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Alt 21.07.2017, 19:29   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Totenstill

Hanna Anger war noch nie im Wetterpark im Naherholungsgebiet Buchhügel gewesen, den die Stadt Offenbach vor über zehn Jahren anlegen ließ. Seitdem hatte sie sich jeden Sommer vorgenommen, dem Park einen Besuch abzustatten, aber immer war etwas dazwischengekommen. Mit jedem Artikel, den ihre Heimatzeitung über die neuesten Entwicklungen veröffentlichte, wuchs ihre Neugier. An verschiedenen Stationen sollen Wolkenbildung, Gewitter, Luftdruck, Niederschlag, Atmosphäre und vieles mehr erklärt werden, außerdem gab es ein Messzentrum und einen Aussichtsturm.

Jetzt stand Hannas Wagen auf einem kleinen, mit Geröll ausgelegten Parkplatz. Die Reifen hatten auf dem losen Untergrund bedrohlich geknirscht und wollten ein paarmal nicht greifen. Sie hatte eine Parklücke gefunden, den Motor ausgemacht und das Fenster hochgekurbelt, das sie wegen der Sommerhitze geöffnet hatte, um sich durch den Fahrtwind etwas Kühlung zu verschaffen. Sie nahm ihre Fototasche vom Beifahrersitz, stieg aus und schloss die Wagentür ab. Kindergeschrei zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Einige Meter entfernt sah sie ein umzäuntes Grundstück, auf dem Kinder spielten und tobten. Hanna erkannte unschwer, dass es sich um eine Kindertagesstätte handelte. Dann erblickte sie den schmalen Fußweg, der vom Parkplatz zum Eingang des Wetterparks führte.

Nach ein paar Metern über eine freie Fläche tauchte sie in einen dichten Baum- und Buschbestand ein. Links neben dem Weg stand ein von einem Holzgerüst umrahmtes Schild, das die Besucher willkommen hieß, was kaum noch entziffert werden konnte, weil die Schrift mit Farbe übersprüht worden war. Hanna schüttelte missbilligend den Kopf und ging weiter.

Ringsum war es totenstill. Weder Menschenstimmen noch Vogelgesang waren zu hören, nicht das Lachen eines Kindes und auch kein Hundegebell. Nach einigen Minuten kam Hanna an einen Trampelfpad, der von links in ihren Weg mündete. Auch hier regte sich keine Menschenseele. Ihr wurde unheimlich zumute, und sie setzte ihre Schritte so zögerlich, als balanciere sie am Rande eines Abgrunds. Jetzt erinnerte sie sich daran, in der Zeitung gelesen zu haben, dass in diesem Park vor Jahren eine Frau überfallen worden war. Wie hatte sie das vergessen und sich ohne Begleitung hierher trauen können? Aber sie hatte sich auf den Parkbesuch gefreut und wollte nicht aufgeben, also presste sie die Zähne aufeinander und ging tapfer weiter. Doch es dauerte nur noch wenige Meter, bis sie das Gefühl tiefster Einsamkeit übermannte und sie allen Mut verlor. Abrupt drehte sie sich um und ging zurück.

Als sie den Trampelpfad erreichte, wusste sie, dass der Ausgang nicht mehr weit war. Schon konnte sie das Gekreisch der spielenden Kinder in der KITA hören. Sie blieb kurz stehen, um durchzuatmen, froh darüber, dass ihr niemand begegnet war. Leichten Schrittes und mit wenig Eile schickte sie sich an, den Rest des Weges zurückzulegen.

Hinter ihr knirschte der Sand unter schweren Schritten, die rasch näher kamen. Sie ging schneller, doch sie hörte klar und unmissverständlich, dass der Abstand der Schritte zu ihr geringer wurde. Ihr Herz begann zu rasen, und ohne weiter zu überlegen, rannte sie los.

Es war leicht für ihren Verfolger, sie einzuholen. Er packte sie mit eisernem Griff am Nacken und schob sie seitwärts in das Gebüsch, so tief es ging. Dann warf er sie zu Boden, drehte sie auf den Rücken und setzte sich auf sie. Alles war so schnell gegangen, und der Griff um ihren Hals war so schmerzhaft gewesen, dass sie außer einem Stöhnen keinen Laut des Protests, geschweige denn ein Schreien um Hilfe von sich geben konnte. Mit angstgeweiteten Augen blickte sie auf einen großen, breitschultrigen Mann, der sie mit seinem Gewicht zu erdrücken drohte. Er hatte sich nicht darum geschert, sein Gesicht zu verhüllen und sein Haar unter einer Kappe zu verbergen, geschweige denn seine Augen hinter einer Sonnenbrille zu verstecken. Hanna sah mit Abscheu in ein gutgeschnittenes Gesicht und Augen von einem faszinierend kräftigen Blau. Durfte so ein Verbrecher aussehen?

Als er ein Stilett aus seiner rechten Hosentasche hangelte und Hanna die Klinge im Sonnenlicht aufblitzen sah, begann sie aus Leibeskräften zu schreien. Der Parkplatz und die KITA waren nicht weit, jemand musste sie doch hören! Ohne ein Wort zu sagen, setzte ihr der Fremde die Messerklinge an die Kehle. Sie verstand und schwieg.

Er richtete sich soweit auf, dass er sich an Hannas Kleidung zu schaffen machen konnte. Sie trug einen Hosenrock aus leichtem Sommerstoff, dessen linkes Hosenbein er hochzog und mit der Klinge aufzuschlitzen begann, wobei er vor Erregung immer heftiger atmete. Hanna stieg der Geruch von Schweiß in die Nase, vermischt mit dem Gestank süßer Fäulnis, und sie überkam ein unerträglicher Ekel.

Stank dieser Kerl wirklich so? Sie überwand sich und drehte ihr Gesicht unmerklich erst nach links, dann nach rechts, um zu prüfen, wo der Fäulnisgeruch herkommen konnte. In einem Gebüsch entdeckte sie den Körper eines Tieres, der schon lange dort liegen musste, denn er hatte einen beträchtlichen Stand der Verwesung erreicht. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was für ein Tier es einstmals war, vielleicht ein kleiner Marder oder ein junger Fuchs. Fliegen, die ihr vorher nicht verdächtig gewesen waren, flogen den Kadaver beständig an, und es wimmelte auf ihm von aasfressendem Krabbelgetier und Gewürm.

Der Fremde, sich am Ziel seiner Bestrebungen wähnend, hatte mittlerweile begonnen, mit der linken Hand seine Hose zu öffnen, während er das Stilett weiterhin in der rechten Hand hielt. Doch der Reißverschluss klemmte, so dass er es zur Seite legte und sich mit beiden Händen an die Lösung des Problems machte. Hanna überlegte nicht lange. Sie vergaß ihren Ekel, packte mit der rechten Hand den Kadaver und drückte ihn dem überraschten Angreifer mit aller Kraft mitten ins Gesicht, ohne loszulassen. Er schnellte in die Höhe, griff nach dem verwesten Körper und warf ihn von sich. Stinkender Saft lag wie eine Schweißschicht auf seinem Gesicht, das von den aufgeschreckten Fliegen angeflogen wurde. Wild mit den Armen fuchtelnd versuchte er, sie abzuwehren. Ihm wurde schlecht, er würgte und musste er sich übergeben.

Hanna war aufgesprungen, hatte das Stilett aufgehoben, ihre Fototasche gepackt und war losgerannt. Als sie den Parkplatz erreichte, keuchte sie vor Anstrengung. Alle Autos standen noch da, niemand war in der Zwischenzeit gekommen. Sie hatte gedacht, sie gehörten Parkbesuchern, aber anscheinend waren es nur die Anwohner, die ihre Fahrzeuge hier abstellten. Auf dem KITA-Gelände tollten noch immer die Kinder umher. Kein Wunder, dass bei dem Radau, den sie veranstalteten, niemand ihre Hilferufe hören konnte.

Bevor Hanna in ihren Wagen stieg, versuchte sie, den Verwesungsgeruch mit dem Mineralwasser, von dem sie immer eine Flasche im Kofferraum hatte, wegzuwaschen – ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Sie setzte sich ans Lenkrad, startete den Motor und steuerte das Revier der Offenbacher Kripo im Westend an. Die Beamten würden es überleben.

21.07.2017
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Alt 25.07.2017, 18:15   #2
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Spannend geschrieben und mit einer originellen Idee garniert. Ich überlege aber, ob es technisch möglich ist, sich soweit umzudrehen und einen Kadaver aus dem Gebüsch zu holen, wenn soviel Gewicht auf einem drauf sitzt, ich glaube nicht.
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Alt 25.07.2017, 19:38   #3
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ich überlege aber, ob es technisch möglich ist, sich soweit umzudrehen und einen Kadaver aus dem Gebüsch zu holen, wenn soviel Gewicht auf einem drauf sitzt, ich glaube nicht.
Das Gebüsch mit dem Kadaver war rechts von ihr und war mit ihrer rechten Hand erreichbar, so geht es aus dem entsprechenden Absatz hervor. Sie musste sich nicht drehen.
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Alt 26.07.2017, 07:43   #4
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Nein, da steht nur, dass sie ihr Gesicht drehen konnte.

Selbst wenn der Kadaver mit der rechten Hand erreichbar ist, heißt es nicht unbedingt, dass du dran kommst, um ihn zu packen und dem Angreifer ins Gesicht zu schleudern, wenn dich Gewicht, das auf dir lastet, dich dran hindert, sich zu drehen. Probier es mal aus

Vor allen Dingen würde er es früh genug merken.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.07.2017, 08:49   #5
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Nein, da steht nur, dass sie ihr Gesicht drehen konnte.
Genau lesen, Silbermöwe!

Dort steht, dass die Protagonistin erst nach links, dann nach rechts geblickt hat. Das Gebüsch mit dem Kadaver war also rechts von ihr. Sie hat ihn mit der rechten Hand gepackt, wäre es die linke Hand gewesen, hätte sie mit dem Arm über ihren Körper hinweg und an dem Täter vorbei nach rechts reichen müssen, was gar nicht möglich gewesen wäre. Es ist also ganz klar von "rechts" die Rede, und dabei habe ich mir beim Schreiben durchaus etwas gedacht. Es ist auch nirgends in der Geschichte die Rede davon, dass der Täter sie die Mühe machte, ihre Arme in irgendeiner Weise zu fixieren - weshalb auch? Er fühlte sich wegen seiner größeren Körperkraft und dem Besitz des Messers sicher.

Das Gebüsch stand direkt neben der Protagonistin, also in Reichweite. Mit der Hand kann man sehr wohl im Liegen, nämlich ohne Drehung, den Arm von Hüft- bis Schulterhöhe seitwärts ausstrecken. Der Arm einer Frau ist bis zum Handgelenk im Schnitt einen halben Meter lang.

Eine schnell ausgeführte Handbewegung - und in Not kann man verdammt schnell werden - muss ein Angreifer nicht unbedingt sofort registrieren, wenn er stark erregt und sich seiner Sache sicher ist. Ansonsten hätte es ein Opfer bisher nie geschafft, sich zu wehren, was aber oft genug in der Realität der Fall war.

Ich habe diese Szene nicht geschrieben, ohne mir vorher über all diese Details Gedanken gemacht zu haben.
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Alt 26.07.2017, 12:23   #6
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Ich habe genau gelesen und gar nichts von linker Hand geschrieben, mir war schon klar, dass sie den rechten Arm benutzen würde.

Das Blicken (Gesicht drehen) hat ja nichts damit zu tun, ob du den Körper auch in die Richtung drehen kannst. Und wenn jemand mit vollem Gewicht auf dir sitzt, kannst du dich nicht gut bewegen, den Körper auch nicht unbedingt so drehen und hast weniger Kraft, etwas zu greifen. Auch wenn die Arme nicht fixiert sind. Und wie gesagt: Er würde es durch die veränderte Körperspannung früh genug merken.

Aber ist auch egal. Die Geschichte ist gut, die Idee originell.
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Alt 26.07.2017, 12:40   #7
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Das Blicken (Gesicht drehen) hat ja nichts damit zu tun, ob du den Körper auch in die Richtung drehen kannst. Und wenn jemand mit vollem Gewicht auf dir sitzt, kannst du dich nicht gut bewegen, den Körper auch nicht unbedingt so drehen ...
Silbermöwe, es ist in diesem Fall überhaupt nicht notwendig, dass das Opfer den Körper bewegt. Der Arm kann auch ohne Körperdrehung, also wenn du steckensteif auf dem Rücken liegen bleibst oder am Boden festgenagelt bist, seitwärts ausgestreckt werden, und zwar bis zu einem Winkel von 90 Grad mühelos. Wenn der Kadaver in dem Gebüsch in einem Winkel von 45 Grad liegt, braucht man für die Armbewegung und das Greifen des Körpers so gut wie überhaupt keine Kraft. Probier's aus!
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