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Alt 25.02.2018, 13:46   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Sprachlos

„Sissi?“

Ich bewegte sanft eine ihrer Schultern, um sie nicht im Schlaf zu erschrecken. Sie öffnete die Augen, erkannte mich und lächelte. Ich lächelte zurück.

„Da bin ich wieder. Hab’s dir doch versprochen. Erinnerst du dich?“

Sissi nickte und schaute auf die Tüte, die ich auszupacken begann: Pullover, Wollweste, Mütze mit Ohrenklappen, Handschuhe. Sie brauchte es draußen, denn die Tage wurden kälter. Sie betrachtete jedes Stück einzeln mit Wohlgefallen, legte es neben sich auf die Bank, stand auf, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Sie roch nicht gut, aber daran hatte ich mich gewöhnt.

Erwartungsvoll ging ihr Blick wieder zu meiner Tüte.

„Ich sollte das nicht tun, Sissi, es ist falsch.“

Sie riss mir die Tüte aus der Hand und fischte die Wodka-Flasche heraus. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wusste aber, dass sie den Wodka brauchte. Es nagte an mir, und ich schimpfte mich selbst einen Schlappschwanz, dass ich mich immer wieder von dieser unabweislichen Macht, die man Mitleid nennt, hatte überrumpeln lassen.

Warum spielte ich dieses Spiel mit?

Ohnmächtig sah ich zu, wie Sissi die Flasche öffnete, an den Mund setzte und einen guten Teil des Inhalts in einem Zuge leerte. Zufrieden lehnte sie sich zurück, ohne die Flasche abzustellen, als sei sie die Nabelschnur zum Leben. Der Blick, den sie mir schenkte, war voller Dankbarkeit und ließ mir Herz und Verstand verschwimmen: Sie war glücklich.

Und ich war hilflos. Ich wollte helfen, aber wie konnte ich das durchhalten bei einem Menschen, der nicht sprach? Ich hatte ihre Kumpels befragt, die mit ihr das gleiche Schicksal teilten, sich auf Bänken herumdrückten, Fusel tranken und für die Nacht eine warme Bleibe suchten. Keiner von ihnen hatte sie je ein Wort sprechen hören. Niemand wusste, wie sie wirklich hieß, woher sie kam, was ihre Lebensgeschichte war.

Ich nannte sie Sissi, weil sie mich an Romy Schneider erinnerte. Sie schien hübsch gewesen zu sein, hatte den gleichen Haaransatz, einen ähnlichen Mund, die gerade Nase, überhaupt den ganzen Gesichtsausdruck. Es gab da einen Film, in dem Romy Schneider eine verwahrloste Person spielte, er hieß „Die zwei Gesichter einer Frau“, und beinahe so sah meine Sissi aus.

Sie war heruntergekommen, obdachlos, trunksüchtig, stank zum Himmel – und ich liebte sie auf eine Weise, die ich nicht begründen konnte.

Aber als sie die Wodka-Flache zum zweiten Male ansetzte und ich wusste, dass beim nächsten Zug nicht mehr viel vom Inhalt bleiben würde, war mir klar, dass ich meine Mission beenden musste. Ich stand auf verlorenem Posten.

„Sissi, hör mir zu.“ Ich hatte einen Kloß im Hals. „Ich komme nicht mehr!"

Sie streckte einen Finger zum Himmel und nickte.

„Nein, Sissi. Nicht nur heute. Ich komme überhaupt nicht mehr. Nicht morgen, nicht übermorgen, und nicht in hundert Jahren.“

Ihre Augen weiteten sich. Sie verstand, was ich sagte, und sie nahm mich ernst. Bevor ich mich umdrehen und gehen konnte, hing sie an meinem Hals und begann zu schluchzen.

Wieder war ich hilflos und ließ sie eine Weile gewähren, bevor ich die Kraft fand, ihre Finger von mir zu lösen und sie zurückzuschieben.

„Ich kann dir nicht helfen, Sissi. Es war ein Irrtum.“

Ich drehte mich um und ging meines Weges. Sissi folgte mir wie ein Hund. Ich wollte es nicht glauben, musste aber erkennen, dass ich mir ein Problem eingehandelt hatte.

„Geh zurück zu deinen Kumpels! Sie sind dein Zuhause.“

Sissi schüttelte ihren Kopf, zeigte mit dem Finger auf sich, dann auf mich, und folgte mir weiter.

Fast zu Hause angekommen, überlegte ich, was sie täte, wenn ich ihr die Haustür vor der Nase zuschlüge. Ich sah mich in der Rolle eines Feldherrn, der eine Strategie entwickeln musste, um sein Schlachtfeld zu verteidigen, und zwar möglichst bald.

Mich trennten nur noch wenige Schritte von meiner Wohnung.

„Lass mich nicht allein!“

Ich schloss die Haustür auf.

„Lass mich nicht allein. Bitte!“

Irritiert sah ich mich um, woher die Worte kommen mochten. Aber außer Sissi, die hinter mir stand, war kein Mensch zu sehen.

„Bitte!“

Mir lief es heiß und kalt über den Rücken. Sissi!

Ich nahm sie mit in meine Wohnung, machte ihr einen Kaffee und fragte sie, ob sie mir ihre Geschichte erzählen wolle.

Sie nahm die Tasse mit beiden Händen, schlürfte ein wenig, weil der Kaffee noch sehr heiß war, und begann zu erzählen …
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Alt 25.02.2018, 17:16   #2
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Hallo Ilka-Maria,
Deine Story verführte mich dazu, sie in einem Rutsch zu lesen.
Aber "Sissi" - den Namen halte ich für einen Fehlgriff (auch wenn ihr Äußeres an die Romy Schneider erinnerte). Sissi bringt einen zu "süßen" Touch in die Geschichte. Vorschlag: Saskia.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.02.2018, 17:23   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Saskia.

So nennt man höchstens einen Schlittenhund.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.02.2018, 19:03   #4
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hab ich meiner Freundin in Rostock mitgeteilt. Sie überlegt jetzt nach Lappland umzuziehen, vielleicht findet sie da eine Einschirrung vor den Schlitten.
H.
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Alt 25.02.2018, 19:13   #5
weiblich Ilka-Maria
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Au weia! Das war nicht nett von mir.

Dabei finde ich den Namen sehr schön (Rembrandts Frau hieß Saskia).

Vielleicht klärt das hier ein wenig auf:
https://www.poetry.de/showthread.php...ghlight=Saskia
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Alt 25.02.2018, 19:56   #6
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
das war nicht nur nicht nett, das grenzt an Verballhornung unserer Nachbarn im Osten des Vaterlandes!! Saskia - das ist die Sächsische; sie zu einem Schlittenhund zu machen gliche dem Unterfangen, in Deinem Namen (erster Teil) eine Ähnlichkeit zu Cindy aus Marzahn zu entdecken. "Sissi", da kannst Du machen was Du willst, ist und bleibt Romy in ihrer Rolle als österreichische Kaiserin.
Katja würde zum Wodka passen (in Anlehnung an die große Katharina: "Es schmeckt der Branntwein/in jedem Land fein").
Gruß,
Heinz
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Alt 25.02.2018, 21:39   #7
weiblich Ilka-Maria
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Katja ist ein Name für russische Pianistinnen.

Und jetzt komme mir nicht mit einer anderen Freundin von der Ostsee.

Sissi ist der Kosename für Elisabeth. Auch ein schöner Name. Was ist daran falsch, eine Pennerin mit diesem Kosenamen anzusprechen?
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.02.2018, 21:57   #8
weiblich Zaubersee
 
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Liebe Ilka-Maria,

stimmt, Sissi hat einen süßlichen Touch, wie eben jenes Mädchen das von Romy Schneider unvergessen gespielt wurde. Und genau das empfinde ich als sehr berührend in dieser Geschichte. Dass die Protagonistin, die durch die Hölle gegangen sein muss, dennoch diese typisch Romy Schneider verletzliche Ausstrahlung hatte, dass der Erzähler auf die Idee kam, ihr diesen Namen zu geben. Dieser Kontrast zwischen Romy Schneiders Sissi und dem Leben der obdachlosen Frau, macht den Namen nicht nur vertretbar, sondern gibt der Person hier einen ganz eigenen Charakter. Ich habe am Ende jedenfalls nicht mehr an die ehemalige Kaiserin von Österreich und Ungarn gedacht. Sondern an eine Frau deren Leben irgendwann eine schrecklicher Wendung genommen haben muss und die nach wie vor die kindliche Verletzlichkeit eines Mädchens hatte und sich genau damit ihrer Realität Tag für Tag stellen musste. Ich weiß zwar nicht warum Du als Autorin
diesen Namen tatsächlich gewählt hast, aber in etwa wie oben beschrieben stelle ich es mir vor.

LG Mara
Zaubersee ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.02.2018, 22:22   #9
männlich Heinz
 
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wetten, dass ich mehr russische Pianistinnen kenne als Du?
Die eine heißt Nadia (ich darf sie Nadescha nennen), die zweite Natalia (die heißt bei mir Natascha), die dritte heißt Olga, die vierte Ludmila, die fünfte (keine Russin, sondern Armenierin) Lilith, die sechste Anna-Maria, die siebente Olha (Ukrainerin - soll ich weiter machen? Eine Katja ist nicht dabei.
Du willst mich veräppeln.
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.02.2018, 22:53   #10
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Du willst mich veräppeln.
Heinz

Nein, Heinz, ich will mir keinen schönen Tag aus dir machen - eine tschechische Metapher für "veräppeln".

"Meine" Pianistin heißt Katja, genau gesagt: Ekaterina, und ich kenne sie persönlich.
http://www.ekaterinakitaeva.de/Vita/vita.html

Was soll das "Wetten"? Ist das neuerdings eine olympische Disziplin, möglichst viele russische Pianistinnen an den Fingern abzählen zu können, mit denen man schon mal Tee getrunken hat?

Was meine Geschichte angeht, bleibe ich bei "Sissi". Ich finde den Namen passend. Vielleicht mag jemand weitererzählen. Was ist Sissis Geschichte vor ihrem Niedergang?
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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