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Alt 17.10.2023, 23:03   #1
männlich G.Neville
 
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Standard Das Zimtmädchen

Nach Mitternacht. Ich liege rücklings zwischen alten Mülltonnen auf dem Boden und betrachte den gewaltigen Sternenhimmel. Krampfhaft versuche ich darüber nachzudenken wie ich hierher kam. Da war jenes Zimtmädchen, das mir unbedingt sein Zuhause zeigen wollte und beständig wie eine Motte dem grellen Licht folgte ich der jungen Frau. Die Wohnung befand sich auf dem Dachboden eines alten Hauses. Eine gewaltige schindelgedeckte Mansarde. Eine richtige Vogelherberge.

„Ich muss ihnen meinen Vater zeigen“, mit diesen Worten deutete das Zimtmädchen mit ihrer Hand zu einem der Fenster hinauf. Oben auf der Vorhangstange saß ihr Vater.
„Er liebt die Vogelperspektive, müssen sie wissen.“
„Tatsächlich? Warum denn das?“
„Er fühlt sich eben einfach wohl da oben“, war ihre schlichte Antwort.

Ich hatte plötzlich das merkwürdige Gefühl in einer zoologischen Station zu sein. Überall Vogelnester, Ketten, Kugeln und Hängelampen. Eierschalen lagen verstreut, dazwischen wahre Scheusale an Gestalt und Gefieder. Aus ihren Nestern reckte diese Drachenbrut auf dünnen Hälsen die blinden, mit dünnem Flaum bedeckten Köpfe. Lautlos quakend aus stummen Kehlen.

"Mein Vater ist Ornithologe müssen sie wissen, aber seit dem er pensioniert wurde, ist er ein bisschen seltsam geworden. Er hat viele ornithologische Fachenzyklopädien geschrieben und er genießt immer noch ein sehr hohes Ansehen in der gesamten Fachwelt. Allerdings kann er in diesem Zustand natürlich keine Vorträge mehr halten, so wie er das früher gern getan hat.“

„Bedauerlich. Ich nehme an der Grund dafür könnte sein, dass er sich sosehr mit seinem Beruf identifiziert hat, sodass er schließlich selbst zum geflügelten Wesen wurde. Jede Tätigkeit formt eben den Menschen, wie es so schön heißt. Kann schon mal passieren, ist aber kein Beinbruch. Ich kenne zum Beispiel einen Chirurgen der zum Skalpell geworden ist, jetzt liegt er in einer blechernen Schublade herum.“

Ein Dienstmädchen trat ein und bewegte mit jungen und kühnen Bewegungen einen Besen am langen Stiel über den Fußboden. Mit ihren ungestümen Bewegungen, wirbelte sie, so weit ich mich erinnere die Luft mit dermaßen viel Staub auf, bis mir schließlich ganz schwarz vor Augen wurde. Das Nächste was ich dann sah, war eine riesige ägyptische Gottheit, die mich aus tiefen Augenhöhlen heraus neugierig musterte. Mit einem sehnsuchtsvollen Schmachten um ihre Lippen seufzte sie „Bringt ihn weg.“

Und nun liege ich also in diesem Hinterhof auf ungemütlichen kalten und feuchten Boden. Über mir glitzernder Sternenhimmel und um mich herum verstreut duftende Zimtstangen.
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Alt 18.10.2023, 12:32   #2
männlich dunkler Traum
 
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Standard Hallo G.Neville

... das ist schwere Kost, vom Zimtmädchen, welches ich irgendwie mit Advent und Milchreis assoziiere, über den vogelgewordenen Ornithologen zum ägyptischen Götterantlitz. Was hat der Erzähler eingenommen?

wsT
dT
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Alt 18.10.2023, 17:07   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo G. Neville,

mir gefällt die Geschichte, du hast etwas Fantasievolles geschrieben, mit Anleihen bei Kafka (so kommt es mir vor).
Ich finde den Text unterhaltsam, ich mag Geschichten, die aus dem gewohnten Rahmen fallen.

LG DieSilbermöwe
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Alt 18.10.2023, 17:27   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
... das ist schwere Kost, ... Was hat der Erzähler eingenommen?
Wahrscheinlich nichts. Für mich liest es sich wie ein Traumgebilde. Ich träume oft solche teils absurden Sequenzen, die aber trotzdem eine zusammenhängende Geschichte ergeben. Träume haben ihre eigene Logik.
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Alt 18.10.2023, 19:35   #5
männlich G.Neville
 
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Hallo zusammen, vielen Dank für eure Kommentare. Beim Schreiben ist die Realität ist nicht mehr so mein Ding. Habe bereits einige Geschichten in dieser Art geschrieben, allerdings sind die ziemlich lang und müssten alle überarbeitet werden. Ein guter Freund von mir, ehemaliger Germanistik Student, sagte mir seinerzeit (er befindet sich bereits im Jenseits) so etwas würde man in der Literatur auch - Magischer Realismus - nennen. Wie dem auch sei, wie heißt es so schön: Wissen ist begrenzt. Phantasie ist unbegrenzt.

Liebe Grüße
G.Neville
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Alt 18.10.2023, 20:49   #6
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.111


Zitat:
Zitat von G.Neville Beitrag anzeigen
... wie heißt es so schön: Wissen ist begrenzt. Phantasie ist unbegrenzt.
Das stimmt nicht. Wissen ist genauso unbegrenzt wie die Phantasie. Beides bedingt sich. Allem Wissen gingen phantastische Ideen voraus, wie z.B. der Traum vom Fliegen oder vom Licht in der Nacht. Der Mensch stellt sich etwas vor, hegt Wünsche, und er arbeitet solange daran, bis er sie wahrgemacht hat. Deshalb fliegen wir in Flugzeugen und machen am Abend das Licht in der Wohnung an. Die Phantasie befeuert die Gier nach Wissen. Und das Wissen treibt neue Ideen voran: Dahinter muss noch mehr sein!

Phantasie ist wertlos, wenn sie kein Wissen hervorbringt. Und vice versa.

Phantansie und Wissen nähren einander, ohne diese Wechselwirkung wären wir noch Amöben, die in einem Tropfen schwimmen.
__________________

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Alt 20.10.2023, 22:13   #7
männlich G.Neville
 
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Beiträge: 101


Zitat: "Phantasie und Wissen nähren einander..."

Zustimmung. Meine Meinung/These ist ja seit jeher, dass all die Dinge die der Mensch auf technischem Sektor zu Denken in der Lage ist grundsätzlich irgendwann Realität werden können. Der Zeitraum, wann dies geschieht, ist dabei sekundär. Wissen in den Naturwissenschaften bis hin zum Handwerk bilden dafür seit jeher das Fundament.

Und ja, Phantasie eilt den technischen Entwicklungen immer voraus, oftmals eine wahre Besessenheit des Erfinders. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte der Erfindungen ja genug.

In meiner Phantasie kann ich mir aber auch Dinge oder Ereignisse vorstellen, von denen ich zugleich weiß, dass sie niemals Realität werden und auch niemals Wissen erzeugen werden. Denn wenn ich mir vorstelle dass ich unsichtbar bin und Olaf Scholz während seiner Regierungserklärung im Plenum des Deutschen Bundestages mit einer Feder unentwegt an der Nase kitzle, sodass er schließlich entnervt die Rede abrechen muss, dann erzeugt diese Phantasie mit Sicherheit kein Wissen. Wertlos im monetären Sinn ist diese Art von Phantasie aber auch nicht, da selbst ein Christian Morgenstern mit seinen Gedichten (Ich liebe sein Werk, aber sein Vater meinte sein Sohn sei verrückt geworden) einem Verleger auch heute noch finanziellen Gewinn beschert. Und auch die Schriftstellerin, mir fällt gerade ihr Name nicht ein, die mit ihrer "Harry Potter Welt" Millionen verdient hat, nährt bestimmt kein Wissen zumindest nicht in den MINT-Fächern.

Dein Kommentar hat mich allerdings auf die Idee gebracht, dass Wissen in der Tat auch unbegrenzt ist, da der Punkt, an dem die Menschheit im Brustton der Überzeugung behaupten kann: "So, jetzt wissen wir ALLES !" wird wohl nie eintreten, da ja z. B. in den Naturwissenschaften jede neue Entdeckung zugleich auch immer neue Fragen/Rätsel aufwirft. Außerdem gibt es bekanntlich auch Dinge von denen wir noch gar nicht wissen dass wir sie nicht wissen.


Wenn dem so ist, dann hat sich allerdings auch Albert Einstein geirrt:

"Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle."
"Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt."

Albert Einstein

Weiß nicht ob er das wirklich gesagt hat, aber es wird ihm zugeschrieben.
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Stichworte
drachenbrut, eierschalen, zimt



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