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Alt 08.04.2018, 13:38   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der verliebte Jungspecht

Es war einmal ein junger Specht. Als er sicher war, flügge zu sein, trieb es ihn in die Welt hinaus, sie zu erobern.

Er hatte gelernt, seine Krallen in die Baumrinde zu schlagen und den Halt mit seinen Schwanzfedern zu sichern. Er war kein guter Flieger, doch ein Meister in der Kunst des Kletterns. Seine Stelzen und Klauen waren stark. Wenn er müde wurde, hängte er sich zum Schlafen unter einen Ast, wo ihn kein Feind entdecken konnte, und hielt in dieser Stellung aus, bis er wieder munter wurde.

„Er ist soweit,“ konstatierte Mutter Specht und überstimmte Vater Specht, der den Flüggen gerne noch eine Weile behalten hätte, um ihm „den letzten Schliff zu geben“.

Dagegen hätte der Jungspecht nichts gehabt, wenn ihm nicht in diesem Moment ein Spechtweibchen über die Baumrinde gelaufen wäre, in das er sich Sterz über Schnabel verliebte.

Da er nicht der einzige war, der seine schwarzblanken Augen auf das Weibchen geworfen hatte, musste er, um Eindruck zu schinden, Höchstleitungen vollbringen und trotz dieser Maloche auf sein attraktives Äußeres achten. Mehrmals am Tag putzte er sich und achtete streng darauf, dass seine Nebenschwingen wie Schmuckstücke auf den langen Schwanzfedern ruhten.

Obwohl er in das Gelände hineingeboren war, war es nicht leicht, den marodesten Baum zu finden, der genügend Maden, Käfer und sonstiges Insektenzeug beherbergte und die geeignete Konsistenz zum Heraushacken einer Wohnhöhle bot, um die Brautwerbung gegen die anderen Konkurrenten siegreich zu bestehen. Als der Baum geplündert war, das Weibchen aber nach wie vor unschlüssig blieb, kam dem Jungspecht die Freundschaft mit einer Amsel zugute, die ihm einen Regenwurm schenkte, dessen Gewicht den Ausschlag gab.

Das war ein bisschen gemogelt, minderte aber nicht den Stolz, mit dem er das Weibchen in seine Baumhöhle lockte. Es nahm sich Zeit, das Innere zu begutachten, äugte hier und da, ging mal einen Schritt vor, mal einen seitwärts – und schwuppdiwupp, schlüpfte es aus dem Loch, um dem Ruf eines anderen Spechtes zu folgen.

Da hockte der Jungspecht auf dem Rand seines Höhleneingangs, um die Frucht seiner Arbeit und um die Erfüllung seiner Träume betrogen. Als er so vor sich hinbrütete und dabei die Schwingen hängen ließ, erschreckte ihn ein Vogel mit derart knarzigem Gekrächze, dass er dachte, den letzten noch bewahrten Nerv zu verlieren.

„Was bist du denn für ein trauriges Flaumknäuel? Dir hat man wohl gerade den letzten Klauennagel gezogen.“

„Hau ab!“

„Ich denke nicht dran. Warum hämmerst du nicht an der Rinde?“

„Lass mich in Ruhe!“

Doch der Vogel verharrte stur auf seinem Ast und krächzte weiter. „An die Arbeit, du fauler Sack! Was sollen die Waldbewohner sonst von dir halten?“

Empört blickte der Buntspecht auf, hielt jedoch beeindruckt den Schnabel, als er die Quelle des Gekrächzes sah. Vor ihm saß ein Eichelhäher, der ihn mit seinen Knopfaugen vorwurfsvoll musterte.

„Der ist ja noch bunter und hübscher als ich,“ dachte der Specht und fühlte seinen Ehrgeiz erwachen. „Na wartet, dem werde ich‘s zeigen!“ Mit einem einzigen Schwung heftete er sich an die Baumrinde und begann wie besessen auf die Rinde einzutrommeln, dass es bis an die Ränder des Waldes zu hören sein musste. Es dauerte nicht lange, da eilten die Vögel aus der Nachbarschaft herbei, um ihm bewundernd bei der Arbeit zuzuschauen. Trotzdem war er überrascht, als sich ein junges Spechtweibchen neben ihn an den Baumstamm krallte. Mit seinen schwarzen, grauberingten Augen sah es ihn freundlich an.

„Darf ich dir beim Speisen Gesellschaft leisten?“

Der Buntspecht vergaß, den Käfer zu schlucken, den er gerade aus einem Rindenspalt gepickt hatte. Statt auf die Frage zu antworten, bot er seine Beute mit der galantesten Geste, zu der er fähig war, dem Weibchen an, das sich nicht zierte, sein Geschenk zu akzeptieren.

Ihm fiel auf, dass das Brustgefieder des Weibchens nicht reinweiß war wie bei seinen Artgenossinnen, sondern einen zarten Rosaschimmer aussendete. „Die ist aber hübsch!“, dachte er bei sich und wünschte, er hätte den fetten Wurm noch, den ihm die Amsel gespendet und den er leichtsinnig der falschen Braut vermacht hatte.

„Ist das deine Höhle?“, wollte das Spechtweibchen wissen.

Das Herz des Buntspechts machte einen Hüpfer. „Willst du sie sehen?“

„Gerne.“

Er hüpfte voran, und das Weibchen folgte ihm.

Der Eichelhäher sah es mit Genugtuung. „Na, wenn das keine glückliche Saison bedeutet, will ich nicht mehr Häher heißen. Dann werde ich mich mal diskret entfernen.“ Er flog auf und davon, nicht ohne den gefiederten Zuschauern auf den Ästen die Mahnung zu krächzen, sich von jetzt an um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
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Alt 08.04.2018, 15:48   #2
männlich Heinz
 
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Hallo Ilka-Maria,
abgesehen davon, dass Du uns hier eine herzige Geschichte erzählst, macht es doppelte Freude, wenn eine Naturschilderung so en passant auf einer gründlichen Naturbeobachtung basiert. Pass auf, jetzt zeig ich Dir, dass ich von Dir was gelernt habe: Die Adoleszenz eines Raken ist in jugendfreier Form zu Papier gebracht.
Mir hat die kleine Geschichte gefallen.
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.04.2018, 16:17   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City, auf der richtigen Seite des Mains
Beiträge: 31.043


Mir hat sie auch Spaß gemacht, Heinz, und zwar beim Schreiben (sie ist übrigens Unar gewidmet, was ich zu erwähnen vergaß).

Ich habe auch dabei etwas gelernt. Zunächst wollte ich dem bunten Specht eine Grünspechtin zur Seite geben, da ging aber eine Alarmglocke an. Und was ergab meine Recherche: Fortpflanzung unter verschiedenen Spechtarten funktioniert nicht. Also musste eine Buntspechtin herhalten.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.04.2018, 00:06   #4
weiblich Unar die Weise
 
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Beiträge: 5.271


Ach fein.
Da geht's um die Liebe.
Ist das niedlich.
Ich mag die Geschichte sehr.
Sie kommt auch auf meine Favo-Liste

Danke, liebe Ilka. Ich freue mich.
Ich fühle mich sehr geehrt und ein bisschen beschämt.
(Kann ich nicht so gut mit umgehen, immer.)

Nachtgruss
Unar
Unar die Weise ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.04.2018, 09:31   #5
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
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Zitat:
Zitat von Unar die Weise Beitrag anzeigen
Ich fühle mich sehr geehrt und ein bisschen beschämt.
(Kann ich nicht so gut mit umgehen, immer.)
Warum ? Du wolltest die Geschichte doch haben. Also habe ich geliefert. Hat Spaß gemacht.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.04.2018, 10:01   #6
weiblich Unar die Weise
 
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Ja, das richtig.
Ich bin manchmal komisch.
Aber alles gut.
Unar die Weise ist offline   Mit Zitat antworten
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