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Alt 30.10.2020, 08:38   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Lucys Entlassung 🦇 *

Eine Stadt in Illinois, Oktober 2019

Lucy nahm das Gewehr aus dem Schrank. „Ist es nicht zu groß?", dachte sie, während sie es sachte anhob und auf ein imaginäres Ziel richtete. Evan würde wissen, was sie vorhatte, bevor sie nur einen Schuss würde abfeuern können. Oh, wie sie ihn hasste! Waren genug Kugeln im Lauf? Sie schaute nach. Das Magazin war voll. Sie würde alle abfeuern... Eins, zwei, drei... Alle sechs... Zwei Kugeln für all die Schläge, denen sie nicht ausweichen konnte. Zwei für die gebrochene Nase vor einem halben Jahr. Zwei dafür, dass er sie regelmäßig einschloss und dafür sorgte, dass sie niemanden benachrichtigen konnte. Bestimmt hatte er nicht damit gerechnet, dass sie das Gewehr finden würde. Und nicht damit, dass sie es benutzen würde. Peng... Peng.. Peng... Peng... Peng... Peng...
Erschrocken fuhr sie auf. Es war derselbe Traum. Immer wieder durchlebte sie das Geschehen von damals, als sie ihren Ehemann erschoss. Während der ganzen Jahre im Gefängnis war der Traum regelmäßig wiedergekehrt, jede Woche. Es hatte sich nichts geändert, als Lucy erfuhr, dass sie in diesem Jahr noch entlassen werden sollte, am 30. Oktober, drei Monate früher als vorgesehen. Lucy wusste nicht warum. Vielleicht brauchten sie im Gefängnis Platz.
Lucy sank zurück auf das Kissen. Egal, ob der Traum wiederkehrte - ab morgen war sie frei. Und Evan war tot, so tot, wie man nur sein konnte.

Am nächsten Tag wurde sie von ihrem Bruder David abgeholt.
„Danke, dass ich bei euch wohnen darf", brachte Lucy heraus.
„Bedank dich bei Helen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dir eine eigene Wohnung besorgt. Helen meinte, das sei zu schwer für dich."
Daraufhin sagte Lucy nichts mehr.
Helen, 20 Jahre jünger als ihr Mann, war hochschwanger. Sie nahm Lucy in den Arm und küsste sie. „Herzlich willkommen, Liebes."
Als Lucy nichts erwiderte, lächelte sie. „David war nicht begeistert von meiner Idee. Aber ich habe zu ihm gesagt, dass du deine Strafe abgesessen hast und er dir vergeben soll. Bis du auf eigenen Füßen stehen kannst, hast du bei uns ein Zuhause."
„Und ihr demnächst einen kostenlosen Babysitter", schoss es Lucy durch den Kopf.
„Du musst nichts sagen", fuhr Helen fort. „Ich kann mir denken, wie schwer das alles für dich ist. Komm mit, ich zeige dir dein Zimmer."

Peng... Peng... Peng...Peng... Peng... Peng...
In der ersten Nacht in Davids und Helens Wohnung kehrte der Traum wieder. Lucy wachte auf, glaubte, das Knallen der Kugeln zu hören und hielt sich die Ohren zu. Würde sie nie ihren Frieden finden? Hatte sie nicht gebüßt, zählten die vielen Jahre im Gefängnis nichts? Sie hatte jahrelang nicht geweint. In dieser Nacht ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Am nächsten Tag erschien sie nervös und mit roten Augen am Frühstückstisch. David war bereits zur Arbeit aufgebrochen. Helen sah sie an und erschrak. „Geht es dir gut?"
Lucy schüttelte den Kopf. „David hat recht. Ich werde mir eine eigene Wohnung suchen. Ich bin eine Zumutung für euch."
„Blödsinn!" Helen schenkte ihr Kaffee ein und wartete ab, bis Lucy einen Schluck getrunken hatte. „Du bleibst erstmal hier", sagte sie und zögerte kurz, ehe sie wieder sprach. „Würde es dir etwas ausmachen, heute Abend alleine zu bleiben? David und ich sind auf eine Halloween-Party eingeladen und haben vor Wochen fest zugesagt. Vielleicht ist es das letzte Mal vor der Geburt, dass ich in aller Ruhe ausgehen kann. Aber wenn es dir lieber ist, bleibe ich hier."
Lucys Lebensgeister erwachten. „Kommt nicht in Frage!", protestierte sie und brachte ein Lächeln zustande. „Ihr verderbt euch nicht wegen mir den Abend. Es macht mir nichts aus, allein zu sein."
„Du kannst natürlich auch ausgehen, wenn du magst. Ich gebe dir den Haustürschlüssel", bot Helen an und sah Lucy erstaunt an, als diese bei dem Wort „Haustürschlüssel" zusammenzuckte. Evan hatte ihr ihn damals weggenommen und dieser Geste mit ein paar Schlägen Nachdruck verliehen.
„Nein, ich bleibe lieber hier."
„Wie du möchtest". Helen schob ihr den Brötchenkorb hin. „Greif erstmal zu", forderte sie ihre Schwägerin mit einem Lächeln auf. Scheu lächelte Lucy zurück.

Am Abend schaute sie Helen, die sich als Hexe verkleidete, beim Kostümieren und Schminken zu.
„Du siehst toll aus!"
„Danke, Liebes."
„Als was verkleidet David sich?" Lucy hatte ihren Bruder nur flüchtig gesehen, als er von der Arbeit kam. Seitdem war er in seinem Schlafzimmer verschwunden.
„Als mein schwarzer Rabe. Er braucht nur einen Umhang und das reicht. Warum er so lange braucht, um sich umzuziehen, ist mir ein Rätsel."
Lucy lachte, obwohl sie sicher war, dass David sich wegen ihrer Anwesenheit nicht blicken ließ.
„Und was macht du heute Abend?", fragte Helen.
„Fernsehen schauen. Es kommen ein paar Gruselfilme, einer mit Bette Davis. Ich liebe Bette Davis."
„Ja, sie ist toll. Viel Spaß!"
Eine halbe Stunde später verließen David und Helen die Wohnung. Endlich alleine! Aufatmend setzte Lucy sich vor den Fernseher.
Der Film „Sweet Sweet Charlotte" hatte gerade begonnen, als es an der Tür klingelte. Lucy überlegte, ob sie öffnen sollte. Das waren sicher Kinder, die „Süßes oder Saures" wollten. „Belohnst du mich, verschon ich dich... " Solche Sprüche hatten David und sie als Kinder an Halloween an der Haustür aufgesagt. Aber Lucy hatte keine Süßigkeiten und sie wusste nicht, wo Helen welche aufbewahrte. Sie entschloss sich, so zu tun, als sei niemand da, löschte das Licht und stellte den Fernseher so leise, dass sie kaum noch etwas verstand. Es klingelte noch einmal, dann hörte sie ein Kind rufen: „Es macht keiner auf! Weitergehen, Leute!"
Erleichtert ließ sie sich in den Sessel sinken. Ihr war nicht wirklich nach diesem Brauch zumute gewesen.
Sie blickte auf den Fernseher. Wie ärgerlich, das Bild fing an zu flackern! Ausgerechnet, wo es endlich richtig gruselig wurde. Lucy stand auf, um das Licht einzuschalten.
„Setz dich hin", sagte eine Stimme von der Couch her. Lucy erstarrte. Wie hatte es jemand geschafft, hier unbemerkt herein zu kommen? Kurz nach dieser Überlegung überfiel sie mit voller Wucht eine andere: Die Stimme klang wie die Evans!
Peng... Peng... Peng... Peng... Peng... Peng
Lucy hielt sich die Ohren zu. Von der Couch kam ein hämisches Lachen. „Man kann seine schlechten Taten nicht vergessen, nicht wahr, Lucy? Du kennst dich aus."
Die Gestalt war nur schemenhaft zu erkennen. Sie schien leicht über der Couch zu schweben. Das Gesicht ähnelte einer Fratze, und trotzdem war es eindeutig Evans Gesicht. Lucy starrte in die Richtung.
„Ja. .. Peng... Peng... Halt dir nur die Ohren zu, als ob das was bringen würde. Was glaubst du, wie oft ich das noch höre?". Wieder folgte ein hämisches Lachen. Lucy zitterten die Knie.
„Was willst du hier, Evan?" fragte sie mit heiserer Stimme. „Geh ins Licht!" Das sagte man doch zu Geistern, die ihren Frieden nicht fanden und ruhelos auf Erden wandelten?
„Ich werde ins Licht gehen, liebste Lucy. Aber heute ist Samhain. Du weißt, was das bedeutet?"
Lucy nickte. An Samhain mischte sich die Welt der Lebenden mit der der Toten. Sie hatte das nie geglaubt.
„Willst du mich nicht um Verzeihung bitten, liebste Lucy? Weil du mich ermordet hast?"
„Nein!" schrie sie. „Du hast mich jahrelang gequält, du hast mich geschlagen, mich eingesperrt, du hast mir das Leben zur Hölle gemacht, du... "
„Lucy!" Die Stimme hatte einen begütigenden Ton angenommen. „Das alles gab dir nicht das Recht, mich umzubringen."
Lucy schluchzte. „Ich habe gebüßt. Ich war jahrelang im Gefängnis."
„Du hast bei den Menschen gebüßt, aber nicht bei den Geistern", sagte die Stimme in einem merkwürdigen Singsang. „Du kannst es wieder gut machen, liebste Lucy. Du kannst mit mir gehen. Dann wird dir von den Geistern vergeben."
„Du verdammtes Arschloch!" Lucy griff nach dem nächstbesten Gegenstand - in diesem Fall ein großer hölzerner Kerzenständer vom Wohnzimmertisch - und stürzte auf die Gestalt auf der Couch zu, die ihr höhnisch lachend auswich. „Was soll das, Lucy? Willst du mich nochmal ermorden? Weißt du nicht, dass du einem Geist nichts tun kannst?"
Lucy spürte einen eiskalten Hauch. Dann wurde es schwarz um sie.

„Wirst du morgen mit ihr reden? Du kannst ihr nicht ewig aus dem Weg gehen." Helen schloss die Haustür auf.
„Ich weiß es noch nicht." David zog seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Aus dem Wohnzimmer war leise der Fernseher zu hören.
„Sie wird eingeschlafen sein", vermutete Helen.

Zwei Stunden später saßen David und Helen sich fassungslos gegenüber. Der Notarzt hatte nur noch Lucys Tod feststellen können. Was passiert war, konnte er nicht sagen. „Herzversagen", tippte er. Die von ihm herbeigerufene Polizei hatte kein Fremdverschulden feststellen können.
„Ich wollte, ich hätte mich mit ihr ausgesprochen", sagte David. „Ich konnte ihr nicht verzeihen. Und jetzt ist es zu spät."
Helen stand auf, um ihren Mann in die Arme zu nehmen. Dabei fiel ihr ein weißer Zettel auf dem Boden auf. „Was ist das?" Stirnrunzelnd faltete sie den Zettel auseinander.
Ein einziges Wort war zu lesen, quer über die Seite geschrieben: Peng!

*inspiriert von Jasons „Küchentisch"
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Alt 30.10.2020, 09:27   #2
weiblich Ilka-Maria
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Guten Morgen, Silbermöwe,

Respekt, deine Schuld-und-Sühne-Geschichte ist stringent aufgebaut, inhaltlich schlüssig und liest sich flüssig. Durch die Einheit von Ort und Zeit sowie der Einhaltung einer Drei-Personen- bzw. Vier-Personen-Struktur erfüllt sie die Kriterien der klassischen Kurzgeschichte. Das Thema, aus einer "anderen Welt" (Gefängnis) in die normale Welt zurückzukehren, aber unversehens wieder in eine "Anderwelt" gezogen zu werden (Totenreich), ist äußerst reizvoll. Gothic tale!

An den Dialogen könnte man feilen, da ist manches überflüssig, und Evans Part könnte noch wesentlich bedrohlicher klingen. Das wäre schon deshalb eine gute Sache, weil durch Halloween der Gruseleffekt angekündigt wird (guter Kniff!).

Der Perspektivwechsel am Ende der Geschichte stört mich persönlich. Ich hätte die Story bei "... wurde es schwarz um sie", enden lassen und noch dazugesetzt: "Für immer." Der Leser hätte getrost ein bisschen raten können, woran Lucy gestorben ist. Schließlich zeigt die Geschichte in jedem Absatz, wie schwer sie an ihrer Schuld getragen hat und dass sie nervlich nicht gut drauf gewesen ist, sich sogar als eine Ausgestoßene, als ein nicht mehr tragbares Element für die Gesellschaft erweist.

Der zitierte Film heißt nach meiner Erinnerung richtig "Hush, hush, sweet Charlotte". Deutsch "Wiegenlied für eine Leiche". Passt gut zu deiner Story.

Bei dem Raben würde ich das "schwarz" streichen. Ebenso klingt das "peng, peng, peng ..." karikaturiv und deshalb für mich ein bisschen komisch. Hier wäre eine Umschreibung vielleicht sinnvoller, wie z.B., dass das Echo des Schusses in Lucys Kopf ständig wiederkehrte und quälend lange nachhallte. Ist möglicherweise eine Sache des Geschmacks.

Insgesamt: Mit großem Interesse gelesen!
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Alt 30.10.2020, 19:27   #3
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Guten Abend, Ilka,

vielen Dank für deine lobenden Worte und die sachliche Kritik! Ich freue mich sehr.

An der Geschichte habe ich auch ziemlich lange gearbeitet. Ich wollte unbedingt eine Halloween-Geschichte schreiben, habe mehrere Entwürfe für andere Geschichten gemacht, war aber nicht zufrieden. Auf dieses Schuld-und-Sühne-Thema kam ich zuletzt, aber dann hat das Schreiben endlich geflutscht. Ich habe die Geschichte auch mehrmals überarbeitet, bis ich zufrieden war, mir also mal richtig Arbeit damit gemacht.

Ich finde auch, dass die Sache mit Evan etwas bedrohlicher sein könnte, leider steht mir da mein Pragmatismus etwas im Weg, weil ich mich nie grusele...obwohl ich wahnsinnig gerne Horrorfilme schaue. Aber da kann man visuell arbeiten, da ist Leute erschrecken viel einfacher.

Was den Filmtitel betrifft, hast du recht. Ich habe mir den Film vor kurzem angesehen und fand ihn wahnsinnig gut. Bette Davis ist eine meiner Lieblingsschauspielerinnen.

Der Perspektivenwechsel am Schluss stellt mich auch nicht so wirklich zufrieden, deine Idee ist gut, aber vielleicht etwas zu abrupt. Der Leser sollte schon wissen, dass Lucy tot gefunden wird und es sich niemand erklären kann.

Zitat:
. Durch die Einheit von Ort und Zeit sowie der Einhaltung einer Drei-Personen- bzw. Vier-Personen-Struktur erfüllt sie die Kriterien der klassischen Kurzgeschichte
Das ist mir beim Schreiben noch nicht mal aufgefallen - also es kam automatisch.

Vielen Dank für deinen Kommentar!

LG DieSilbermöwe
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Alt 30.10.2020, 19:54   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
An der Geschichte habe ich auch ziemlich lange gearbeitet.
Das merkt man ihr an. Für mich deine bisher beste Geschichte.
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Alt 31.10.2020, 11:38   #5
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Vielen Dank!
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