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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 23.08.2008, 15:34   #1
NicoleSchnitzer
 
Dabei seit: 06/2005
Beiträge: 29

Standard Gefangen im eigenen Körper

Am 17.08.1985 wurde ich auf die Welt geholt. Die Ärzte entschieden, ich wurde nicht gefragt. In der DDR war es nicht üblich genauer nachzusehen. Die Wehen wurden eingeleitet, künstlich und da war ich. In einer kalten, grellen Welt in der ich atmen musste, es aber noch gar nicht konnte. Ich war noch viel zu jung für die Geburt, die Lunge nicht ausgebildet und als sie ihr “Versehen” bemerkten, war es schon fast zu spät. Ich kam in ein anderes Krankenhaus, weit weg von meiner Mutter. Viele Wochen blieb ich dort, sah Mutter und Vater nur ab uns zu durch eine Glasscheibe, für ein paar Sekunden, dann musste sie wieder gehen. Damals war es nicht üblich, das die Eltern zu ihren Frühchen durften.
Von dem ganzen Mist behielt ich Asthma zurück, als mich meine Eltern abholen durften.
Ich zog ein in eine Zwei-Raumwohnung und kämpfte dort bis zu meinem dritten Lebensjahr um die Funktion meiner Lungen. Teure Medikamente aus der Schweiz bekämpften das Asthma schließlich und ich wurde ein scheinbar ganz normales Kind. Ich fuhr mit meinen Eltern an die Ostsee, mein Vater buddelte Löcher für mich, bis wir auf Grundwasser stießen, ich fütterte Schwäne, war wirklich glücklich.
Ein kleiner “Junge“, der immer wieder von anderen Menschen etwas zu Essen im Restaurant bekam, weil er den Fisch nicht wollte und so süß aussah:

Dann kam der Kindergarten. Nicht weiter tragisch. Ich fand schnell Freunde, in der Sauna allerdings auch den Unterschied zwischen Mann und Frau heraus und damit ging der ganze Scheiß los. Ein Junge vor mir trug etwas zwischen den Beinen. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Wofür das gut war konnte ich mir wohl auch nicht vorstellen, als ich es hin und her schubste und dabei “Bim Baum” rief. Mit so etwas war ich nicht auf die Welt gekommen, logisch war ja auch als Mädchen geboren worden.

Die Zeit verging, ich kümmerte mich nicht weiter darum. Spielte wie die anderen Jungen im Matsch. Spazierte mit meinen Eltern durch den Wald und suchte Pilze und durfte tolle rote Latzhosen tragen. Bis zum Schulanfang ging das gut, dann kam die Zeit der Röcke und Kleider. Toll, die Kratzen, störten beim Spielen und durften ja nicht dreckig werden. Welch unnütze Erfindung und dann noch diese lieb gemeinte Aussage meiner Eltern, als der erste Schultag vor der Tür stand:
“Du wirst, ganz bestimmt schnell Freunde finden.”
Ja von wegen. Die Schule selbst war kein Problem. Auch mit jedem Lehrer kam ich gut aus. Ich lernte gern, wollte unbedingt schreiben und lesen können. Das war allerdings auch das Einzige, wozu ich in die Schule ging. Das ich mich nicht wohl fühlte, bekamen die anderen Kinder schnell mit und wer unsicher ist, wird zum Opfer. Ich wurde geschlagen, getreten, beschimpft und wusste noch nicht einmal warum. Nur mit den anderen Außenseitern freundete ich mich an, aber die waren schnell weg, wenn man mich schlug.
Ich hingegen konnte nie zusehen, wenn jemand geschlagen wurde und so stellte ich mich vor meine zukünftige beste Freundin, als sie angegriffen wurde. Wir freundeten uns an, trafen uns später in der Mittelschule wieder.

Mit der neuen Klasse hörten die Schläge in der Mittelschule auf, dafür bildeten sich Gruppen. Die Jungen blieben unter sich, eben so wie die Mädchen. Das wurde besonders deutlich beim Sportunterricht. Getrennte Stunden und lästige Umkleidekabinen. Und wohin gehörte ich nun. Ganz klar für alle, zu den Mädchen. Immerhin taten die weiblichen Hormone ihr bestes, meinen Körper zu verändern. Ich bekam einen Busen, die erste Regelblutung und wusste mit beiden nichts an zu fangen. Während sich alle Mädchen besonders über die Oberweite freuten, störte mich das ständige auf und ab der Hautkugeln beim Laufen, beim Sport. Was raten Mütter da, zieh einen BH an. Blöd nur, dass selbst ein Sportbh nicht wirklich hilft und lästig ist. Im Sommer schwitzt man sich kaputt und reiben tun sie auch. Schlimmer als das, waren allerdings die Mädchenumkleidekabinen. Nun wurde ich dumm angeschaut, nur weil ich mir nicht die Beine enthaarte oder Schminke auflegte. Ich hatte ja noch nicht mal darüber nach gedacht das zu tun. Wozu sollte das auch gut sein?
Selbes Problem der Tanga. Ein Strick im Po, nicht nur unangenehm auch völlig unpraktisch. Da kann man auch gleich Nackt herum laufen. Erschwerend kam hinzu. Ich hatte noch keinen Freund. Wollt ich auch gar nicht. Aber keinen Freund zu haben, ist als Mädel das selbe wie, als Junge absichtlich den Sportbeutel zu vergessen. Man ist schlicht und ergreifend das Weichei der Mädchengruppe.
Nach über einem Jahr Hänselei, kam ich dann wohl nicht umhin dies und das aus zu probieren. BH, Beinrasur, Tanga. Alles kotzte mich an. War nur dazu da, dass man mich zu frieden ließ. Ein Freund stellte sich auch nicht ein, dafür wurde ich dick. Ich blieb zu Hause, obwohl mich eigentlich nichts in der Wohnung hielt, ich war ein Kind der Natur. Ich begann Videospiele zu spielen und mit meinen wenigen Freunden Rollenspiele. Kleine Stofftiere wurden zu Figuren mit Namen und einer Geschichte. Alles was ich im Alltag nicht durfte, oder nicht konnte, verpackte ich in diesen Figuren. Es waren stets Jungen. Ein Schneeleopart mit dem Namen Schnee (Wie einfallsreich ) Ein Junge der immer seine Freundin retten musste, mit dem Namen Fireball und ganz oft Löwenjungen die sich durch die Savanne kämpfen mussten. (Ich hatte damals eindeutig zu oft der König der Löwen gesehen) Begleitet wurde all das von schrecklichen Träumen. Ich war ein Junge der im Heim lebte, später ein Straßenkämpfer in New York, der eine Gang führte. Irgendwann begann ich all das auf zu schreiben. Mir meine Welt in einem Roman zurecht zu träumen.

Was um mich herum stattfand begriff ich sowieso nicht. Warum mussten Frauen auch so fies untereinander sein? Freundinnen, die sich doch eigentlich immer mochten, schmiedeten Komplotte gegeneinander. Ein Junge wurde wie eine Trophäe umkämpft. Ausnahmslos alles war erlaubt. Betrügen, Lügen. Ich sah dem allen nur Kopfschüttelnd zu. Warum konnten sie sich nichts ins Gesicht sagen, das sie einander nicht ausstehen konnten? Die Welt der Frauen ist mir bis heute noch oft ein Rätsel. Sie könnten es so viel einfacher haben, wollen sie aber gar nicht.
Zu all dem kam die monatliche Regelblutung. Kein Mann kann sich dieses Grauen vorstellen. Während man von Schmerzen, gleich einer tracht Prügel im Unterleib, gepeinigt wird, stinkt man noch wie ein Fisch der zu lange in der Sonne gelegen hat. Dank dem Blutverlust ist man kaputt und ausgelaugt. Dazu kommt, vergisst man den Mist mal, versaut man sich die Klamotten und will man kein Tampon benutzen, sitzt und steht man die ganze Zeit in dem Scheiß. Kein Wunder das die Frauen in der Zeit so gereizt sind. Noch dazu hat man mehr Lust und mag sich zeitgleich weder selber anfassen, noch jemand anderen an sich heran lassen, weil man sich einfach nur schmutzig fühlt. Da soll “mann” mal keine Depressionen bekommen.

Mit Roman und Rollenspiel überstand ich die Zeit irgendwie, kümmerte mich aber im Gegenzug auch nicht um meinen Körper. Wenn interessierte wie lang und hässlich die Haare waren, oder wie viel ich wiegte. Ich erkannte mich sowieso nicht im Spiegel und miet ihn daher. Bis ich irgendwann meinen Appetit verlor, schlagartig wieder schlank wurde. Ich aß einfach nichts mehr in der Schule. Seltsam nur, die Hänselleinen hörten nicht auf. Wo ich zuvor noch dachte ich wäre einfach zu Dick gewesen, wurde ich nun eines besseren belehrt. Es musste also irgend etwas anderes nicht stimmen?
Ich verstand es aber lange nicht. Dachte einfach, gut dann bin ich wohl nicht hübsch genug und scherte mich nicht mehr um die anderen und ihr Gerede. Sie fingen an mit Zigaretten und Alkohol ich lernte über andere Kulturen, sprach mit meinem Vater über die Wunder der Natur und sah viele Naturdokumentationen. Ich wollte alles wissen, wie ein neugieriges Kind, stürzte ich mich in alles was mir interessant genug erschien. Die Entwicklung von Kindern, das Denken anderer Völker, Phänomene.


Irgendwann heiratete schließlich meine Cousine. Neben der Hochzeit meiner Eltern, war ich auf keiner gewesen. Aber vielleicht war das ja die Gelegenheit allen zu beweisen, dass auch ich hübsch sein konnte. Ich lieh mir ein blaues, sau teures Kleid aus, ging zum Frisör und ließ mir große Engelslocken machen. Alle waren so Stolz. Mutter, Oma, meine Vater, alle Verwanden. Überall hörte ich, och wie hübsch. Und was dachte ich? Ich hasste das Kleid und die Haare. Kam mir vor als wenn ich nackt wäre. In den Schuhe konnte ich nicht laufen und mich elegant zu bewegen lag mir nicht. Am Abend nach der Hochzeit brach ich daheim in Tränen aus. Was war nur los mit mir? Ich hatte allen gefallen nur mir selbst nicht.

Die Schulzeit verging wie im Flug, dann stand das Arbeitsleben vor der Tür. Ich hatte und wollte mich nie damit beschäftigen. Während alle um mich unbedingt erwachsen sein wollten, wollte ich Kind bleiben. Die hatten es einfacher. Keine Beziehungen, keine Arbeit und die kleinen Kinder waren noch frei von Geschlechterfragen.
Trotzdem, es half alles nichts. Mir blieb am Ende nur die Entscheidung zwischen Rollladen und Sonnenschutzmechatroniker und Blumenbinderin. Ich hasste Blumen und entschied mich für die Rollläden. Ein Glück weiß ich heute.

Die Lehrzeit gab mir mein Selbstbewusstsein wieder. Ein Junge dort wurde mein Vorbild, meine erste große Liebe. Ich bewunderte seine lebenslustige Art. Auch wie er einfach zu dem stand, was er mochte, ganz gleich ob andere das als kindisch abtaten.
So wollte ich auch sein. Ich lernte viel über Schwächen und Stärken eines Menschen und das beides zusammen gehörte. Ein Jahr lang fühlte ich mich sau wohl. Auch ohne die Erfüllung der Liebe, den der Junge war vergeben.
Ich war das einigste Mädchen der Klasse. Kein Gemeckere über die Frisur oder nicht rasierte Beine. Im Wohnheim, in dass ich immer für ein bis drei Wochen musste, herrschten rauere Sitten. Es wurde geschubst, gerangelt, gestänkert und sich wieder vertragen, ohne lange zu fackeln. Keine wochenlang geplante Rache. Jungen sind einfach und praktisch gestrickt.
Ich ging mit Billiard spielen, hielt es auch in der verqualmten Spielhalle aus, futterte mit den Kerlen um die Wette, Schlug sie alle im Kampfsportvideospiel Tekken und beging dabei einen schweren Fehler. Ich wollte mit machen, mit schubsen, einer von ihnen sein und merkte dabei gar nicht, dass sie ganz andere Pläne hatten. Einer der Jungen glaubte Nachhilfe in Mathe sei eine Einladung mir auf die Pelle zu rücken. Ein anderer glaubte Schubsen sei ein Vorspiel. Je wohler ich mich unter ihnen fühlte und mit spielte, um so anhänglicher wurden sie. Aber das war nicht was ich wollte. Sie waren alle nur gute Freunde und sollten es auch bleiben. Zwei von ihnen glaubten sie müssten mit mir zusammen sein. Ich spielte mit, nur um fest zu stellen, dass es mir nicht gefiel auf dem Oberkörper eines Mannes zu liegen, dass es mir auf die Nerven ging, anhänglich umschmusst zu werden. Ich machte mit beiden Schluss bevor wirklich eine Beziehung daraus wurde und zog mich zum Schluss wieder in meinen Roman zurück.
Ich hatte begriffen was mit mir nicht stimmte. Aber das allein war keine Hilfe, eher ein neuer Tiefpunkt. Ich konnte kein Junge sein, ich war nun mal als Frau auf die Welt gekommen und nicht einmal als Lesbe machte ich mich wirklich gut.

Ich verliebte mich in meine beste Freundin, gestand ihr meine Gefühle, tat alles um sie zu gewinnen. Aber sie wollte keine Frau. Dabei hatte ich sie nicht einmal als Frau versucht zu erobern. Sie bekam meine Jacke wenn ihr kalt war, ich schenkte ihr Ringe und durfte im Gegenzug zusehen wie sie sich von einem Kerl nach dem anderen Verletzen ließ. Ich brachte schließlich Abstand zwischen sie und mir, sah mich weiter um und versuchte es bei einer anderen Freundin die nichts gegen Frauen hatte, aber sie machte mir schnell klar was sie in mir sah, ganz gleich was ich ihr erzählt hatte.
Zu ihrem Geburtstag wollte ich sie ins Kino einladen, aber sie wollte nicht mit. Ich nun ohne Geschenk stand ziemlich blöd da. Da schlug sie als Geschenk vor, mich mal richtig hübsch zu machen. Toll. Ich und Schminke. Ich erfüllte ihr notgedrungen den Wunsch. Wurde aufgetakelt wie ich war, zur nächsten Dönerbude geschleift und prompt von einer Arbeitskollegin gesehen. Dabei wusste Melanie alles. Ich hatte ihr davon erzählt, dass ich kein “Mädchen” bin. Trotzdem hat sie mich dazu genötigt.
Nach dem Abend bin ich nach Hause und versuchte mir Daheim die Schminke aus dem Gesicht zu kratzen. Allerdings eher vergebens. Während ich im Schminken keine Ahnung hatte, so waren mir auch keine Abschminktechniken bekannt.
Vor dem Spiegel brach ich schließlich zusammen. Alles was ich da sah, war nicht ich und keiner wollte mir glauben, oder hörte mir zu.

Ich erzählte meine Eltern davon. Sie hielten es für eine Phase, über fünf Jahre lang, war es nur eine dumme Idee für sie. Ich glaubte ihnen nicht und verzweifelt daran, das sie mir nicht glaubten. Schließlich zog ich mich ins Internet zurück. Probierte mich auch da in Rollenspielen aus und lernte als Enrico eine Frau namens Silke kennen. Wir verliebten uns, ohne das ich ihr je meine wahre Identität preis gab. Sie begann einen Satz ich wusste ihn zu beenden. Aber auch diese Beziehung beendete ich. Nie hätte ich ihr sagen können, wer ich wirklich war, ohne vor Scham im Boden zu versinken. Da log ich lieber.

Nach Silke begann ich offen mit meinem Gefühl um zu gehen. Ich wollte ein Liebe nicht wegen Lügen aufgeben müssen. So lernte ich Marie kennen und lieben. In einer Kurzschlussaktion zogen wir innerhalb weniger Tage zusammen, ohne uns je gesehen zu haben. Ich endlich von Daheim weg und das mit einer Frau die mich liebte. Ich war wie im Himmel. Zudem wusste sie bescheid, auch wenn wir für alle das Lesbenpaar waren, so war ich zu Hause der Mann. Der der sich um das Geld kümmerte. Die Familie zusammen hielt.
Da wir keine Kinder haben konnten, kamen Katzen dazu, fünf Stück, aber es ging nicht ewig gut.

Ich fühlte mich nicht Lesbisch. Ich war normal, aber wurde nie so behandelt. Auf der Straße wurde dumm geschaut. Im Familienkreis, wurde mir oft gesagt, ich solle mir etwas besseres suchen. Dazu kam der Verlust meiner Arbeit. Mein Chef meinte ich wäre nicht reif genug. Sollte erst wieder kommen, wenn ich erwachsener wäre. Ja von wegen. Ich passte nur nicht in den Frauenbetrieb. Mit den Intrigen da, konnte ich nicht mit halten. Auch spielte ich die Machtkämpfe nicht mit. Ohnehin wurden die Arbeitsbedingungen immer schlimmer dort. Zum Schluss wagten die Frauen nicht mal aufs Klo zu gehen, weil sie sich gegenseitig zu viel Stress machten. Ich war also im Nachhinein froh nach der Lehre und zwei Jahren Arbeit dort, das Feld räumen zu können. Doch was machen mit so viel Freizeit? Klar, Roman schreiben. Ich schrieb einen von sieben Bänden zu ende, dachte viel über mich selbst nach und kam zu keiner Lösung. Zu hören wollte mir auch keiner, so wurde ich Depressiv. Verschlief ganze Tage, hatte Selbstmordgedanken und ging schließlich zum Arzt. Wollte das mir geholfen wird. Ich bekam eine Überweisung zum Psychologen und ging dort zum ersten Gespräch. Ein Mann, der sich mit mir unterhalten sollte. Ich erzählte ihn von meinem Problemen, wurde aber auch da nicht ernst genommen. Nicht einmal meine Selbstmordgedanken waren ihm ernst. Ich wollte ja auch noch eine Weltreise machen. Es konnte ja gar nicht so schlecht um mich stehen. Scheinbar durfte man keine Träume mehr haben. Andererseits wollte ich auch gar nicht auf der Stelle tot umfallen, ich wollte nur das die Gedanken daran aufhörten, dass das nicht der einzige Weg blieb. Es sollte aufhören, bevor es vielleicht zu spät war. Doch was bekam ich. Eine Telfonliste und die Aussicht, dass die Leute darauf eh erst in einem Jahr Zeit für mich hätten. Ja klar. Ich rief nicht an, hatte mein Vertrauen in die Ärzte verloren. Lebte so weiter, bis eines Tages eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch kam.
NicoleSchnitzer ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.08.2008, 15:56   #2
NicoleSchnitzer
 
Dabei seit: 06/2005
Beiträge: 29

Standard RE: Gefangen im eigenen Körper

Ein neuer Job ganz nah, nur zehn Minuten weg. Sicher, ich hätte mich freuen sollen. Alle haben das, ich nicht. Ich hatte mir vor genommen Romanschreiber zu werden. Mit 10 Stunden auf Arbeit unmöglich. Das Letzte woran ich mich fest hielt, zerbrach, würde ich hin gehen. Ich wusste schon so, dass mich der kleine Betrieb, mit meiner Ausbildung, sicher nehmen würde. Immerhin hatte ich den Beruf erlernt und alle die in dem Betrieb arbeiten nicht. Aber ich wollte nicht, wie sollte ich auch. Ich war Depressiv, wollte vor der Welt meine Ruhe haben. Anderseits brauchte ich das Geld. Nach einem dreiviertel Jahr zu Hause, drohte ich ins Harz IV zu fallen. Meine kleine Familie inklusive Katzen brauchten das Geld. Immerhin verdiente Marie in ihrer Lehre nicht genug und hatte sowieso Schwierigkeiten mit dem Umgang unseres Geldes.
Einen Abend vor dem Vorstellungsgespräch brach ich zusammen. Ich konnte und wollte nicht stark sein und meinen Lebenstraum aufgeben für die Arbeit. Einmal nur wollte ich aufgeben. An dem Abend versuchte ich mir den linken Arm auf zu schneiden, allerdings mit mäßigem Erfolg. Man sah nicht viel mehr als ein paar rote Striemen. Dennoch rief meine Freundin meine Eltern und die kamen auch noch am selben Abend. Ich erzählte ihnen von meinen Bedenken, auch von meiner Identitätskrise und bekam nur zu hören, ich sollte doch ja zum Vorstellungsgespräch am nächsten Tag gehen. Wieder Verständnislosigkeit. Ohne eine Lösung die auch ich akzeptieren konnte, verschwanden sie wieder.

Am nächsten Tag war ich allein. Marie auf Arbeit und ich aufgeregt wegen dem Vorstellungsgespräch. Ich hatte schon längst entschieden, dass ich da durch musste. Auch ohne alle anderen, die meinten mir ins Gewissen reden zu müssen. Ich ging also, trotz meinem Zusammenbruch am Abend und ohne Schlaf. Eigentlich völlig fertig und hörte dabei Musik. Die meines Lieblingssängers und machte mir selbst Mut. Es war ja auch wie immer niemand da, der das hätte übernehmen können. Ich dachte an eine Figur aus meinem Roman, so wie immer, wenn es mir schlecht geht und schaffte das Gespräch, fing noch in der selben Woche in dem Betrieb an.

Alle waren freundlich, die Bedingungen Familiär. Ich blieb also, sammelte durch mein Können auch wieder ein wenig Selbstbewusstsein. Mein Problem löste es dennoch nicht. Erzählte ich zum Beispiel von meiner Freundin, musste ich erst ganz deutlich darauf hin weißen, dass sie meine Partnerin war und dann war ich logischerweise Lesbisch. Normalität gab es nicht. Ich wurde zwar deswegen nicht beleidigt, aber es störte mich, es immer erst erklären zu müssen.
Schlimmer noch als das, war das Alu abladen. Streng geteilt in Mann und Frau. Bis heute hasse ich es. Die Männer vorn ran die Frauen hinten und wo stand ich? Genau, hinten. Dort wo es schön leicht war, denn ne Frau kann ja weiß Gott nicht so schwer tragen. Ich wurde schlicht und ergreifend unterschätzt, ohne dass ich es je versucht hatte. Dabei hatte ich ihnen allen erzählt, wie es um mich steht, dass ich eigentlich keine Frau bin. Gab es etwas das nicht aufging, hieß es dennoch, geh in den Keller frag nen Mann. Selbst vom Chef wurde von vorn herein gesagt, ich bräuchte nicht an den Maschinen arbeiten. Hallo, ich hatte das gelernt. Ich wusste ne Säge zu bedienen, auch konnte ich ne Bohrmaschine benutzen. Es half nichts, bis heute.

Erst vor wenigen Stunden hatte ich’s mal geschafft mir den Platz ganz vorn am Alu zu ergaunern. Aber ich kam nicht weit. Gerade mal drei Schritte, dann risse es mir ein Kerl aus der Hand und meinte nur, das bekommst du eh nicht um die Ecke. Auch von den Frauen kam sofort. Stell dich hinten an. Ich war so sauer, dass ich erst mal mit dem Fuß gegen die Wand trat und vor mich hin geflucht habe. Was brachte es eigentlich denen von meiner Transsexualität zu erzählen, wenn sich nichts an ihrem Verhalten ändert. Am liebsten wäre ich sofort gegangen und hätte sie mit ihrem Mist da stehen lassen…

Vor all dem wurde meine Mutter krank. Der Stress bei ihr auf Arbeit und mit meinem alkoholkranken Vater gab ihr den Rest. Sie bekam Magenschmerzen, konnte nichts mehr Essen. In wenigen Wochen nahm sie 10 Kilo ab. Kein Arzt konnte ihr Helfen. Sie war nicht krank im eigentlichen Sinne. Da half keine Medizin. Schließlich begann sie eine Ergotherapie. Aus Sorge ging ich mit, lernte die Therapeutin kennen und sprach mit ihr auch über meine Probleme. Zunächst wieder ohne Erfolg. Es wurde hin genommen, das war’s. Je öfter ich allerdings mit ging und hin und wieder erzählte, um so mehr glaubte sie mir und erzählte mir schließlich von einem Patientin, die sich hatte umoperieren lassen und wollte nun wissen, ob das auch etwas für mich wäre. Ich war sofort Feuer und Flamme. Ein Weg, endlich ein Weg den ich gehen wollte. Ich hab mich noch am selben Abend im Internet kundig gemacht. Mit anderen Transsexuellen gesprochen und endlich Menschen gefunden, die mich verstanden, die unter den selben Problemen litten.

Einen Tag später fuhr ich zu meiner Tante. Mein Entschluss war schon gefallen und ich erzählte ihr und auch meiner Cousine davon. Sie waren sofort interessiert. Meine Tante meinte sogar, dass ich mich nie wie ein Mädchen benommen hätte. Endlich, ein Mensch der mich kannte und das von mir behauptete. Ich war so froh und erleichtert, dass ich mir das alles nicht nur einbildete. Als wir nach Hause wollte, verabschiedete sie mich mit meinem ausgesuchten Namen. Enrico. Noch nie im Leben hatte ich mich so sehr über etwas gefreut, war noch nie so überglücklich gewesen. Ich hätte Bäume ausreisen können. War bereit alles zu ändern, nie wieder die Maske der Frau auf zu setzten, ganz gleich was andere dann dachten oder sagten. Wenn mein Weg heute etwas schwer ist, denke ich oft an diesen Tag zurück. An das Gefühl, als sie mich bei meinem Namen nannte. Weiß ich mal nicht wofür ich den ganzen schweren Weg auf mich nehme, bin ich mir danach ganz sicher. Ich will dieses Namen und den Körper der dazu gehört.

So einfach wie erhofft wurde es allerdings nicht. Ich bekam nicht mal einen Termin beim Hausarzt. Der hatte Urlaub. Mein Tatendrang musste warten. Zu lange, dann endlich hatte ich’s bis ins Arztzimmer geschafft und durfte mir wieder anhören. “Aber das hätte ich nun nicht gedacht. Sie benehmen sich doch gar nicht so!” Ja klar, ich trug Männerklamotten, Boxershorts und keinen BH, hatte auch keine Schminke im Gesicht oder ne Handtasche dabei. Viel das jemandem auf? Nein. Weil Frauen so emanzipiert sind, dass man wirklich alles tun darf. Männerklamotten tragen, Männerberufe erlernen, Autos reparieren, in Filmen Menschen über den Haufen schießen. Könnten Frauen im Stehen pinkeln, ich glaube selbst das wäre dann ganz normal.
Trotzdem, ich bekam endlich die Überweisungen die ich brauchte. Machte mich auf zur Frauenärztin… toll Urlaub. Selbes Problem beim Psychologen. Ich kam rein und wurde angeschrieen, dass sie Urlaub haben. Gut, das Schild hatte ich übersehen, aber wieso war dann die Tür offen? Egal. Wieder warten und Unfreundlichkeiten ertragen. Dann war wieder geöffnet. Ich hin zum Psychologen und durfte mir anhören. “Das behandeln wir nicht.“ Tja schön und nun? “Adressen haben wir auch keine.” Ok, dann kennt der Arzt doch aber sicher einen Kollegen? Natürlich nicht. Ärzte haben auch keine Zeit sich um ihre Patienten zu kümmern.
Fertig mit den Nerven, schon hier zu scheitern, fuhr ich zu meinen Eltern. Bekam da einen Nervenzusammenbruch, denn auch sie waren nicht da, wie so oft.
Aber ich gab nicht auf, kämpfte mich nach einem Monat warte Zeit, bis zur Frauenärztin und sie war auch gleich so freundlich mir einen Termin im Krankenhaus beim Chefarzt zu besorgen. Das ging dann fast schon zu schnell. Ich besuchte noch schnell die Krankenkasse, um etwas über die Bezahlung in Erfahrung zu bringen, und wurde auch da abgewiesen. Sie wussten von nichts, meinten das klärt alles der Arzt im Krankenhaus. Nun auch gut, dann würde ich eben mit dem sprechen.
Zeitverschwendung wie sich heraus stellte. Der Mann im weißen Kittel war ein unfreundlicher und arroganter Typ, der mir Dinge erklärte, die ich schon wusste. Wie die Ops von statten gingen, hatte ich mir längst im Internet angeschaut. Auf meine Fragen gab er keine Antworten. Auch selbst wollte er nicht helfen. Verwies mich nach Hannover. Ja, wie sollte ich da von Sachsen aus mit nem neuen Job hin kommen. Mal ganz davon zu schweigen, dass mir das Geld fehlte. Und überhaupt nen Psychologen für alle nötigen Formulare hatte ich auch nicht. Er kannte auch keinen. Kurzum, keiner wollte mir helfen. Ich sollte mich am besten selbst um alles kümmern. Aber hatte ich das nicht schon getan? Musste ich erst nen Selbstmordversuch hinter mich bringen, um psychologische Hilfe zu bekommen?
Am Boden zerstört und wütend verließ ich das Krankenhaus. Am Abend hatte ich dann noch Streit mit meiner besten Freundin. Durfte mir anhören, wie scheiße ich doch geworden bin, seit ich die Idee mit dem Mannsein hatte. Das war dann einfach zu viel. Ich verschwand im Bett, zog mein Kette vom Hals und schnitt mir mit dem Haizahn daran den Unterarm auf, dieses Mal ohne Hemmungen so lange bis Blut floss. Einfach nur um etwas anderes zu fühlen als Ablehnung und Gleichgültigkeit.
Blöde Blicke und dumme Fragen, waren auf Arbeit die Folge. Ich fing mich dennoch und kaufte mir einen Brustbinder. Endlich mal was erfreuliches auf meinem Weg, aber auch hier musste ich wieder ewig warten. Als er ankam, ich ihn ausprobiert hatte, konnte ich endlich wieder mein altes Lieblingshemd anziehen. Die Brust störte nicht mehr. Endlich ergab das Bild im Spiegel einen Sinn. Am Tag darauf fuhr ich mir gleich neue Sachen kaufen. Ich ging zum Frisör, machte endlich den Haarschnitte der lange schon wieder fällig war. Kurze Haar mussten eben öfter geschnitten werden, als die langen von früher.
So fühlte ich mich zum ersten Mal ein wenig wohler. Nichts schwabbelte mehr. Dafür hatte ich die ersten Tage echt zu kämpfen. Bekam kaum Luft und Rückenschmerzen. Aber das verging, schon am dritten Tag machte es mir nichts mehr aus. Jetzt fehlten eigentlich nur noch die Hormone, aber auch dafür war wieder ein Psychologe nötig. Ich bat meine Ma mich in das Zentrum zu fahren, in dem ich schon einmal beim Psychologen war, aber sie vergaß mich. Später hatte sie keine Zeit. Irgendwann aber brachte sie mir eine Adresse. Ein neuer Lichtblick. Den ersten Termin dort, schaffte ich nur mit knapper Müh und Not. Klar, wenn man so lange arbeiten musste, bis alles schon zu hatte. Aber ich war da und wurde nicht wieder weg geschickt. Endlich mal jemand der sich meiner annahm, mal sehen was sie so alles heraus finden.
NicoleSchnitzer ist offline   Mit Zitat antworten
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