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Alt 21.03.2020, 10:13   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Eine subjektive Betrachtung über soziale Wesen und mehr

Eine subjektive Betrachtung über soziale Wesen, Abstand und Einsamkeit (vollständiger Titel)

Es heißt, der Mensch sei ein soziales Wesen und brauche soziale Kontakte. Was mich betrifft, stimmt entweder diese Weisheit nicht oder mit mir stimmt etwas nicht. Wenn ich als Teenager zu einer Party eingeladen war, freute ich mich nicht darauf, sondern hatte Angst davor. Ich ging zwar trotzdem hin, war aber immer froh, wenn die ersten zwei oder drei Stunden vorbei waren, die Leute unaufmerksamer wurden und man nicht mehr jeden Neuankömmling begrüßen musste (weil dann in der Regel ja alle bereits da waren). Natürlich erzählte ich keinem von meiner Macke - die hätten mich ja alle für nicht normal gehalten.

Als Erwachsene hatte ich schon immer wenig freundschaftliche oder soziale Kontakte. Und was ich gar nicht leiden kann, sind Hände schütteln und Umarmungen, was mir in der jetzigen Krise natürlich sehr zupass kommt. Früher konnte ich mich nicht dagegen wehren, wenn mich z. B. eine Arbeitskollegin aus irgendeinem Anlass umarmt hat (Geburtstag z. B.). Ich kann es noch nicht mal leiden, wenn es jemand macht, den ich gut leiden kann, auch nicht in normalen Zeiten (Ausnahmen sind selbstverständlich mein Mann und meine Kinder). Jetzt kann ich den Leuten komplett aus dem Weg gehen, denn Abstand halten ist angesagt und noch nicht einmal unhöflich, sondern lebensnotwendig. So konnte ich es mir bei einer Arbeitskollegin endlich verbitten, dass sie mich an der Schulter anfasst, was sie in schöner Regelmäßigkeit praktizierte und was mir schon immer auf die Nerven ging. Ich konnte mich ja nicht wehren.... Wäre doch unhöflich und unfreundlich gewesen und sie womöglich nachher beleidigt. Also hielt ich die Klappe und ärgerte mich.

Also vermutlich bin ich eine seltsame Ausnahme unter den sozialen Wesen. Aber was ist - auch für Menschen, die gerne viele soziale Kontakte haben - noch schlimmer, als 2 m Abstand halten zu müssen und sich nicht umarmen zu können? Ich tippe auf Einsamkeit, völlige Einsamkeit. Und die hat man, wenn jemand aus dem sozialen Umfeld stirbt. Mein früherer Lebensgefährte ist nach langer Krankheit vor einigen Jahren gestorben und die Einsamkeit war unerträglich. Nach der Arbeit fuhr ich zuerst zum Friedhof und redete mit ihm. Ging nach Hause und er war nicht da und ich wusste, dass er nie mehr kommen würde. In der Situation gab es keinen Trost mehr, von niemandem und deshalb wollte ich auch allein sein.

Soziale Kontakte eine Zeitlang zu vermeiden, erscheint vielleicht manchem hart. Die totale Einsamkeit, wenn jemand aus dem sozialen Umfeld stirbt, erscheint mir sehr viel härter. Die Maßnahmen, die jetzt getroffen werden, damit Menschen sich nicht treffen, werden auch wieder aufgehoben.
Aber Tote kommen nie wieder.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2020, 10:22   #2
männlich Eisenvorhang
 
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Hi :-),

der Text gefällt mir ganz gut, obwohl das Ende sehr kühl wirkt, zu kühl für ein LI mit soziale Phobien.

Ich sehe Einsamkeit immer als Chance und Reifungsprozess im Geist.
Wenn Menschen plötzlich gehen ist das sehr hart für Menschen, die immer unter Menschen waren und das nicht anders kennen.
Der plötzliche Verlust einer Freundschaft, neben dem eines Partners, kann sich im gleichen Maße anfühlen wie der Tod eines Menschen.

Ich denke, dass in Anbetracht der Umstände, die Menschen das besser wegstecken als man denken mag. Der Virus wird genauso schnell verschwinden, wie er gekommen ist.

Ich lebe bereits viele Jahre allein ohne soziale Kontakte und das Coronaleben zieht an mir nahezu spurlos vorbei.

vlg

EV
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Alt 21.03.2020, 11:03   #3
weiblich Ilka-Maria
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Guten Morgen, Silbermöwe,

ich glaube, die "Zeitung" im letzten Absatz soll "eine Zeitlang" heißen.

So ungewöhnlich, wie du denkst, ist Kontaktscheu nicht. Das ist einerseits eine Sache des Temperaments und andererseits der Sozialisierung. In meiner größtenteils preußischen Familie war es nicht üblich, sich um den Hals zu fallen; und der andere Familienflügel - bayerische Dörfler und Bauern - waren eine herbe Gattung, bei denen der harte Alltag im Vordergrund stand und für Herzlichkeiten wenig Sinn bestand.

Ich bin auch vorwiegend introviertiert und kann mich nicht erinnern, jemals von mir aus auf jemanden zugegangen zu sein. Es waren immer die anderen, die mich aus der Reserve lockten. Offensichtlich war es gerade meine Zurückhaltung, die sie neugierig gemacht hatte.

Obwohl ich ein Einzelkind war, habe ich mich nie allein gefühlt. Wenn ich Lust hatte, mit anderen Kindern zu spielen, hatte ich dafür meine Anlaufstellen. War niemand da - auch gut. In unserem Hof gab es genug zu entdecken, und wenn es nur die Ameisengänge unter den Ziegelsteinen waren oder die Katakomben des ehemaligen Vorhauses, die vom Krieg übriggeblieben waren. Als ich ein bisschen älter war, verbrachte ich sowieso die meisten Nachmittage im Kino oder in der Jugendbücherei. Als ich später verheiratet war, genoss ich besonders die Wochen, in denen mein Ex-Mann auf Geschäftsreise war und ich ungestört meinen Lieblingsbeschäftigungen nachgehen konnte (er hasste es, mich mit einem Buch in der Hand zu sehen).

Introvertiert veranlagt zu sein sagt aber längst nichts über die Bindungsfähigkeit eines Menschen aus. Bei mir ist sie besonders stark ausgeprägt, äußert sich aber anders als in Umarmungen, die sowieso nichts beweisen. Wenn mein Sohn oder meine Freunde mich brauchen, bin ich für sie da, wenn es sein muss, bis zur Nibelungentreue. Dabei ist wichtig, nicht den Fehler zu machen, das Gleiche zurückzuerwarten, sonst begibt man sich freiwillig in psychische Abhängigkeit und progammiert sich seine Enttäuschung selbst. Leben und leben lassen, dann kommt man ganz gut zurecht mit den Beziehungen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2020, 13:05   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo Eisenvorhang,

danke für deinen Kommentar. Warum das Ende zu kühl für ein LI mit sozialen Phobien ist, erschließt sich mir nicht ganz, warum sollte gerade ein solches LI nicht kühl sein?

Zitat:
. Ich lebe bereits viele Jahre allein ohne soziale Kontakte..... .
Wenn man sich allein wohlfühlt, ist das doch wunderbar.

Hallo Ilka,

danke für den Tipp mit der "Zeitung", das war die Autokorrektur des Handys. Ich habe es geändert.

Zitat:
. Wenn mein Sohn oder meine Freunde mich brauchen, bin ich für sie da, wenn es sein muss, bis zur Nibelungentreue. Dabei ist wichtig, nicht den Fehler zu machen, das Gleiche zurückzuerwarten, sonst begibt man sich freiwillig in psychische Abhängigkeit und progammiert sich seine Enttäuschung selbst. Leben und leben lassen, dann kommt man ganz gut zurecht mit den Beziehungen.
Da stimme ich uneingeschränkt zu. Bekannte oder Freunde, die alles ohne Grund für einen tun, waren mir auch schon immer suspekt. Eine Bekannte sagte mir mal, ich bräuchte mich nicht bei ihr für eine Gefälligkeit zu bedanken, aber ich müsste dann auch immer für sie da sein. Ich habe den Kontakt danach auf ein Minimum herunter geschraubt.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2020, 13:52   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Eine Bekannte sagte mir mal, ich bräuchte mich nicht bei ihr für eine Gefälligkeit zu bedanken, aber ich müsste dann auch immer für sie da sein. Ich habe den Kontakt danach auf ein Minimum herunter geschraubt.
Dumm gelaufen. Das kommt dabei heraus, wenn man seine Worte nicht vorher bedenkt. Wahrscheinlich hatte sie etwas anderes sagen wollen, z.B.: "Nicht nötig, dass du dich bedankst, ich weiß ja, dass du umgekehrt genauso handeln würdest."

Das ist zwar nur eine Vermutung, würde mich aber nicht wundern, denn solche missverstandenen Botschaften begegnen mir tagtäglich. Mit Aussagen wie "du musst" sollte man besonders vorsichtig sein. Ich mache in diesem Fall das Gegenteil von dem, was von mir erwartet wird, oder ich reagiere gar nicht.

Der kanadische Psychologe Jordan Peterson gilt als Meister des überlegten Wortes. Er findet es sehr wichtig, gerade in der direkten Kommunikation jedes Wort zu wägen. Es ist interessant zu beobachten, wie es ihm in Interviews gelingt, sich an diesen Grundsatz zu halten. Ihm das Wort im Mund umzudrehen und eine Meinung anzudichten, die er nicht vertreten hat, ist quasi unmöglich.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2020, 14:08   #6
männlich Eisenvorhang
 
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Ich mache in diesem Fall das Gegenteil von dem, was von mir erwartet wird, oder ich reagiere gar nicht.
Das tue ich auch! Wobei ich grundsätzlich immer reagiere, um nicht von der Macht der Ignoranz gebrauch zu machen (Die immer zerstörerisch wirkt, achtung! Damit will ich nicht behaupten, dass Du ignorant handelst... )

@Silbermöwe

Du hast recht: Mit der SP geht oft HSP (Hochsensibilität) einher, trotzdem sind die Menschen mit übersteigerter Angst oft emotional abgekapselt, weswegen ich hiermit meine Kritik zurückziehen will. Generell ist sowieso jeder Mensch anders, weswegen das alles passt.

Der Text wirkt sehr authentisch, was ihn sehr stark macht.

vlg

EV
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2020, 23:00   #7
männlich Andri
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Hallo Silbermöwe und die anderen,
ich habe ja in einem anderen Faden das mit den sozialen Wesen geschrieben und gewiss will ich es nicht revidieren.
Aber nur zu gut weiß ich, dass dies sehr relativ ist, bin ich doch selbst sehr eigen in meinem Sozialverhalten. Nun ist meine Einsamkeit, oder soziale Distanz eine andere als die von Silbermöwe, die anders als die von Ilka und wieder anders bei Eisenvorhang. Aber ein verbindendes Element ist es bestimmt, etwas was einem diesen speziellen Analyseblick auf das Zusammenleben und im besonderen auf die Abläufe im eigenen Ich gibt. Das was einen vermutlich auch schreiben lässt (Außer der Eitelkeit natürlich)

Mir sind nun gerade die sozialen Veranstaltungen verhasst, die andere nicht müde werden als besonders und wichtig darzustellen, so insbesondere gemeinsame Essen im Familienkreis, ich flüchte das wie ich nur kann. Meine Frau beispielsweise findet mein Verhalten grob unhöflich, ist es wohl auch.
Generell bin ich kein Freund der freundschaftlichen Geselligkeit, ich kann in einer freundschaftlichen Runde kaum kommunizieren, außer sie ist formal, also ein Meeting oder so.
Selbst würde ich mich als freundlich, aber unfähig zur Geselligkeit charakterisieren, wobei ich auf manche Menschen in meiner Art sogar anziehend wirke. Ilka sagte sowas auch. Aber klar, bestimmt bin ich freundlicher als sie

Um die Kurve wieder zu kriegen: Trotzdem sind wir NICHTS ohne die anderen. Unser Ich entsteht erst in den Reaktionen unserer Eltern auf unsere ersten Regungen, all unser Denken, Fühlen, Handeln entstand nur im Spiel und Gegenspiel mit den anderen. Unser Denken ist vollständig sozial induziert und lebt von der Komplexität der Interaktion. Das gilt mit vielen Einschränkungen sogar für Autisten. Ich bin mir sogar sicher, dass es auch bei außerirdischen Wesen so sein müsste, Intelligenz ist nur im Austausch erwerbbar, nur da notwendig.
Uns hat die Natur sogar ganz besondere Bausteine unseres Denkens mitgegeben und das sind die Emotionen, und wenn wir dann denken in unserem sozialen Kontext, funkelt unser Denken in den Farben dieser Bausteine, dann wird das was in uns denkt erst lebendig, dann erst fühlen wir es....uns selbst.
LG
Andri
Andri ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2020, 23:16   #8
männlich Eisenvorhang
 
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So unterschiedlich sind wir nicht Andri.

Im oberflächlichen Umgang funktioniere ich sehr gut, strahle soziale Versprechen aus, die ich aber bei sich steigernder Nähe nicht einhalten kann. Unnahbarkeit hörte ich schon desöfteren.

Ich komme mit mir allein sehr gut klar und die Konsequenzen verdränge ich entweder unbewusst, oder sie besitzen ein eher geringes Gewicht.

Neurotypen funktionieren im Vergleich zu Menschen im Spektrum aber wahrlich anders.

vlg

EV
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.03.2020, 21:31   #9
männlich dr.Frankenstein
 
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Ort: Zwischen den Ostseewellen ertrunken
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Unsere Sozialkonformintimität steht ja im Konkurrenzkampf mit dem Weltbild, was ja aus angeborenen Charaktereigenschaften im Austausch mit der dargebotenen sozialen Umwelt in die wir geboren werden steht.
Es gibt ja gewisse Theaterstücke, die wir mit ständig neuen Schauspielern Improvisiert wiederholen, nur das Gegenüber ist ja auch immer in seinem eignen Theaterstück.
Man kann ja in einer Umarmung, ein früheres allein gelassen werden sehen oder in der Annahme nur eine Person könne einem das alles geben, einen früheren Aufmerksamkeitsmangel kompensieren, oder oder oder...

Wobei soziale Kompetenz ja viel mehr Vorteile bringt als die Fähigkeit etwas zu verstehen oder sich nicht hinters Licht führen zu lassen... Aber auch die Einsamen trägt das System mit und gerade im Moment, haben Einzelgänger endlich mal die besten Karten.
Dieser Wunsch nicht allein zu sein, kann ja auch oft ein Hindernis sein.
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