Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 29.12.2011, 22:01   #1
weiblich KleinerSpecht
 
Benutzerbild von KleinerSpecht
 
Dabei seit: 12/2011
Alter: 31
Beiträge: 153


Standard Das Flüstern eines Traums

ein Auszug aus meinem, noch nicht sehr langem, Roman.


Ein Sturm zog auf. Sie sah ihn kommen. Droben in die schwarzen Wolkenfetzen blickte sie, dort wo die Schreie der Krähen erbebten. Sie flüchteten. Schaaren der ihren erhoben sich, baten, flehten um Einlass. Doch die Tore des Himmels blieben verschlossen. Sie schaute zum Fernseher hinüber. Dieses Schauspiel, für viele ein Wunder der Natur, bot sich nicht nur hier, über ihr, sondern überall auf der Welt. Sie berichteten davon, in den Nachrichten, im Radio, in den Zeitungen. Und sie stritten sich. Keiner von ihnen konnte sich erklären, was da vor sich ging. Religionsfanatiker behaupteten sogar es wäre der Anfang vom Ende, nun stände das Jüngste Gericht bevor. Andere wiederum meinten, eine Naturkatastrophe nie dagewesenen Ausmaßes wäre im Anmarsch. Die Krähen spürten dies und versuchten sich noch zu retten. Und wiederrum andere glaubten die Tiere würden sich zu wehren anfangen gegen die Menschen, weil diese ihren Lebensraum vernichteten. Seit zwei Tagen ging das nun so. In Massen tobten sie am Himmel, schrien und kreischten. Man hätte wirklich meinen können, die Apokalypse wäre nahe.
Aber sie wusste es besser. Sie verstand die Krähen, wollte ihnen helfen. „Nun lasst sie doch hinein“ flüsterte sie gedankenverloren. „Ihr könnt sie doch nicht im Stich lassen.“ Natürlich bekam sie keine Antwort und das Wüten ging weiter, das verzweifelte Donnern und Bitten. In ihren Nacken die Peitschen des nahenden Krieges, bettelten sie die Engel um Gnade an, ersuchten, todesbange, um Asyl. Gewährt wurde es ihnen nicht. Und so färbte sich der Himmel mit jeder Stunde dunkler in schwarzes Gefieder. Immer mehr Flüchtende drängten sich vor den Pforten Edens, kreischten und schubsten und bettelten, gaben ihre Hoffnung nicht auf. Hoch und nieder gingen sie, wie Wellen, wiegten sich im Wind und schwemmten kraftvoll, immer wieder, gegen die Mauer, wie die Brandung gegen den Fels. Früher oder später würde sie einbrechen, fallen, ohne je auch nur einem einzigem Feind ihre Macht demonstriert zu haben, eingerannt würde sie sein, von abertausenden kleiner Krähenfüße in Grund und Boden getrampelt. Früher oder später mussten sie die Tore öffnen, sie hatten keine andere Wahl. Und dann würde auch sie hindurchgehen. Sie würde ihre Familie bei der Hand nehmen, ihnen die Treppe zeigen und mit ihnen die prächtige Stadt hinter den Wolken betreten. Sie würden sicher sein dort, und eine neue Heimat haben, denn aus ihrer jetzigen, aus dem kuschligen Haus mit den vielen Türen, würden sie schon bald vertrieben werden.
All das dachte sie, während sie abwechselnd aus dem Fenster und in den Fernseher blickte. Keines der Bilder dort in der silbernen Kiste wirkte so imposant und überwältigend wie ein kurzer Blick aus dem Fenster. Da waren sie, Krähen über Krähen. Sie ruhten auf den Dächern der Menschenhäuser, den Strommasten, den Bäumen, den Laternen, ja sogar auf der Erde hockten sie, so viele gar, dass kaum mehr ein Sonnenstrahl bis hinab zu ihr reichte. Sie versammelten sich. Wild durcheinander krächzten sie und stritten sich, ächzten und riefen, eine wildgewordene Horde um ihr Leben bangender Irrer, Sekunden vor dem großen Sturm. In einigen Augenblicken war es soweit, sie hielt den Atem an. Es wurde still…
Dann ging es los. Alle auf einmal erhoben sie sich, als hätten sie nur noch auf ein Zeichen gewartet gehabt. Und ein Höllenlärm brach los. Sie stürmten die Festungsmauern scharenweise, wie ein nie enden wollender Zug feindlicher Streitmächte. Bloß waren sie keine Feinde, nur ein Haufen verängstigter Krähen.
„MAMA! MAMA!“ rief sie, doch ihre Stimme ging unter in dem Lärm. „Schau!“ Sie lief die Treppe hinunter in die Küche und zerrte am Rockzipfel ihrer Mutter. „Dort!“ sagte sie und zeigte mit dem Finger hinaus. „Sieh nur. Wie ich’s dir gesagt habe. Genauso wie ich’s dir gesagt habe! Glaubst du mir jetzt?“
KleinerSpecht ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Das Flüstern eines Traums



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Das Ende eines Traums (Vers.II) ZychoyZ Gefühlte Momente und Emotionen 4 14.03.2011 12:18
Schweres Flüstern Wortkotze Gefühlte Momente und Emotionen 3 14.05.2010 06:21
Nur eines wortmasseur Düstere Welten und Abgründiges 0 14.12.2009 22:47


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.