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Alt 05.06.2015, 21:30   #1
weiblich Litteralia
 
Dabei seit: 01/2013
Beiträge: 538

Standard Tod

Vorvorgestern
Ich verlasse das Haus meiner Oma. Sie lag noch im Bett, obwohl es schon Nachmittag ist. Auf dem Weg durch den langen Flur höre ich Streitgespräche, eine Mischung aus Angst und aus Wut und aus Hilflosigkeit. Alles andere als gut und alles andere als motivierend. Schritt für Schritt, immer weiter, jap, geschafft, draußen angekommen!
Draußen regnet es, wie mies.

Vorgestern
Ich verlasse das Haus eines Freundes. Wir haben Gitarre gespielt, den ganzen Tag lang. Als ich die Treppe runterging, kam eine SMS. „Sie liegt im Krankenhaus, es sieht schlecht aus.“ In mir wächst eine Mischung aus Angst und aus Wut und aus Hilflosigkeit, alles andere als schön. Noch ein paar Stufen, dann bin ich bei der rettenden Tür. Öffnen, durchtreten, verabschieden, schließen. Geschafft. Sehr gut.
Schnell nach Hause, die Sonne geht unter.

Gestern
Ich verlasse das Onlinegame. Habe mit meinem besten Freund ein paar Gegner gekillt, die ganze Nacht lang. Mein Computer fährt runter, und schon merke ich, wie die Realität wieder da ist. Hi. Hab dich vermisst. Das Spiel löschte die Hilflosigkeit aus, ich konnte Wut ablassen. Äußerst hilfreich. Computer ist runtergefahren, auf ins Bett, Schlaf. Gute Nacht.
Schade, dass ich so müde bin, es sieht eigentlich aus, als wäre das Wetter ganz schön.

Heute
Ich verlasse mein Bett. Habe mit meinem Teddy gekuschelt und mich ausgeweint, viel zu lange. Ich höre von draußen hilfloses Flüstern. Es ist wohl soweit. Immer weiter machen, los, nicht aufgeben, atmen, atmen!
„Sie ist tot.“ Danke auch, wäre ich nicht drauf gekommen.
Ich brauche frische Luft, aber es ist viel zu heiß draußen, diese Hitze brennt.

Bald
Ich verlasse das Grab. Hab mit meiner Oma geredet, als wäre sie da. Als könne sie mich hören. Um mich rum sind lauter trauernde Menschen.
Ich bin falsch, anders, falsch, anders, akzeptiert, okay. Wieso trauere ich nicht?
Einfach weitermachen.
Oh, die Sonne geht auf.
Litteralia ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.06.2015, 22:12   #2
männlich Ex-Poesieger
abgemeldet
 
Dabei seit: 11/2009
Beiträge: 7.220

Wie fluffig!

MFG
Ex-Poesieger ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.06.2015, 22:18   #3
weiblich Litteralia
 
Dabei seit: 01/2013
Beiträge: 538

Fluffig waren meine Pfannkuchen heute Morgen, ja.
Litteralia ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.06.2015, 04:02   #4
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.104

Zitat:
Zitat von Litteralia Beitrag anzeigen
Ich bin falsch, anders, falsch, anders, akzeptiert, okay. Wieso trauere ich nicht?
Einfach weitermachen.
Oh, die Sonne geht auf.
Ein Fazit, das zu der Frage führt: Wie trauert ein Mensch richtig?

Ich kann mich gut mit dem Text identifizieren. Er schildert nicht, wie sich der Tod eines nahestehenden Menschen ignorieren lässt, damit das (angenehme?) Leben weitergeht, sondern er beschreibt die individuelle Auseinandersetzung mit ihm als eine unabänderliche Tatsache: Es gibt nur den Weg, den Tod zu akzeptieren und den Schmerz über den Verlust so gut es geht zu betäuben.

Wehklagen, Weinen und Niedergeschlagenheit würden nichts ändern. Andererseits fühlt sich der "frische" Tod noch nicht nach einem unwiederbringlichen Verlust an - eher so, als sei ein Mensch auf eine ferne Reise gegangen. Es braucht eine Zeit, bis die Realität die Oberhand gewinnt, dass der/die Verstorbene nie wieder zurückkehren wird. Deshalb bricht bei vielen Menschen die Trauer erst ein oder zwei Jahre nach der Beerdigung aus. Erst dann entwickelt die Erkenntnis über den Verlust seine überwältigende Kraft.

"Trauerarbeit leisten" gibt es nicht. Erstens ist es keine "Arbeit" und zweitens keine "Leistung", wenn der Schmerz über einen Verlust erduldet werden muss. Trauer über den Verlust eines Menschen ist nicht zu tilgen wie eine bezahlbare Schuld, sondern sie geht ein in die Lebensgeschichte und wird für immer dort verbleiben.

Es gibt kein "richtiges" oder "falsches" Trauern.

Lieben Gruß
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.06.2015, 12:55   #5
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Standard Liebe Litteralia -

Ilka-Maria hat profund kommentiert.
Dem könnte ich nur wenig hinzufügen.

Erstaunlich, wie Du - in Deinem jungen und frischen Leben! - mit dem Tod und seinen Facetten umgehst!


Kompliment
v.
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.06.2015, 13:13   #6
männlich Gylon
 
Dabei seit: 07/2014
Beiträge: 4.269

Liebe Litteralia,
jeder Mensch trauert und verarbeitet anders. Die einen müssen viel weinen und lassen sich regelrecht gehen andere ziehen Energie aus einem solchen Ereignis. Ich halte weder das eine noch das andere für richtig oder falsch. Es bedarf Zeit herauszufinden wie die eigene Trauer vonstatten geht. Wichtig erscheint mir nur die Trauer anzunehmen und sich angemessen Zeit dafür zu nehmen!

Liebe Grüße Gylon
Gylon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.06.2015, 17:11   #7
weiblich Litteralia
 
Dabei seit: 01/2013
Beiträge: 538

Liebe Ilka,

ich danke dir für deinen ausführlichen Kommentar. Trauer und Tod sind komplexe Themen, ich glaube, jeder geht anders damit um.

Liebe Thing, lieber Gylon,

ich danke euch für eure Kommentare.

Liebe Grüße
Jana
Litteralia ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.06.2015, 18:21   #8
weiblich goethe2.0
 
Dabei seit: 06/2015
Beiträge: 7

Das ist mit Abstand das schönste und traurigste was ich je gelesen habe. Dieser Stil und deine Art dich auszudrücken.
Ich wünschte, das würde wirklich in einem Buch stehen und ich könnte es fest umklammern, um selbst zu trauern und daraus Trost zu schöpfen. Jeder trauert anders. Anders ist gut. Anders ist ehrlich. Anders ist mutig! Bleib so wie du bist! Ich wünsche dir und deiner Familie alles Gute!
goethe2.0 ist offline   Mit Zitat antworten
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