Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 21.03.2010, 19:14   #1
weiblich sternenglanz
 
Benutzerbild von sternenglanz
 
Dabei seit: 03/2010
Ort: Ostthüringen
Alter: 32
Beiträge: 26


Standard Der Tod einer Frau

Der Tod einer Frau

Ich hatte immer gewusst, dass Jane anders war. Sie war viel verschlossener, schweigsamer und unauffälliger als andere junge Frauen in ihrem Alter. Und eben das war es, was sie für mich so interessant machte. Sie war kein Stück so wie andere Menschen.
Immer war sie umgeben von einem mysteriösen Schweigen. Immer war sie gehüllt in einen Nebel von Geheimnissen. Und sie hatte tausend Geheimnisse. Im Grunde genommen wusste ich nicht viel über sie. Ich wusste, wie sie war und dass sie immer so sein würde. Ich wusste, dass sie Jane Lemontree hieß, ein durchaus ungewöhnlicher Name, dem sie das ein oder andere Mal in ihrer Art durchaus gerecht wurde. Es gab tatsächlich Tage, an denen sie sauer war wie eine Zitrone. Und kalt wie ein Eisblock.
Diese Tage überwiegten.
Ich dachte, sie sei schon immer so gewesen. Zumindest war sie es seit ich sie kannte. Zu dem Zeitpunkt, da ich sie traf, war sie siebzehn Jahre alt. Siebzehn. Und verbittert wie eine alte Frau. Aber das störte mich nicht. Ich stellte mir vor, dass es eben etwas in ihrem Leben gegeben hatte, dass sie so hatte werden lassen. Und dass dieses etwas so furchtbar gewesen war, dass sie nicht darüber sprechen konnte. Denn das tat Jane nie. Sie sprach nie über sich und sie antwortete auch nie auf Fragen. Ein Außenstehender hätte nicht einmal gemerkt, dass sie überhaupt existierte. Doch das tat sie. Sie existierte.
Für mich war Jane trotz ihres verschlossenen und mystischen Wesen ein ganz besonderer Mensch. Sie war die Liebe meines Lebens und ich wusste, dass ich das gleiche für sie war. Doch dieses schreckliche Erlebnis schien sie innerlich aufzufressen und so fiel es ihr schwer, nach außen hin etwas anderes als Kälte und Verbitterung zu zeigen.
Oft war ich traurig. Ich weinte. Ich weinte, weil ich meine große Liebe nicht verstand. Ich weinte, weil meine große Liebe sich selbst nicht zu verstehen schien. Jeder Tag war wie das Ende. Jeden Tag befürchtete ich, die ohnehin schon angegriffenen Blüten ihrer Seele könnten endgültig verwelken. Jeden Tag hatte ich Angst, aufzustehen. Ich hatte Angst, neben mich zu blicken und zu sehen, dass die Stelle neben mir leer war.
Und eines grauen Novembertages war sie es. Sie war leer. Die Seite des Bettes, auf der sie zehn Jahre lang gelegen hatte, war leer. Und sie sollte leer bleiben.
Ihr Ende bedeutete für mich zwei Sachen. Ich vermisste Jane und mein Herz blutete unaufhörlich. Es blutete, weil Jane den Kampf gegen ihre eigene Erinnerung verloren hatte. Es blutete, weil meine Liebe zu ihr offenbar nicht stark genug gewesen war, um ihr das Leben zu retten. Ich weiß, dass ich zu viel von der Liebe verlangte. Aber ich hatte von Anfang an gehofft, Jane durch sie retten zu können. Mein Hoffen war vergebens.
Ich hatte Jane verloren.
Doch dieser Verlust bedeutete eben nicht nur Verlust im eigentlichen Sinne. Er bedeutete auch, dass ich Jane endlich verstand. Ich verstand, dass sie schon immer verloren gewesen war. Zumindest seit dem Geschehnis, das sie so verändert hatte. Ich verstand, dass Gott mich nicht geschickt hatte, um sie zu retten, sondern, um ihr die letzten Jahre ihres Lebens so schön wie möglich zu gestalten. Es hatte immer festgestanden, dass Jane sterben musste. Dass sie diese Welt früher verlassen musste als ich und als so viele andere Menschen. Ihre Vergangenheit hatte sie gelenkt. Hatte sie letztendlich genommen.
Nachdem ich Jane auf dem Küchenboden gefunden hatte - kalt und starr und doch schön wie eine Mamorstatue - schwor ich mir, sie zu rächen. Nicht indem ich Menschen verletzte, nicht indem ich mordete. Sondern indem ich herausfand, was sie so zerfressen hatte. Ich wollte, dass sie dort, wo sie nun war, wusste, dass ich sie verstand. Und dass ich sie immer noch liebte. Dass ich es immer tun würde.
Doch als ich schließlich - ein Jahr nach ihrem Tod - die Tragödie ihrer Jugend aufdecken konnte, wünschte ich mir, ich hätte es nie getan. Die Wahrheit war so grausam, so entsetzlich - letztlich sogar absurd. Grausamer, entsetzlicher und absurder als alles was ich jemals erlebt oder gesehen hatte.
Ich sah Jane in einem völlig anderen Licht. Ich achtete sie dafür, wie sie mit ihrem Leben umgegangen war. Ich achtete sie für jeden einzelnen Schritt, den sie gemacht hatte, obwohl die schwere Last auf ihren Schultern sie stetig niederdrückte. Und schließlich achtete ich sie dafür, dass sie sich auf mich eingelassen hatte - nach all dem, was ihr in ihrem kurzen Leben widerfahren war.
Ich, Constantin Pauls, war der einzige, dem Jane jemals wieder vertrauen konnte. Ich war derjenige, neben dem sie zehn Jahre lang schlief. Ich wusste nun, dass ich sie doch gerettet hatte. Indem ich ihr gezeigt hatte, dass nicht alle Menschen sich von ihr abwandten. Dass nicht alle Menschen so waren wie er.

Jane Lemontree war zwölf Jahre alt, als ihr Vater sich das erste Mal an ihr verging. Sie war vierzehn, als er ihre vier Jahre jüngere Schwester im Rausch ermordete. Sie war fünfzehn, als sich ihre Mutter das Leben nahm. Sie war sechzehn, als sie schwanger wurde und das Kind verlor. Sie war siebzehn, als ihr Vater sich das letzte Mal an ihr verging. Sie war 28, als sie sich an einem grauen Novembermorgen das Leben nahm.
sternenglanz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.03.2010, 02:03   #2
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Hallo Sternenglanz,

es ist immer schwierig einen verschlossenen Menschen zu charakterisieren. In dieser Geschichte fehlt mir ein bisschen die liebenswerte Seite an Jane, es wird nicht klar, warum sie für Constantin so besonders war. Der Hinweis im dritten Absatz nimmt leider das Ende vorweg. Jane verliert dadurch für mich zu früh ihre mysteriöse Aura:

Zitat:
Und dass dieses etwas so furchtbar gewesen war, dass sie nicht darüber sprechen konnte.
Aber Wut, Verzweiflung, Schock, Emotionen, die Constantin empfunden haben muss, als er ihr Geheimnis lüftete, kommen ein bisschen zu kurz. Dann ist die Geschichte insgesamt ein wenig langatmig und könnte im Mittelteil gerafft werden.

Trotzdem gerne gelesen. Die Idee ist sehr gut, das Ende zwar vorhersehbar, dafür aber mit dem Holzhammer. Ein guter Schluss. Am Schreibstil gibt es für mich gar nichts auszusetzen. Gefällt.

Liebe Grüße,

Aquaria
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der Tod einer Frau

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Das Gefühlsleben einer Frau Teil 1 Daerwina Lebensalltag, Natur und Universum 2 13.10.2009 16:20
Frau am Steuer Berchner Sonstiges Gedichte und Experimentelles 2 15.11.2006 13:18
Die Frau, die süß Blaui Liebe, Romantik und Leidenschaft 0 24.10.2006 20:18
Die morsche Frau stoppelfeld Düstere Welten und Abgründiges 1 21.05.2006 19:27
Brief an Frau Liebe lalelu Liebe, Romantik und Leidenschaft 2 06.02.2006 10:24


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.