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Alt 28.04.2015, 15:41   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Gift der 80er Jahre

Nach meinem dreißigsten Geburtstag begann ich nochmals die Schulbank zu drücken. Mein Sohn war sieben Jahre alt und brauchte mich noch, aber nicht mehr den vollen Tag, und ich wollte die Zeit zu dem Versuch nutzen, auf einem Sonderbildungsweg den Zugang zur Universität zu erreichen, um später nicht wieder in meinen alten Büroberuf zurückkehren zu müssen.

Als ich mich zu der dreijährigen Vorbereitung für diese Zulassungsprüfung anmeldete, warnte mich der Schulleiter: „ Vorwiegend kommen Frauen in ihrem Alter zu uns, deren Männer dem Höhepunkt ihrer Karriere zustreben. Ihre Frauen glauben, den Anschluss verloren zu haben und etwas aufholen zu müssen. Anfangs geht das noch gut, viele Frauen springen ja auch wieder ab, aber bei denen, die es ernst meinen, kommt es in den überwiegenden Fällen zu Ehekrisen und zur Scheidung. Sie sollten das bedenken, bevor …“

Bla bla bla, dachte ich und schrieb mich ein.

Er hatte recht. Als unsere Gruppe sich erstmals traf, waren wir dreiundzwanzig Frauen im Alter von fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren und ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren. In den ersten beiden Unterrichtsjahren verdünnte sich die Klasse auf ein kleines Häufchen, und diese Durchhalter- mich eingeschlossen - bekamen tatsächlich Eheprobleme.

Aber ich will nicht die Geschichte der Seitensprünge, der Trennungen oder – das gab es auch – der Versöhnungen erzählen, auch nicht diejenige meiner eigenen Ehe, sondern Alexandras Geschichte, die etwas aus dem Rahmen fiel.

Alexandra war mit David, einem Doktor der Chemie in leitender Position, verheiratet. Das Paar hatte zwei kleine Kinder. David war schmächtig und zart. Er hatte ein schönes, fein konturiertes Gesicht, das fast transparent wirkte. Alexandra war weder in schön noch in hässlich zu fassen, sie war einfach „ein Typ“. Alles an ihr war ungewöhnlich, am meisten die Linien ihrer Lippen, die jeden Maler in Raserei hätten versetzen können. Kurz gesagt: Die beiden waren rein äußerlich ein ungewöhnlich attraktives Paar.

Als ich erstmals – und auch nur dieses eine Mal – zu Alexandra eingeladen wurde, lernte ich eine junge Frau kennen, die ich als Alexandras „beste Freundin“ einordnete. Die beiden gingen sehr vertraut miteinander um, wie Geschwister, so schien es mir. Was mich irritierte: Derselbe Funke schien auch zwischen David und dieser Freundin zu glimmen.

Ein paar Wochen später – meine Ehe war bereits am zerbröseln – klingelte es und Alexandra stand vor der Tür. „Hast Du Zeit? Ich muss mich bei jemandem ausquatschen.“

Kaum hatten wir uns gesetzt, explodierte sie.

„Weißt Du, es hätte mir ja Spaß gemacht, so zu dritt. Ich hab die Gitte auch wirklich gern gehabt. Aber da war nie Eintracht – immer waren zwei gegen einen, mal Gitte gegen David und mich, mal ich und David gegen Gitte, am Ende Gitte und ich gegen David … der reine Stress!“

„Und jetzt?“

„Nix jetzt! Ich hatte mir Fromm und Lauster und alles über die selbstlose Liebe reingezogen und festgestellt, dass das mit mir nicht geht. Hätte ich heute eine Pistole gehabt, hätte ich meinen Mann erschossen.“

Schweigen.

„Alexandra, hattest Du das Gefühl, nicht mehr Herrin in deinem Haus zu sein?“

Schweigen. Dann ich:

„Schenkte dein Mann Gitte seine ganze Zuwendung, während Du die plärrenden Blagen an den Waden hattest?“

Alexandra bekam feuchte Augen, der einzige Verrat an ihrem Versuch, die Beherrschung nicht zu verlieren.

„Sie wälzten sich im Bett. Die ganze Nachbarschaft muss es gehört haben.“

„Was nun?“

„Ich habe ihm die Pistole auf die Brust gesetzt: Sie oder ich?“

„Und jetzt hast du ein schlechtes Gewissen, weil du etwas erzwungen hast, dass du aus Liebe freiwillig erwartet hattest?“

Alexandra nickte und weinte jetzt bitterlich. „Ich hatte so große Ideale, und ich habe es wirklich versucht – ganz ehrlich. Aber ich konnte es nicht. Ich wollte nicht eifersüchtig sein, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich habe Gitte geliebt und hätte sie doch am liebsten erwürgt. Ich wollte teilen und konnte es nicht. Ich meine: Wir waren alle begeistert von Erich Fromm und total überzeugt, dass er recht hat und der Weg ins Paradies durch die selbstlose Liebe führt. Aber ich habe Angst bekommen, meinen Mann zu verlieren und dass alles auseinanderfällt – die Kinder, verstehst du? Wir haben doch zwei kleine Kinder!“

„Was ist mit Gitte?“

„Ausgezogen – weg …“

*****

Jahre später: Klassentreffen.

Alexandra ist dick geworden. Und hässlich. Sie hat ihr drittes Kind geboren.

Sie spürt meinen Blick.

„Ich liebe nun mal Kinder“, entschuldigt sie sich bei mir unaufgefordert.

„Ich freue mich für dich,“ erwidere ich und nippe vom meinem Rotwein.

Ich überlege, weshalb sie geglaubt hat, sich rechtfertigen zu müssen. Da fällt mir jene Episode ein, nämlich unser Zusammentreffen an jenem Tag, an dem sie, hätte sie eine Waffe gehabt, ihren Mann am liebsten erschossen hätte.

Sie hätte glücklich sein können, wäre sie nicht vergiftet worden.

28. April 2015
Ilka-Maria
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