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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 12.04.2016, 11:54   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798

Standard Der Ruf der Höhe

"Muss das ein reiches Leben sein
hier bei den armen Hirten,
dass sie mit Käsebrot und Wein
und ganz umsonst bewirten!"

Ein letzter Blick in freier Luft
hinüber zu den Gipfeln.
Bald schmeichelt uns der Tannenduft
von uns geneigten Wipfeln.

"Auch", sag ich, "dieser Augenblick
flieht allzu bald von hinnen
und kehrt dann nimmer mehr zurück."
"Du musst dich nur entsinnen."

"Ach Liebste, hörst du diese Ruh?
Das ist der Ruf der Höhe."
Du nickst mir leise lächelnd zu,
da streift uns eine Böe.

Und plötzlich türmt ein Sturm sich auf,
dein Halstuch fortzutragen.
"Wir schaffen es nicht mehr hinauf.
Lass uns den Abstieg wagen!

Bleib dicht bei mir!", erkläre ich,
dein Griff an meinem Nacken.
Doch augenblicklich löst er sich,
mit dir hinabzusacken.

Und augenblicklich legt die Ruh
gespenstig sich um alles.
Der Geist des Widerhalles
wirft mir ein "Bleibe bei mir!" zu.

Mir steigt nun totgewiss empor,
dass wir hier gestern waren.
Auch starbst du schon am Tag zuvor
und so seit vielen Jahren.

Dann kehr ich in die Klause ein
und tränke, reich bemessen,
Erinnerung in schweren Wein
und such darin Vergessen.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.04.2016, 17:57   #2
Thing
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Oh, lieber Schmuddelkind!

welch eine Wanderung in die Vergangenheit, bitter, wehmütig, traurig - und so frohlockend am Beginn!
Die erste und die letzte Strophe sind eindeutig meine Favoriten.

Daumen hoch
vom grüßenden

Thing
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Alt 12.04.2016, 18:23   #3
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Sehr gut gemacht, liebes Schmuddelkind. Besonders die siebte Strophe gefällt mir, die vor der Folie gespenstischer Ruhe genau zwischen den Versen mit Paarreim den Moment von Aufprall und Tod markiert.

Chapeau!

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.04.2016, 18:30   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Alter: 60
Beiträge: 6.687

So schön verdichtet erzählt. Wunderbar gemacht.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.04.2016, 18:41   #5
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.043

Eine Ballade, die in der Idylle beginnt und in der Trauer endet. Zwischen den Zeilen meine ich Schuldgefühle zu verspüren.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.04.2016, 18:59   #6
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Ich auch.
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2016, 00:25   #7
männlich Schmuddelkind
 
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Alter: 38
Beiträge: 4.798

Vielen lieben Dank fürs Lesen eines solch langen Gedichts und natürlich auch für eure Kommentare!

Zitat:
welch eine Wanderung in die Vergangenheit, bitter, wehmütig, traurig
Genau - das ist es! So habe ich es zumindest gemeint. War einigermaßen lose inspiriert von Lenaus Schilfliedern und da fand ich schon das Motiv so erschütternd nachvollziehbar, dass man sich immer wieder dem Unerträglichen auszusetzen hingeneigt fühlt. Allerdings ist es hier, wohl im Unterschied zu den Schilfliedern so, dass das ständige Erinnern eine Konsequenz des Vergessens bzw. Verdrängens ist. Ich denke, dass man nur auf Erlösung hoffen kann, wenn man sich dem Schmerz, der Hilflosigkeit und der Angst stellt.

Zitat:
Die erste und die letzte Strophe sind eindeutig meine Favoriten.
Du meinst, weil sich der Kreis dort wieder schließt? Lustigerweise habe ich die beiden Strophen als erstes geschrieben.

Zitat:
Besonders die siebte Strophe gefällt mir, die vor der Folie gespenstischer Ruhe genau zwischen den Versen mit Paarreim den Moment von Aufprall und Tod markiert.
Schön, dass dir auch der formale Einschnitt ins Auge gestochen ist! Denn natürlich ist es auch inhaltlich und in der Stimmung ein Einschnitt. Dass der Sturm so plötzlich verstummt, habe ich als ein Indiz dafür gelesen, dass in dem Moment die Illusion in sich zusammenbricht und da das LI nur noch den Widerhall seiner Worte als Zuhörer vernimmt, statt die Worte als Sprecher zu betrachten, scheint es wie ein Ruf aus der einzig sinnhaft verbliebenen Welt des Todes. So zumindest habe ich es gelesen.

Zitat:
So schön verdichtet erzählt. Wunderbar gemacht.
Vielen lieben Dank!
War nicht so einfach, einerseits inhaltlich alles unterzubringen und andererseits nicht zu deskriptiv zu werden; bin auch noch immer nicht ganz sicher, ob mir das optimal gelungen ist, aber ich bin zumindest selbst auch nicht unzufrieden.

Zitat:
Eine Ballade, die in der Idylle beginnt und in der Trauer endet.
Leider. Trauer und Glück kommen wohl kaum ohne einander aus, schätze ich. Und dazwischen liegt die Apathie.

Zitat:
Zwischen den Zeilen meine ich Schuldgefühle zu verspüren.
Zwischen welchen Zeilen liest du sie heraus? Bin mir nicht ganz sicher, kann aber auch sein. Das Gedicht gibt beim zweiten Lesen auf jeden Fall noch ein wenig mehr her, als man ihm zunächst ansieht ("Du musst dich nur entsinnen." "Ach Liebste, hörst du diese Ruh? Das ist der Ruf der Höhe.") . Da ist auf jeden Fall eine unterbewusste Beschäftigung mit der Tragödie, vielleicht auch Schuldgefühle - bewusst sind diese mir allerdings nicht.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2016, 00:30   #8
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
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Ort: Arrival City, auf der richtigen Seite des Mains
Beiträge: 31.043

Aus den drei letzten Strophen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2016, 00:59   #9
männlich Schmuddelkind
 
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Beiträge: 4.798

Ja, OK. Vielleicht ist auch die Reaktion, sich die Erinnerung wegzusaufen, in einem Schuldgefühl begründet. Das mag schon sein. Und wenn ich so drüber nachdenke: das sich wiederholende Erleben dieser schrecklichen Situation kann vielleicht auch eine Selbstpeinigung sein.

Danke jedenfalls für den Interpretationshinweis!
Finde es immer spannend, von anderen Lesern auf Lesarten der eigenen Gedichte hingewiesen zu werden.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.04.2016, 23:17   #10
weiblich Ex-Letreo71
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Ort: Niedersachsen
Beiträge: 4.032

Hallo Schmuddelkind,

ein wirklich großartiges Gedicht! Macht beklommen.

Sehr gern gelesen und zu meinen Favoriten hinzugefügt.

Lieben Gruß

Letreo
Ex-Letreo71 ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.04.2016, 10:16   #11
männlich Schmuddelkind
 
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Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798

Dankeschön, Letreo!

Freut mich sehr, dass es dir gefällt.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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berg, vergessen, verlust

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