenheit einige Personen seiner Familie massakrierten. Und sein jüngster Sohn rachefühlig ausbüchste und sich zum Kriegsdienst meldete. Ab da war es auch des Vaters Krieg, denn er wollte seinen Jüngsten zurück.

Es gibt übrigens einen deutschen Film ähnlichen Themas, da sind die Mütter losgezogen, um ihre Söhne von der Front zurückzuholen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.09.2012, 11:07   #6
männlich Desperado
 
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Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
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Danke, Ilka-Maria,

dass es sich um eine Vater-Sohn Geschichte im Sezessionskrieg handelt, ist mir inzwischen wieder eingefallen. Es gibt mehrere Aufarbeitungen dieses Themas, da dieser Krieg sich wie selten einer quer durch Familien zog, weil große Teile der Bevölkerung ihn grundsätzlich ablehnten und andere ihn für unvermeidlich hielten.

Hab ausnahmweise mal gegoogelt, Der Mann vom großen Fluss ist der Klassiker mit James Stewart, Originaltitel Shenandoah, wurde als Statement gegen den Vietnamkrieg verstanden, hab ihn auch wieder vor Augen, sehr guter Film!

Dann gibt's da noch einen mit einer Quäkerfamilie, einen von einem Deserteur, einen über ein paar Südstaaten Guerilleros, und und und, da kann man schonmal durcheinanderkommen...

Lieben Gruß
Desperado
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