Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 26.09.2023, 12:15   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.111


Standard Oma

Oma war nach Mama und Papa der wichtigste Mensch in meinem Leben. Zwar gab es noch andere Menschen, die ich liebte und die mich liebten, schließlich waren wir eine große Familie. Aber Oma war eine Wucht.

Sie wohnte im Zentrum der Stadt, in einem Hinterhofbau mitten in der Einkaufsstraße. Die Wohnung lag im obersten Stock und hatte Dachschrägen. Sie hatte eine Küche, ein kleines und zwei große Zimmer, die ein langer Flur verband. Oma nutzte aber nur das kleine Zimmer, in dem ihr Kleiderschrank, das Bett, eine Vitrine, ein kleiner Tisch und ein Schaukelstuhl standen. Die großen Zimmer bewohnten Papas Bruder und seine Frau.

Omas Leben spielte sich hauptsächlich in der Küche ab. Dort gab es zwei Herde, einen alten, den man durch eine Seitenklappe befeuern musste und der oben Ringe in verschiedenen Größen hatte, die alle ineinandergriffen. Man konnte also auch oben etwas ins Feuer werfen, wie zum Beispiel das Kleid, das sich nicht glattbügeln ließ und Oma deshalb wütend in die runde Öffnung warf, um ihren Seelenfrieden zurück zu erlangen.

Der andere Herd war modern und brauchte für seine drei Flammen Gas. Dazu war im Flur ein Gaszähler installiert, in den Oma Gasmünzen einwerfen musste, wenn sie kochen wollte. Und sie kochte viel, auch Sachen, die heute niemand mehr kocht. Zum Beispiel kochte sie Pflaumenmus ein, oder auch, in hitzefesten und mit Gummiringen luftdicht gemachten Gläsern, Obst für den Winter. Für mich brühte sie Mandeln ab, weil sich dann die Haut leicht von den Früchten pellen ließ, und manchmal machte sie mir in einem großen Aluminiumtopf Popcorn, das lustig gegen den Deckel knallte.

In Omas Küche war es selbst im dicksten Winter warm. Ich erinnere mich, wie sie mich auf die gepolsterte Pritsche – eine Art Sofa, aber ohne Rückenlehne – stellte und mir ein Leibchen anzog, eine Unterwäsche, wie sie damals für Kinder üblich war. Nachdem ich angezogen war, ging es zum Frühstück. "Ein Kind braucht Butter aufs Brot", lautete Omas Devise und bestrich mir die Scheiben fingerdick. Die Sensation war jedoch ihr Gulasch, das es zum Mittagessen gab. Sie konnte sich köstlich darüber amüsieren, wie ich die einzelnen Makkaroni einsog und dabei die Soße spritzen ließ. Zu Hause bei meinen Eltern hätte ich mir das nicht leisten können. Mama hätte gesagt: "Mit dem Essen spielt man nicht!"

Aber Oma war eine Frohnatur. Und sie spielte gerne. Immer, wenn ich sie besuchte, dauerte es nicht lange, bis sie sagte: "Komm, wir spielen Rommé." Dann spielten wir stundenlang, und natürlich verlor Oma immer, weil sie meine Strategie nicht durchschaute. Ich behielt nämlich die Karten solange auf der Hand, bis ich alle zusammen hatte, um sie auf einen Schlag ablegen zu können.

Wenn Oma gerade am Putzen oder Wäschewaschen war, wenn ich sie besuchte, drückte sie mir Geld in die Hand. "Geh mal rüber ins Kino, da spielt gerade ein Film mit Sophia Loren." Damit war sie mich für zwei Stunden los, denn Kino ließ ich mir nie entgehen. Oma, selber ein Kino-Freak, wusste, wie sehr ich die laufenden Bilder liebte. Aber im Geschmack unterschieden wir uns deutlich. Als ich bettelte, sie möge mit mir in "Der Untergang der römischen Reiches" gehen, behauptete sie, die drei Mark für einen Film mit doppelter Laufzeit vom Haushaltsgeld nicht abknapsen zu können. Weil ich nicht locker ließ, nahm sie ihre Pfennigsparbüchse und zählte die Pfennige ab. Zu ihrem Unglück kam sie auf ziemlich genau drei Mark und musste mit mir ins Kino gehen, obwohl sie der Film kein Deut interessierte. Als es gegen Ende zum Zweikampf auf Leben und Tod zwischen Pro- und Antagonist kam und unter der Loren bereits der Scheiterhaufen brannte, war Oma so aufgeregt, dass sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche kramte und sich den Schweiß aus dem Gesicht tupfte.

Die Antike war nicht Omas Ding. Auch nicht Hitchcock. Als wir uns zusammen "Vertigo" angeschaut hatten, lag Befremden in ihrem Gesicht. "Hast du verstanden, worum es ging?", fragte sie mich. Ich versuchte, es ihr zu erklären. Vergeblich. Oma war "Sissi"-Generation und litt mit der deutschen Nation, als Romy zum Hexagon überlief.

Das tat ihren eigenen schauspielerischen Talenten keinen Abbruch. Einmal gingen wir im Stadtwald spazieren, und ich nervte sie damit, zum Goethe-Turm zu wollen. Sie sagte: "Heute nicht." An irgendeiner Stelle machte sie ein ängstliches Gesicht. "Du, ich glaube, ich habe mich verlaufen." Statt zu plärren, blieb ich vertrauensvoll an ihrer Hand. Solange Oma bei mir war, konnte mir nichts geschehen. Wir liefen weiter, angeblich ins Blaue hinein, und wie durch ein Wunder standen wir plötzlich vor dem Goethe-Turm. Die alte Füchsin hatte gewusst, wohin unser Weg führte!

Oma war keinesfalls ein Einfaltspinsel. Sie war Dauergast in der Leihbibliothek und las mit Vorliebe historische Romane. Die Tageszeitung zu studieren war für sie Pflicht, und in Sachen Politik war sie beschlagen wie sonst niemand in der Familie. Als ein Kind erzkonservativer Bauern aus der bayerischen Oberpfalz stand sie in ihrer hessischen Wahlheimat mit beiden Beinen fest in der Adenauer-Ära, geriet jedoch in helle Empörung, als der Kanzler eine demonstrierende Krüppel-Garde von Soldaten des zweiten Weltkriegs mit Wasserwerfern von der Straße treiben ließ.

Oma starb in einer Nacht vom Samstag auf Sonntag. Im Dezember, wenige Tage vor Weihnachten. In der Küche hatte sie die Zutaten für den Stollen zurechtgelegt, den sie am nächsten Tag backen wollte. Sie starb, wie sie es sich gewünscht hatte. Als man sie fand, lag sie auf der Pritsche in der Küche, mit ihrer Brille auf der Nase und dem aufgeklappten Buch auf der Brust, in dem sie gelesen hatte, ehe sie für immer einschlief.

Am Samstagnachmittag war sie mit ihrer "Rentner-Gang" zum Tanzen gewesen, sagte eine Nachbarin aus, und als sie heimgekommen sei, habe sie geklagt, ihr sei schlecht gewesen und wolle sich ein wenig hinlegen. Vermutlich war es ein Herzinfarkt, der seine Warnsignale abgegeben hatte, die damals aber noch nicht verstanden wurden. Nach heutigem Wissen hätte sie nicht so früh sterben müssen. Sie war erst siebzig Jahre alt.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.09.2023, 12:27   #2
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
Alter: 38
Beiträge: 2.692


Och Ilka, die Geschichte ist schön! Sie ist klar, verständlich und chronologisch geschrieben! Der Stil ist einfühlsam und überaus persönlich, so dass die Zeilen sehr authentisch wirken. Vielleicht hier und da eine Anekdote, um die Bindung zu verstärken. Aber ansonsten top!

Als Beispiel (Das ist keine Kritik, ich äußere nur meine Gedanken)

Eine der denkwürdigsten Momente mit Grandma ereignete sich, als ich noch ein kleiner Junge war. An einem sonnigen Nachmittag spielte ich draußen im Hof, als plötzlich Panik in mir aufstieg. Ich hatte meinen Schlüsselbund verloren, den ich normalerweise um den Hals trug. Das war der Schlüssel zu unserer Wohnung, und ich hatte ihn in dem lebhaften Treiben des Hofs irgendwo verloren.

Verzweifelt und in Tränen aufgelöst lief ich zu Grandma in die Küche und erzählte ihr von meinem Missgeschick. Sie sah meine Angst und beruhigte mich sanft. Gemeinsam durchsuchten wir den Hof, unter Blumentöpfen, zwischen den alten Fahrrädern und sogar im Blätterhaufen. Stunden vergingen, und es schien, als wäre der Schlüssel verschwunden.

Doch Grandma gab nicht auf. Sie nahm meine Hand und sagte: "Lass uns noch einmal zusammen suchen, mein Schatz." Wir gingen erneut jeden Winkel des Hofs durch, und plötzlich, als die Sonne langsam hinter den Häusern verschwand, glänzte etwas am Boden. Es war mein Schlüsselbund, der zwischen den Pflastersteinen verloren gegangen war.

Die Erleichterung und die Freude, den Schlüssel wiederzufinden, waren überwältigend. Aber was mich noch mehr berührte, war die Geduld und die bedingungslose Liebe, die Grandma mir in diesem Moment zeigte. Sie hätte einfach einen Ersatzschlüssel besorgen können, aber für sie war es wichtig, mir beizubringen, dass man niemals aufgeben sollte, wenn man jemandem wichtig ist.


Darf ich die Geschichte als Übung ins Englische übersetzen?
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.09.2023, 12:39   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.111


Zitat:
Zitat von Eisenvorhang Beitrag anzeigen
Darf ich die Geschichte als Übung ins Englische übersetzen?
Wer sollte es dir untersagen wollen? Und weshalb?

Die Überschrift sollte dann aber "Ich und Oma" heißen, denn in deiner Geschichte steht eher das Ich, also das Kind, im Mittelpunkt.

Und dann sind ein paar Fehler drin: mein (nicht: meinen) Schlüsselbund. Es schien, als sei (nicht: wäre). Das Treiben im Hof (nicht: des Hofs).

Übertreibungen sind manchmal gut, oft aber nicht, wie z.B. "Stunden vergingen". Da fragt sich der Leser, ob es Haushöfe gibt, die so groß wie Exerzierplätze sind. Auch ist mir wenig schlüssig, wie man ein ganzes Schlüsselbund nicht finden kann. Schon beim Runterfallen hätte es klappern müssen. Einen einzelnen Schlüssel verliert man schon eher ins Nirgendwo.
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.09.2023, 12:44   #4
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
Alter: 38
Beiträge: 2.692


Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Wer sollte es dir untersagen wollen? Und weshalb?
Na... Du bist der Autor und ich frage vorher lieber nach, bevor ich irgendwas mache. Mit Einverständnis lässt es sich leichter und freier schreiben.

Mein Beispiel war nichts Konkretes, wollte dir nur zeigen, was ich damit meinte. Was Geschichten schreiben angeht bist du ohnehin absolut vom Fach und ich... nicht wirklich. Meinen Gedankengang kannst du gern ignorieren.

Lg

EV
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.09.2023, 12:47   #5
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.111


Zitat:
Zitat von Eisenvorhang Beitrag anzeigen
Na... Du bist der Autor und ich frage vorher lieber nach, bevor ich irgendwas mache. Mit Einverständnis lässt es sich leichter und freier schreiben.
Ach so ... ich dachte, du meintest deine Anekdote, nicht meine Geschichte. Ist aber egal. Solange sie nicht vermarktet werden soll (dazu ist ist zu ohnehin zu mager), kannst du damit machen, was du willst. Ich würde aber nicht "grandma" schreiben, sondern "granny".
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.09.2023, 12:57   #6
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
Alter: 38
Beiträge: 2.692


Ich finde deine Geschichte überhaupt nicht mager. Sie ist das, was das Leben so zu bieten hat, und das macht sie sehr einfach und echt. Das muss man erstmal können. Das ist eine wirklich solide Literarizität. Für mich sind deine Zeilen auch das Beste, was ich bisher von dir gelesen habe. Du könntest einen Band mit solchen "An Oma" Kurzgeschichten schreiben und ich bin davon überzeugt, dass das privat viele Menschen ansprechen würde.

Wenn mir eine Sache im Leben nicht gegeben wurde, dann ist es die Fähigkeit, etwas zu vermarkten. Ich glaube, du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass mich die sprachliche Weiterentwicklung antreibt. Ich kann es dir gerne per PN schicken. Ich werde wahrscheinlich zwei Versionen erstellen, eine aus der Perspektive eines jüngeren Menschen und eine in gehobenerer Sprache. Wenn es dir gefällt, kannst du damit machen, was du möchtest! :P

Lg

EV
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.09.2023, 13:01   #7
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.111


Zitat:
Zitat von Eisenvorhang Beitrag anzeigen
Du könntest einen Band mit solchen "An Oma" Kurzgeschichten schreiben und ich bin davon überzeugt, dass das privat viele Menschen ansprechen würde.
Das hat Lisa Eckhart bereits erledigt.
https://www.amazon.de/Omama-Roman-Li.../dp/3552072012

Und lange vor ihr Peter Härtling.
https://www.amazon.de/Oma-Roman-f%C3...ks%2C94&sr=1-1
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.09.2023, 13:07   #8
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
Alter: 38
Beiträge: 2.692


Und? Denkst du, dass viele Künstler die Leinwand verderben?

Wie viele Menschen leben denn in Deutschland und wie viele davon haben Omas? Und wie unterschiedlich wird die Erfahrung jedes einzelnen Menschen sein? Nur weil jemand irgendwann mal etwas gemacht hat, bedeutet das doch nicht, dass deine Arbeit dadurch obsolet würde.

Hab einen schönen Tag!

Lg

EV
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Oma



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Zur letzten Stunde meiner Oma Isabel Seifried Gefühlte Momente und Emotionen 0 01.11.2011 11:25
Am Grab meiner Oma Isabel Seifried Gefühlte Momente und Emotionen 0 01.11.2011 11:17
Oma holt Milch Ilka-Maria Geschichten, Märchen und Legenden 3 19.11.2009 20:57
Oma Krause Ilka-Maria Humorvolles und Verborgenes 6 01.10.2009 23:53
Oma iRONiC Gefühlte Momente und Emotionen 2 26.10.2006 14:44


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.