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Alt 29.09.2012, 12:04   #1
männlich Tschatscha
 
Dabei seit: 06/2012
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Beiträge: 19

Standard Der Gassenläufer

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht den gleichen Weg auf mich nehme. Er führt mich durch eine Gasse, die sich zwischen dem bloßen Mauerwerk der Stadt um ein paar abgeschürfte Ecken biegt. Sie ist recht schmal, doch sieht man an ihren Wänden hoch, will sie gar nicht mehr aufhören, sodass man glaubt, kein Regentropfen wird jemals auf das Pflaster fallen. Es ist nicht hell in der Gasse aber auch nicht dunkel, es ist weder Tag noch Nacht, es ist ein Zwielicht, das nicht zu bestimmen ist und auch keine Bedeutung hat. Ich gehe immer alleine auf meinem Weg. Begegnet mir ein Mensch, so senke ich mein Haupt, als verbeugte ich mich. Aber keineswegs weil ich mich vor ihm fürchte, o nein, es ist ein viel größeres Leid, für das ich mich schon seit meiner Kindheit schäme: Von Natur aus habe ich keine Nase im Gesicht und auch die Oberlippe fehlt mir zur Gänze. Ein rosa Schlund, der an seinen Rändern leicht entzündet ist, tut sich stattdessen zwischen meinen Wangen auf, durch den der Betrachter bis in meine Seele schaut, selbst wenn er es gar nicht wünscht. So ist es wohl verständlich, dass ich mein Gesicht vor den Menschen verberge, damit sich niemand über meinen Anblick beschweren möchte.
Es ist spät, nur wenige Menschen kreuzen meinen Weg. Ich gehe an dem Modelleisenbahngeschäft vorüber; der Laden ist seit Jahren geschlossen, an der Jalousie hängt der Staub in Fäden herab. Wenige Schritte weiter wird es hell, dort sehe ich eine junge Frau im Licht. Sie ist in einen schwarzen Lackmantel gehüllt, in der linken Hand hält sie einen Regenschirm, der leicht nach außen gedreht auf der Spitze steht. Auf freche Art trägt sie ein französisches Käppchen, ihr gelocktes Haar ist feuerrot wie die untergehende Sonne an einem Abend im Sommer. Sie lächelt. Es ist ein wehmütiges Lächeln, das alle Scheu von meinem Herzen nimmt. Ruhig schaut sie in meine Wunde. Ihr Blick dringt tief in mich ein, doch scheint er in meinem Innern nicht zu verbleiben, gläsern durchbricht er mich und sucht immer weiter, bis er sich in meinem Rücken verliert in einer anderen Welt. Ich weiß von dieser Welt, manchmal sehe ich sie in meinen Träumen, sie ist so leicht und unbeschwert aber unendlich fern meinem Leben. Ich schließe die Augen, wende mich ab und gehe weiter. Die Frau weiß von meinen Träumen, vielleicht wird sie mich einmal an die Hand nehmen und dorthin begleiten, vielleicht schon morgen. Und morgen werde ich wieder durch die Gasse gehen und mich vor den Menschen verbeugen, bis ich vor dem Licht stehen und hoffen werde - auf das Fräulein im Schaufenster der Boutique.
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