Der Alte vom Wald

[Ilka-Maria]

Nachdem ich auf meinem Weg zum Bahnhof einen Slalom an etlichen Hundehaufen unterschiedlicher Größe und Couleur vorbei veranstaltet hatte, fiel mir beim Warten auf die S-Bahn jener Morgen wieder ein, an dem ich die Tageszeitung aufschlug und durch einen Artikel vom Tod des Alten erfuhr.

Die Menschen in der Stadt waren erschüttert, denn es gab niemanden, der den Alten nicht gekannt hatte, und dafür gab es gute Gründe.

Er lebte in einem kleinen Haus am Waldrand neben dem Seerosenweiher, nur wenige Schritte von meiner Mietwohnung entfernt. Vom Parkplatz, der den Spaziergängern am Waldeingang zur Verfügung stand, konnte man das Haus nicht sehen, weil es hinter Bäumen und Dickicht verborgen war. Doch wenn man auf dem schmalen Pfad, der daran vorbeiführte, in seine Nähe kam, stieg einem immer intensiver der Gestank von Moder, Fäulnis und Unrat in die Nase, der von dem Grundstück ausging.

Das Herzstück des Alten war der Seerosenweiher, den er hegte und pflegte. Spaziergänger sahen ihn oft in einem kleinen Schlauchboot auf dem Wasser paddeln und mit einer Riesengabel Unmengen von Algen und Abfällen herausfischen. Eigentlich war es kein richtiges Boot, sondern ein ringförmiger, schwarzer Schlauch mit Plastikboden, in dem gerade mal ein Erwachsener oder zwei Kinder Platz hatten.

Die Vertreter der Stadt sahen es nicht gerne, daß der Alte sich um den Weiher kümmerte. Sie hielten sein Hobby für überflüssig und versuchten, ihn mit Mahnungen, Drohungen und allen möglichen sonstigen Druckmitteln davon abzuhalten. Ihm war das egal, und je höher der Druck auf ihn wurde, desto aktiver machte er die Spaziergänger auf die Mißstände aufmerksam, die seiner Meinung nach den Weiher zum Kippen bringen und den Fischen und Fröschen die Lebensgrundlage entziehen könnten. Wenn das Wetter freundlich und trocken war, hängte er entlang des Holzgeländes, das den Weiher umgab, Fotos und selbstgemalte Pappschilder auf, um die Spaziergänger über die natürlichen Vorgänge in diesem Biotop zu belehren.

Auch den asphaltierten Weg, der am Weiher vorbei in den Wald führte, hatte der Alte im Visier. Es regte ihn nämlich mächtig auf, daß viele Spaziergänger es nicht für nötig hielten, ihre Hunde solange vom "Geschäftchenmachen" zurückzuhalten, bis sie tiefer im Wald waren. Regelmäßig stellte er deshalb vor seinen Aushängen ein extra großes Schild auf mit dem Schriftzug: "Hundekackpromenade".

Die Leute nahmen dies amüsiert zur Kenntnis, sahen aber keine Veranlassung, die geforderte Rücksicht an den Tag zu legen. Mit anderen Worten: Das Engagement des Alten änderte nichts. Schließlich verschwand er von der Bildfläche, und ich dachte, er habe am Ende wohl doch aufgegeben.

Ich mußte mich gründlich geirrt haben. Nachdem ich den Artikel über den Tod des Alten zu Ende gelesen hatte, kam mir der Gestank wieder in den Sinn, der vom Grundstück seines Hauses ausgegangen war. In diesem Haus mußten sich dramatische Entwicklungen vollzogen haben, und wahrscheinlich lag es nicht am mangelnden Willen des Alten, den Weiher weiterhin zu pflegen, sondern er war körperlich nicht mehr dazu in der Lage gewesen.

In dem Artikel stand, er habe zuerst seine Frau und dann sich selbst erschossen.

1. Februar 2012
by Ilka-Maria

[Thing]

Schlimm.
Grausig.
Ein Menetekel, das mich tief berührt.
Was sind uns unsere Alten schon noch wert?
Wenn es hoch kommt, taugen sie zum Amusement, zum Belächeln ihrer "Schrullen".

Beklemmend und gut geschrieben.