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Alt 10.01.2007, 00:32   #1
Inti
 
Dabei seit: 01/2007
Beiträge: 17


Standard Großvaters Welt

Großvaters Welt

Der Großvater schnaufte wie ein Bär. Ein alter Bär. Mit grauen, speckigen Zotteln. Klaffenden Lücken im einstmals Furcht einflößenden Gebiss. Graues, rissiges Zahnfleisch. Vergilbte, brüchige Krallen an den verwelkenden Tatzen, deren Kraft kaum noch zum Biegen eines Astes genügte. Die Augen, geschwächt vom Star, schwindelten dem Hirn eine unscharfe Realität vor. Die zwar mächtigen, aber deutlich entkräfteten Beine trugen kaum noch den knirschenden Körper. Der Großvater schnaufte wieder. Er rückte sich auf dem zerlegenen Sofa zurecht. Er verließ es kaum noch. Selbst der Harndrang konnte ihn nicht aufzwingen. Vom Tisch platzte ein weiteres Stück der braun gemaserten Kunststoffoberfläche ab und gab hellgelbes Pressholzfleisch frei. Es roch scharf. Ammoniak. Der Großvater merkte es nicht. Seine fünf Sinne waren zu einem einzigen zusammengeschmolzen. Ein konfuser Brei von Eindrücken bemächtigte sich ungesteuert seiner Wahrnehmung.

Eine dünne ockerfarbene Wolldecke verdeckte die Wunden des Tisches. Darauf hatte der Großvater die Dinge des täglichen Bedarfs ausgebreitet: Streichhölzer, halbgeleerte Bierflaschen, die Fernsehbeilage aus der Lokalzeitung, ein Messer, Kastanien, Salbe, Kräuterschnaps, Kamm. Den brauchte er aber kaum noch. Wer würde ihn schon zu Gesicht bekommen? Neben dem kleinen Fernseher in der 40 Jahre alten Schrankwand, gleiche Bauart wie der Tisch, stand die Großmutter. Wenn das Licht sich manchmal durch die zugezogenen Jalousien einen Weg bahnte, strahlte sie den Großvater an. Dann lächelte er zurück. Doch sobald der Lichtreflex verschwunden war, schaute die Großmutter wieder starr in das Zimmer. Der Staub nahm ihr immer mehr die Sicht. Sie verblasste sowohl auf dem Schrank, als auch im Kopf des Großvaters. War es zwölf Jahre her? Oder nur sieben? Der Großvater erschrak, wusste aber nicht mehr worüber. Seine Hand bewegte sich tastend über den Tisch, fand einen Knopf. Den Bayrischen Rundfunk mochte er am meisten. Manchmal auch das Zweite. Er ergötzte sich an den einfachen Freuden des Lebens: Natur und Gesang. Die Privaten mochte er nicht. Das war schrill und laut. Auch wenn der Großvater es kaum hörte und noch schlechter sah: Es war nicht echt. Aber die Berge waren echt. Und auch die Musikanten.

Wenn der Großvater nicht fernsah, schnitze er. Holz gab es genug. Woher es kam, wusste der Großvater nicht mehr. Vielleicht hatte es ihm jemand geschenkt. Oder er hatte es selbst gesucht und zu dem ordentlichen Stapel aufgeschichtet, der am Fußende seines Sofas lag. Der Großvater schnitzte langsam und bedächtig. Die Finger schmerzten. Grobe Kerben machten die Figuren unkenntlich. Nur er wusste, was er fertigte. Es interessierte niemanden, so schnitzte er was er wollte. Zu seinen Füßen hatte sich ein Spanteppich gebildet. Erst versprengt, dann immer dichter. Durch den Großvater entstand neues Leben. Er schuf seinen Humus, der ihm neue Kraft geben sollte für die zweite Blüte. Heute schnitzte der Großvater viel. Er hatte den Fernseher vergessen. Der Humus um ihn wuchs. Er breitete sich in alle Ritzen und Winkel des Zimmers aus. Schon bedeckte er den Großvater, umkräuselte seinen Rücken. Der Großvater schnitzte weiter. Ein Wald. Den wollte er erschaffen. Viele Tiere bevölkerten den Wald. Rehe, Hasen, Schlangen, Eulen, Bären, Käfer, Käuzchen. Der Großvater ließ sie ziehen. Er konnte neue entstehen lassen. Bald türmten sich die Späne bis an sein Kinn. Der Humus gab ihm Kraft. Zufrieden blickte der Großvater um sich und legte das Messer aus der Hand. Nun war er müde. Der Humus bettete ihn weich und warm. Der Großvater versank im Reich der Träume. Der Humus gab ihm Kraft. Der Traum war lang und schön.
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Alt 10.01.2007, 17:19   #2
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Hallo Inti,

eine schöne wenn auch leicht traurige Beschreibung eines alten Menschen hast Du da verfasst. Sie zog mich mit sich bis zum Ende des letzten Absatzes - den finde ich nicht so gelungen. Wahrscheinlich ist es Absicht, dass hier die Sätze kürzer werden und kaum noch Personalpronomen Verwendung finden. Der Stil wird durch den noch einfacheren Satzbau kindlich, was ich ok finde, aber die vier letzten Sätze fangen alle mit "Der" an und wiederholen die Substantive. Das hat mich dann doch gestört.
Zudem löst sich der Absatz auch durch den plötzlich träumerisch surrealen Inhalt ab. Zusammen mit der Stilveränderung ist das meines Erachtens ein wenig zu viel Abgrenzung.

Stachelgrüße vom Forenigel
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