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Alt 25.06.2017, 13:25   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Philosophie

Sebbi ging zielgerichtet auf den Platz zu, wo jeden Donnerstag der Markt abgehalten wurde. An den anderen Tagen war er menschenleer, außer an der Seite, die der Stadt zugewandt war. Dort saßen auf den Bänken und auf den Stufen, die zum Platz hochführten, die Penner in ihren abgerissenen Klamotten, ihren Hunden, die alle sehr groß waren, und mit ihren Bierdosen und Schnapsflaschen.

Manche der Penner saßen in Gruppen, andere hielten sich lieber alleine abseits. Sebbi blieb vor einem dieser Einzelgänger stehen und starrte ihn an. Der Penner mochte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, genau vermochte Sebbi das an dem aufgedunsenen Gesicht, dem wirren Haar und der schlaffen Gestalt nicht zu schätzen.

Nach einer Weile hob der Penner den Blick, schaute Sebbi weltkennerisch an, nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Bierdose, stellte sie neben sich und legte sich auf die Seite.

Sebbi wich nicht von der Stelle. Als ob der Penner ein Signal empfangen hätte, öffnete er seine Augen und richtete sich wieder auf.

„Was starrst du mich so blöde an?“

„Ich … ich dachte, das könnte Ihnen passen.“

Sebbi hielt dem Penner eine prallgefüllte Plastiktüte hin. Dieser machte keine Anstalten, sie in Empfang zu nehmen.

„Passen?“

„Na, Klamotten … eine Hose, zwei Pullover … ein paar Kleinigkeiten …“

„Bin ich dir nicht fein genug?“

Sebbi lächelte schief.

„Doch, schon. Aber Ihre Kluft könnte einen Waschgang vertragen. Sie brauchen was zum Wechseln.“

Der Penner schaute skeptisch an sich herunter, dann streckte er die Hand aus.

„Lass mal sehen.“

Er zog zwei Päckchen mit Unterhosen heraus, brandneu in Originalverpackung, und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.

„Größe fünf, da passt dein Fettarsch wohl nicht mehr rein. So ist das mit euch Schreibtischhengsten, kauft alles im Sonderangebot und hortet es, während ihr euch die Speckschwarten anfresst und dann nix mehr damit anfangen könnt.“

Er machte eine Geste zu einer der Bänke, auf der inmitten einer Gruppe von Männern eine verwahrloste junge Frau saß.

„Siehst du die Sissi dort drüben? Bei der würde ich gerne mal landen, aber die ist verdammt wählerisch. Mit diesen Buchsen, Mann, habe ich ganz neue Perspektiven.“

Bei diesen Worten schnalzte er mit der Zunge. Dann kramte er weiter in der Plastiktüte.

„Was haste denn sonst noch?“

Er zog eine Hose heraus und verzog das Gesicht?

„Aus welchem Jahrhundert stammt die denn?“

Sebbi war beleidigt. Als er antwortete, näselte er.

„Aus diesem Jahrhundert. Es ist feinste Wolle … und Glencheck …“

Der Penner äffte ihn mit hoher Stimme nach.

„Glencheck?“

„So bezeichnet man das Stoffmuster.“

Der Penner drehte die Hose amüsiert hin und her.

„Kann man das tragen, ohne dass jemand den Notarzt ruft?“

„Mann, ich hatte wochenlang gespart, um mir die Hose kaufen zu können! Die war nicht gerade billig.“

Sebbi wollte nach ihr greifen, aber der Penner hielt sie außer Reichweite.

„Schon gut, junger Mann. Wie heißt du eigentlich?“

„Sebastian … Sebbi.“

„Ich bin der Harry.“

Harry begann, seine Hose auszuziehen.

„Was gibt das jetzt?“

„Ich will die Röhren einfach mal anprobieren. Vielleicht machen sie sich an meinem Adonis-Körper doch ganz gut.“

„Hier … vor allen Leuten?“

„Willste mir lieber eine Umkleidekabine im Kaufhof mieten?“

Sebbi war überrascht, wie hurtig Harry, den er für sturzbetrunken gehalten hatte, die Hosen wechselte. Die Glencheck-Hose passte ihm wie angegossen. Dann tauschte Harry sein Sweatshirt gegen einen grünen Pullover aus.

Plötzlich stand Sissi bei ihnen und schwenkte Harry eine Wodka-Flasche entgegen.

„Mensch, Harry, du siehst ja königsklasse aus!“

„Da staunste, Mädel, was?“

Harry legte einen Arm um Sissis Schulter und küsste sie kurz, aber herzlich. Dann bückte er sich, hob seine alten Klamotten auf und drückte sie Sebbi in die Hand.

„Wann kann ich das Zeug abholen?“

Sebbi verstand nicht recht. Er blickte Harry und Sissi verwirrt an.

„Jetzt guckst du wieder so blöd wie vorhin. Du hast doch gesagt, die Klamotten müssen gewaschen werden. Du hast doch eine Waschmaschine? Oder?“

„Ja, ja … kein Problem.“

„Also, wo wohnst du?“

„In der … in der … Schwarzwaldstraße, zweiter Stock, erste Tür links.“

„Gut. Dann komme ich morgen – mit Sissi. Ist es dir lieber zum Frühstück oder zum Mittagessen?“

*****

„So wurden wir dicke Freunde, der Harry und ich.“

Sebbi saß mit seinem Studienfreund Jürgen in einer Bar. Beide tranken ihren dritten Cognac.

„Als er und Sissi heirateten, war ich sein Trauzeuge.“

Jürgen nippte an seinem Glas und ließ Sebbi erzählen.

„Sie machten beide eine Entziehungskur, und Harry nahm sein Philosophiestudium wieder auf. Als das Baby auf die Welt kam, war er völlig aus dem Häuschen. Er fühlte sich selbst wie neugeboren. Wir machten lange Spaziergänge und philosophierten über Gott und die Welt. In einem Zeitungsverlag fand er eine Anstellung ... nichts Großes, aber er und Sissi konnten davon leben.“

Sie schwiegen eine lange Weile, bis Jürgen das Wort ergriff.

„Und dann?“

„Dann kam der Urlaub. Der erste, den wir uns leisten konnten. Sissi war mit dem Kind am Strand geblieben und winkte uns nach, als wir uns in die Wellen warfen. Ich schwamm zu weit raus und verlor die Kräfte. Harry schwamm mir nach, als er meine Rufe hörte. Es war aber die Rettungswacht, die mich aus dem Wasser zog. Sie suchten noch eine Stunde lang nach ihm, erfolglos.“

Jürgen klopfte Sebbi tröstend auf die Schulter.

„Du hattest ihm zu einem neuen Leben verholfen.“

Sebbi verneinte mit einer kaum merklichen Kopfbewegung.

„Er ist meinetwegen gestorben. Damals, als ich mit meiner Tüte zu ihm kam, hätte ihn lassen sollen, wo er war.“

Jürgen schaute Sebbi sekundenlang nachdenklich an.

„Philosophie, hmm?“

25.06.2017
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.06.2017, 15:42   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.711


Philosophisch fällt mir dazu ein, dass jeder Mensch dann stirbt, wenn seine Zeit gekommen ist. Ob Sebbi ihn nun da gelassen hätte, wo er war oder nicht.
Nur hätte Sebbi dann nichts von seinem Tod mitbekommen.

Eine knifflige Geschichte, die zum Nachdenken anregt.

Gern gelesen!

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.07.2017, 00:34   #3
männlich dr.Frankenstein
 
Benutzerbild von dr.Frankenstein
 
Dabei seit: 07/2015
Ort: Zwischen den Ostseewellen ertrunken
Alter: 41
Beiträge: 5.468


Der Arme, aber in Wirklichkeit war Sissi schuld, ohne die hätte er sich nicht hübsch machen wollen.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
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