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Alt 22.11.2012, 00:46   #1
weiblich Scelene
 
Benutzerbild von Scelene
 
Dabei seit: 11/2012
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Beiträge: 3


Standard Das fremde Wesen

„Du verstehst mich einfach nicht!“.
Ich lief weinend aus der Wohnung, jedes mal dasselbe Spiel. Wir reden, wir diskutieren, wir streiten und immer bin ich diejenige die traurig ist und weint, und das nur weil er einfach nicht in der Lage ist, einfühlsam mit mir umzugehen. Er weiß doch mittlerweile wie sensibel ich bin, vor allem wegen meinem neuen Job und der neuen Wohnung.
Ich trete auf die Straße selbst der Regen macht mir nichts aus. Das Wasser läuft mir über das Gesicht, vermischt sich mit den salzigen Tränen und fallen schließlich als kleine Tropfen des Schmerz hinunter.
Worüber hatten wir uns diesmal gestritten? Über Trivialitäten natürlich. Über den Abwasch wollte ich mit ihm reden und was ist draus geworden? Eine hitzige Diskussion, die alles andere als fair war. Dabei wollte ich das doch so gar nicht.
Ich rannte die Straße hinunter, einen automatisierten Weg, den mein Unterbewusstsein zu genüge kannte. Es fing an zu gewittern, Blitze erhellten den schwarzen Himmel. Ich bog in den Wald ab, ein seit neuem jagdfreies Gebiet und konnte schon nach ein paar Schritten mein Ziel erkennen. Das alte Jagdhaus meiner Eltern.
Ich zog den Schlüssel aus meiner Tasche, bronzefarbend, mit einem kleinen Vogel draufm und schloss die Tür auf. Alles war so, wie ich es verlassen hatte. Der alte Schaukelstuhl mit der roten Decke stand am Kamin, das Hundekissen rechts daneben. Damals lag dort unsere große Labradorhündin Elska und beobachtete meine Mutter und mich beim spielen, während mein Vater Zeitung las. Die Erinnerungen waren schön, und ich wusste das sie nun an einem ähnlich schönen Ort sein mussten.
Ich trocknete mich ab und setzte mich in den Schaukelstuhl. Ein Teil von mir sehnte sich nach der Zeit, als man sich für alles an dem Kamin setzte, sei es um sich gegenseitig von seinem Tag zu erzählen, gemeinsam zu essen oder Hochzeitsplanungen zu machen. Der Gedanke an die Planungen der traumhaften Hochzeit erinnerten mich daran, warum ich hier war und sofort schossen mir wieder die Tränen in die Augen. Wie konnte er nur, es war fast so als wollte er mich immer und immer wieder verletzen.
Ich zog die Decke ans Kinn und schloss die Augen. Ach Mama, was mach ich bloß falsch, was machen wir bloß falsch.
Ich nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete das Radio an. Nachrichten... wie üblich, also schloß ich wieder die Augen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.
Es ist seine Schuld, würde er mich wirklich lieben würde er mir nicht ständig wehtun. Eiskaltes Schwein. Seine Schuld, sein Fehler...
Ich glitt, leise weinend, in einen tiefen Schlaf...
Als ich aufwachte war ich irgendwo anders. Hier sah es aus wie in einem alten Stadtviertel. Es dämmerte und die Häuser lagen in dunstigen Silberschwaden. Trotz meines sommerlichen Kleides und den nackten Füßen fror ich nicht. Ich machte die ersten Schritte und folgte der Straße, kaum merklich bewegte sich der Kies unter meinen Füßen.
Ich versuchte mich zu orientieren, doch keines dieser Häuser kam mir bekannt vor. Weiter unten stand ein einzelnes Haus mit einem Zitronenbaum vor der Tür. Ich schritt den Weg hinunter bis an den Vorgarten, der über und über voll mit Johannisbeersträuchern war. Bevor ich mich weiter umsehen konnte, wurde ich von einem Mann erschreckt, der aus dem Haus trat. Er war vielleicht gerade mal Mitte dreißig, in der Hand einen Koffer und einen Hut.
„Papa, warte auf mich!“
Aus dem Haus kam ein kleiner Junge ebenfalls mit einem kleinen Koffer in der Hand. Er hatte einen Schuh angezogen, den anderen hielt er in der Hand.
Der Mann packte seinen Sachen in einen dunklen Combi, er beachte seinen Sohn gar nicht. Erst als dieser seinen Koffer ebenfalls in den Combi stecken wollte kam eine Reaktion vom Vater.
Noch bevor ich irgendetwas hätte unternehmen können schlug der Mann dem kleinen Jungen ins Gesicht. Ich war geschockt, und die Reaktion des kleinen Jungen brach mir das Herz. Ich wollte rufen, zu dem kleinen Jungen laufen, ihn beschützen, aber aus meinem Mund kam kein Wort. Ich war auf der Stelle gefangen, in der Rolle eines Zuschauers in einem grausamen Spiel. Der Junge war so erschrocken und fing augenblicklich an zu weinen, jedoch wich er nicht vor seinem Vater zurück. Ich wollte den Schmerz von ihm nehmen, in meinem Schutz geben, doch ich stand weiter wie erstarrt.
Der Vater, mit einem kalten, rationalisierten Gesichtsausdruck, schloss den Kofferraum des Combis, setzte sich hinter das Steuer und fuhr ohne ein Wort los. Der Junge setzte hinter und rannte so schnell ihn seinen Beine trugen. Er schrie so furchtbar das es mir in der Seele brannte, und ich schluchzend auf die Knie sank. Ich konnte es nicht mit ansehen, ich konnte es nicht ertragen zu sehen, wie sehr der Junge mit den rehbraunen Augen litt.
Eine junge Frau trat aus dem Haus, ging wortlos an mir vorbei, mit einem kleinen Mädchen an der Hand. Sie nahm den Jungen in die Arme, während sich sein Körper unter den Tränen schüttelte. Zu dritt verschwanden sie in dem Haus, aus dem sie gekommen waren und ließen mich zurück, selbst so weinend wie der kleine Junge.
Während ich so auf meinen Knien hockte und versuchte das geschehene zu verarbeiten, verschwand die Szenerie um mich herum. Das Haus, der Baum, der kleine Koffer auf der Straße, alles verschwamm in einem wilden Farbengemisch.
Das nächste, was ich wieder erkennen konnte, war ein Jugendlicher auf einem Wanderpfad. Noch bevor ich mich fragen konnte, wo ich bin und wie das alles möglich war hörte ich den Jungen heftig schnaufen. Ich trat zu ihm, wollte ihn fragen, ob ich ihm helfen kann, doch er rannte mit einer heftigen Entschlossenheit weiter, obwohl er anscheinend so mit den Kräften kämpfte. Er zwang sich vorwärts, wollte nicht stehen bleiben, wollte keine Stille. Doch abrupt sank er auf die Knie. Ich lief zu ihm, wollte ihm aufhelfen, doch sein Schluchzen irritierte mich. Ich sah die vor Schweiß nassen Haare und die mit Tränen besetzte Augen als er sprach „Mann! Wieso schaff ich es einfach nicht. Ich bin doch schon mal deutlich besser gewesen!“ Ich sprach tröstende Worte, doch er achtet gar nicht auf mich, wischte sich über die Augen und rannte wieder los, noch nicht ganz wieder bei Atem. Diese Augen...
Das Bild verschwand und ich konnte nur noch Schemen erkennen. Bilder von Klassenräumen, Wäldern, Menschen wirbelten umher. Langsam konnte ich das alles nicht mehr ertragen, ich wollte zurück, wieder dahin wo ich hergekommen war. Doch die Bilder verschwammen weiter, grausige sowie schöne Szenen flogen an mir vorbei und überall war dieser Jung zu erkennen, der Junge mit den rehbraunen Augen. Der Junge der verletzt und verlassen, geliebt und umarmt, gehasst und ignoriert wird.
Schließlich verschwanden die Bilder und ich fand mich in meiner, nein unserer neuen Wohnung wieder.
Der Abwasch stand an der Spüle, die Blumen, die ich vor 3 Tagen von meinem Mann geschenkt bekommen hatte, blühten auf dem Tisch. Es war, als wäre die Zeit zurück gedreht worden.
Ich sah ihn eintreten, den Mann, der mich so verletzte, aber der Mann, den ich liebte. Er setzte sich, rieb sich die Augen, während er ein altes Foto in der Hand hielt. Die Neugier packte mich und ich trat an ihn heran um genaueres zu erkennen, doch das was ich war konnte ich kaum glauben. Auf dem Bild war ein kleiner Junge zu erkennen, er stand da, lächelnd, mit seiner kleinen Schwester und seinen Eltern. Leise Tränen stiegen ihm in die Augen. Er schob das Foto zurück in eine Schublade und nahm ein anderes Foto von der Kommode, seine rehbraunen Augen hellten sich auf. Es war unser Hochzeitsfoto. Auf dem Bild küsste er mich und war drauf und dran mich umher zu wirbeln. Ein lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.
Plötzlich höre man einem Schlüssel im Schloss, und ich sah mich selbst in die Wohnung eintreten. Ich sah beschäftigt aus, trug die Einkäufe unter dem Arm und telefonierte gleichzeitig. Er kam lächelnd auf mich zu und nahm mir die Einkäufe ab, doch das registrierte ich gar nicht und ging Richtung Bad. Ich sah die Enttäuschung in den Augen meines Mannes, doch er machte sich dran, den Einkauf beiseite zu räumen.
Ich kam vom Bad zurück, und wollte ihm übellaunig zur Rede stellen, warum der Abwasch noch nicht weg war. Meine Haltung und mein Ton wirkte so aggressiv, dass ich vor mir selbst erschrak und auch ihn schien es zu erschrecken und zwar so sehr, dass ihm der Zucker aus der Hand glitt.
Doch ich schimpfte schon weiter, beklagte mich über das Hausfrauen – Dasein und gleichzeitig einen Vollzeitjob zu haben.
In meiner Salve an Schimpfsätzen fiel mir eine Veränderung auf. Das Lächeln des Mannes war verschwunden, er fing an sich zu rechtfertigen.
So wie ich uns da sah, so wie ich mich da sah, so wurde es mir schwer ums Herz. Wie konnte ich nur so arrogant, so kränkend sein.
Die Situation ging weiter und als ich meinen Mann genauer betrachtete und somit auch seinen kälter werdenden Blick, so viel es mir wie Schuppen von den Augen.
Der Mann, der vor mir steht, ist der Junge, ist der Teenager, der gelernt hat für sich zu kämpfen und zu leben. Es ist nicht, dass er mich verletzen will, es ist Selbstschutz vor der Attacke.
Ich fing an zu begreifen, das Szenerie verschwand...
Als ich wieder aufsah erkannte ich das Jagdhaus meiner Eltern. Das Gewitter hatte aufgehört, der Himmel klarte langsam auf.
Die Freude endlich zu verstehen und die Sehnsucht nach dem Mann, mit den rehbraunen Augen trieb mich wieder nach Hause.
Als ich einen letzten Blick in die Hütte warf, kam es mir so vor, als würde meine Mutter mich anlächeln.
Ich schloss das Jagdhaus ab und lief nach Hause, zu ihm.
Zu dem Mann, den ich liebte.




Ich hoffe, sie gefällt euch, und ich würde mich über den ein oder anderen Kommentar freuen.
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Stichworte
erkenntnis, geschichte, liebe

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