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Alt 29.12.2011, 00:46   #1
männlich Ayatollah
 
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Standard Das falsche Omen

Meine Mutter sagte immer, dass der glücklichste Mensch gelacht haben wird, wenn die Welt tatsächlich untergeht. Wahr-scheinlich stünde er (oder sie) an einem Fenster, und ganz wie im Kino würde ein brennender Meteor in Zeitlupe auf die Erde schießen. Oder es wird auf einmal stockfinster, von Los Angeles bis zur Osterinsel, und das Licht bleibt ein für alle Mal aus. Ein ehemaliger Klassenkamerad von mir, ein derzeit sehr erfolgloser Science-Fiction-Kurzgeschichtenschreiber, schlug die Apoka-lypse als bizarres Standbild, wie aus der Twilight Zone, vor: Unsere Zeit würde einfach stillstehen. Die Menschheit bliebe irgendwo stecken und könnte sich nicht aufraffen. Als ob ein grünes Alien, oder Gott, oder ein ferner Galaxiedämon ein Vi-deo anschaut und auf Standbild drückt. Dennoch glaube ich, dass der glücklichste Mensch selbst dann lachen wird. Sein Ge-sicht, geziert von einer wissentlichen Freude, egal ob beobachtet oder wie immer allein. Mit sich in Einklang stehen, so wird seine Devise lauten.

In letzter Zeit hatte es viele Gründe für mich gegeben sich mit diesen Untergangsszenarien auseinanderzusetzen.

Zunächst einmal verlor ich meinen Job. Ich war bei einem klei-nen Radiosender in einem winzigen, aber stolzen Bundesland angestellt. Das Klischee meiner Berufsgruppe erfüllte sich bei mir trotz aller Bemühungen meinerseits es zu konterkarieren: Zwar war ich nicht hässlich, aber ich hörte viele Menschen sa-gen, dass ich ein „typisches Radiogesicht“ hätte. Viele Lorbee-ren verdient hatte ich mir während der zwei Jahre als Moderator im Nachtprogramm nicht unbedingt. Dafür waren meine Shows und Darbietungen wohl zu unbeliebt und fern vom Prädikat skandalträchtig. Es gehörte nicht zu den Favoriten der hiesigen Bevölkerung, die lieber alte 80er-Hits oder guten alten Deutsch-rock beim Autofahren hörte, anstatt einer ordentlichen Ladung Jazz oder Rock, eingesprengt mit meinen allwissenden aber doch charmanten Kommentaren zu all dem was die Welt nicht braucht. Als die personifizierte Strukturreform des Rundfunks in Form eines bleichgesichtigen Unternehmensberaters mich über Quoten und Werbung ausfragte, konnte ich meinem Gegenüber nicht viel anbieten außer Nicken und Hundeblick. Genutzt hatte es nichts. Mit der Reform war ich weg. Zum Trost sagte ich mir, ich hätte mich aus der Hand von tyrannischen Musikbanausen herausgekauft.

Meine Freundin verlieren konnte ich nicht. Ella mit dem roten Haarschopf hielt zu mir. Und gemeinsam schimpften wir auf die verlogenen Intendanten und Programmdirektoren, das miserable Vermächtnis von Bon Jovi auf die gegenwärtige Rockmusik sowie die ignoranten Radiohörer ohne Herz und Gehirn. Leider sah es mein Freund nicht so, und gab mir den Laufpass. Dabei stellte er mir eine Reihe von prätentiösen und rhetorischen Fra-gen, fast wie ein verirrtes Bundestagstalent vom Schlage Herbert Wehner. Wo bliebe meine Rente? Was würde ich im Leben überhaupt wollen? Wie lang würde ich noch immer in meiner WG-Bleibe dahinvegetieren, und einem selbstgefälligen Elitis-mus frönen? Naja. Sebastian war kein Spießer, das musste man ihm lassen. Er war nur ein sehr verängstigter Mensch. Es war ein Wunder, dass ich in vier Jahren Beziehung mich nicht von seinen Panikattacken anstecken ließ. Vermutlich sprach er mich schon relativ schnell schuldig, und war mit mir zusammen nur um mich zu bekehren. Also nahm ich unsere Trennung wie ein stolzer Heide hin. Ich würde eben alleine bleiben.

Kurz darauf starb meine Katze. Der Tierarzt konnte sich darauf keinen Reim machen. Sie war relativ jung gestorben, mit kann über drei Jahren. Dabei war sie kräftig wie ein kleiner Ochse, tausend Mal geimpft und selbstverständlich sterilisiert. Eine reine Hauskatze. Und eines Tages lag sie still da. Das Fell glit-zerte silbern wie Sternenstaub. Jemand nahm mir einen Begleiter und ich merkte, mir geht es nicht gut.

Ich schwieg meine Umwelt an, schaute die falschen Filme, las dystopische Romane (bei meinem Zustand nicht sehr empfeh-lenswert) und trank wie zuletzt in der Parallelwelt der Oberstufe. Bald reagierte ich nicht mehr auf Ellas Anrufe und schmollte fröhlich wie eine grinsende Leiche in meinem Zimmer. Zwar waren meine Mitbewohner relativ besorgt, aber sie waren Men-schen von der Sorte eines virtuellen Freundes der zu dir kommt wenn er dich braucht, und wenn er dich verlässt wenn du ihn brauchst. Ein Bier geht mit solchen Leuten immer. Aber sich stundenlang über die Basslinie der Chilli Peppers in „Under the Bridge“ zu streiten wäre anmaßend. Mama war seit sieben Jah-ren tot. Papa lebt allein in San Francisco. Geschwister hatte ich keine. Und ich merkte, mir geht es ganz und gar nicht gut.

Dennoch fand ich einen treuen Begleiter in dieser Zeit. Kurz vor Neujahr ging es mir so dreckig wie nie, aber man gewöhnt sich ja daran. In meinem Geist schickte ich diese Welt zu allen Höl-lenhunden. So zermattet ich war, blieb mir nichts anderes übrig als seelenruhig auf das Ende zu warten. Um mir die Zeit zu ver-treiben, und den Untergang etwas schmackhafter und amüsanter zu gestalten, beschloss ich mir sämtliche Szenarien auszumalen, die ich durch mein freiwilliges Hinscheiden aus dieser Welt ver-passen würde. Zugegeben war meine Phantasie was das angeht etwas beschränkt. Also verließ ich mich auf die besten Ratgeber die ein Mensch momentan haben kann: Das Fernsehen und das Internet. Am letzten Tag dieses sackgasseähnlichen Jahres sperr-te ich mich in mein Zimmer ein, und hing ein „Bitte-nicht-Stören“ Schild an meine Tür. Überflüssig, wenn man näher da-rüber nachdenkt, denn wird wirklich jemand um ein arbeitssu-chendes Nerdtier wie mich trauern?

Das Handy schmiss ich in die Main, als ich einen meiner seltenen Spaziergänge eine Woche zuvor unternommen hatte. Das war auch die Gelegenheit um an noch mehr tödlichen Alk her-anzukommen. Ins Haus schmuggelte ich mich spätnachts um meine Mitbewohner nicht zu künstlicher Empathie zu zwingen.

Ein Besucher wäre beeindruckt gewesen. Ich hatte nicht nur meinen Laptop mit Tausenden von Gimmicks versehen, ich bau-te auch ein Fernrohr auf, stellte das Radio auf eine milde Fre-quenz an, ließ mich mit Whiskey vollaufen und schaute einen Film nach dem anderen an. Zwischen den medialen Einheiten von hyperrealer Zerstörung und dem permanenten Tod, schaltete ich das Diktiergerät (ein Geschenk von Ella) ein und sprach da-rauf meine allwissenden und pompösen Kommentare: die letzte Reportage die ich wohl je machen würde. Und wie ich sprach. Leise aber bestimmt, montiere ich Filmrissproduktionen ausei-nander, die uns paradoxerweise Hoffnung durch Zerstörung geben. Je absurder sich die Handlungen entwickeln, desto mehr Hohn und Spott sammeln sich im Plastikgehirn meines Zeugens der Anklage.

Und es war gut: Superstürme aus Sibirien machen nicht Halt vor ihren entfernten Verwandten in Alaska; bigotte Prediger aus verwesten Dörfern entlang der Appalachen reiten Tornadowel-len; der Vesuv entlädt sich mitten im Liebesakt mit Mutter Erde; Raben kündigen eine neue Geburt an; Wolken grinsen um die Wette; Dezember fällt; und das Jahr auf das alle warten eskaliert endlich. Zum Schluss, wie immer, zeitnah und wohlklingend, ein Wunder geschieht – alles nur ein Traum, erweint doch erdacht.

Ich lege die Hand auf meinen Mund. Wenn man sich etwas vor-stellt, dann wird es wirklich. Alles kann sich als eine Möglichkeit von 2012 herausstellen. Selbst wenn die heimische Welt umzäunt ist von Feuer, eine apokalyptische Vision von Träumern die diese Welt erdenken, so weiß ich, wenn sie aufwachen, werde ich weiterleben.

ENDE
c@verborgenerimam@myvideo.com
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Alt 29.12.2011, 01:10   #2
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Der Schreibstil gefällt mir sehr gut. Sehr wortgewandt, stimmungsvoll und abwechslungsreich! Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese faszinierende Geschichte um einen Punkt herumkreiste, der nicht kommen wollte, auch wenn der letzte Absatz dann doch so was wie eine Pointe beherbergte.

Nun ja, vielleicht war es auch nicht deine Absicht, auf einen bestimmten Punkt hinzuweisen, sondern einfach eine gute, melancholische Geschichte zu erzählen, die ihre feinen Fühler in alle möglichen Richtungen ausstreckt. Das ist dir gelungen!

Habe es sehr gerne gelesen!

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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