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Alt 20.12.2012, 22:56   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Wünschelrute

Es begab sich zu der Zeit, als die Menschen das Lied in allen Dingen zu singen verstanden, da brannte ein großes Feuer, das beinahe das ganze Dorf verwüstete einem braven verwitwerten Wirte sein Hab und Gut nieder. Er dankte Gott, dass er seine beiden Söhne noch eben aus den Flammen retten konnte, doch über den Verlust war er untröstlich. Alle im Dorf besannen sich der gemeinsamen Tat, das Beste aus dem gemeinsamen Schicksale zu gestalten und jeder half einem Jeden, der Vergangenheit trotzend, alles wieder aufzubauen. Auch die Schänke des Wirtes stand bald wieder, fast so schön und gemütlich wie sie gewesen. Jedoch eine konnte niemand im Dorf ihm ersetzen: Die Wiege, in der sein Vater - dieser hatte sie aus dem Holz der Eiche geschnitzt, die sein Großvater geschnitzt hatte - ihn einst gewiegt hatte, in der er seine Söhne gewiegt hatte und in der seine Söhne seine Enkel wiegen sollten.

Gewahr der Unmöglichkeit, diese Tradition fortzuführen, war er darüber so traurig, dass es ihn keine Ruhe ließ, wenigstens den Geist dieser Wiege wiedezubeleben, so dass er schließlich selbst eine Eiche im nahen Wald pflanzte. Seinen Söhnen gab er Anweisung, diese zu fällen und eine Wiege daraus zu erschaffen, sobald die Zeit dafür gekommen sein würde. Als der gute Mann starb, gerieten seine Söhne allerdings in Streit über die Erbschaft und der Eichenbaum darüber in Vergessenheit. Doch jeder de sich unter der Eiche schlafen legte - und es waren im Laufe der Jahrhunderte Einige, die das bemooste, schattige Plätzchen zum Verweilen einlud, das sich hoch über den Bach erhebt, dessen lebendiges Rauschen bei der Eiche nur noch als wohliges Säuseln zu erleben war - träumte den immergleichen, ewig jungen Traum:

Die Eiche schüttelt ihr mächtiges Haupt und erklärt dem Träumenden:
"Nimm dir einen meiner Zweige,
wirf ihn in den Bach!
Zauber, dem sich alles neige,
zwingt dich endlich wach."
Also bricht der Träumer einen Zweig des sprechenden Baumes, wirft ihn den Hang hinunter in den wilden Bach und erwacht tatsächlich auf der Stelle aus seinem Traum.

Diejenigen, die des Traumes teilhaft wurden, dachten sich nichts dabei, als dass es ein Traum sei und gingen unbeirrt ihrer tausend Wege, bis eines Nachts ein junges Paar unter jener Eiche zum ersten Male beisammen einschlief und mit dem fernen Donner zum ersten Male beisammen aufwachte. Die Morgenröte stand dem Mädchen im Gesicht, als sie zur Sprache brachte: "Du wirst verwundert sein, aber ich hatte einen merkwürdigen Traum." Sogleich berichtete sie ihrem Liebsten davon. Er erwiderte: "Ganz und gar bin ich darüber verwundert, denn ich hatte denselben Traum." Langsam zog das Gewitter heran und der ganze Wald begann in dessen Erwartung heftig zu erzittern. Diese Unrast der Natur trieb die beiden in eine nahe Höhle, in der sie sich sicher wähnten. Einige Zeit mussten sie dort verharren und besprachen daher den geteilten Traum: "Und wenn wir nun noch immer in einem Traum sind? Es ist vielleicht albern, aber ich finde, wir sollten den Ratschlag der Eiche befolgen. Mn hört wohl nicht oft ein Zauberwort, das einem alles zu erklären verspricht."

Also begaben sie sich, als das Gewitter ausklang, zurück zur Eiche, brachen je einen Zweig ab und stellten sich nah an den Flsenrand. Sie holten weit aus, zählten bis drei und lächelten einander zuletzt so vorfreudig an wie Kinder, die fest an den Zauber glaubten, den sie in den Händen hatten. Endlich warfen sie ihre Zweige hinunter in den Bach. Dabei legte sie so viel Schwung in den Wurf, wie sie Hoffnung in den Wunsch legte, so dass sie auf dem nassen Moose ins Rutschen kam, den Abhang hinunter glitt und den Jüngling, der nach ihr griff, um seine Liebe zu halten hinab in die Tiefe zog. Da hörten sie auf zu träumen.
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