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Alt 25.10.2006, 18:09   #1
tempestrider
 
Dabei seit: 10/2006
Beiträge: 39


Standard Besitzverhältnisse

Besitzverhältnisse

Ich kaufe mir einen neuen, bunten Computer. Er hat keine scharfen Kanten mehr, nur formschöne Rundungen. Er sieht viel freundlicher aus als der alte. Sogar meine Ex - Freundin hätte ihn mögen können. Mein Feng - Shui - Ratgeber empfiehlt auf Seite 166, wenn überhaupt einen Computer, dann so einen.
Beim Bezahlen fällt mir auf, daß mich die bunte Plastikverschalung 130 Mark kostet. Zu Hause stelle ich fest, daß er noch genauso schlecht funktioniert wie der alte, zwar mit den neuen, bunten Programmen, aber noch mit den alten, unverständlichen Fehlern:
Fehlende Zugriffsrechte.
Der angegebene Pfad konnte nicht gefunden werden.
Schwerer Ausnahmefehler.
Als ob schwere Fehler bei Computern die Ausnahme wären ... Schließlich belohnt er meine Bemühungen noch mit den Worten: Bitte beenden Sie alle Anwendungen und starten Sie den Rechner neu. Ich beende alle Anwendungen und stelle den Rechner resigniert zu dem Videorecorder.

Erinnerungen:
Ich kaufe mir einen neuen, programmierbaren Videorecorder. Er hat nur noch sechs Knöpfe, mit denen man alle Funktionen verfügbar machen kann. Er hat eine Anzeige aus Flüssigkristallen der neusten Generation. Ich habe selbstverständlich keine Ahnung, was die so drauf haben, bin aber fasziniert. Dieses Display blinkt wie ein Partylaser und ist so groß, daß ich beinahe einen zweiten Videorecorder daran anschließen möchte.
Natürlich bemerke ich das auch an der Kasse. Zu Hause stelle ich fest, daß auch eine deutsche Bedienungsanleitung beigelegt ist. Zur Programmierung meines neuen Juwels steht da:
Treten Sie ein Uhrzeit des Anbeginn.
Zu vorder auflegen Band zu Bandnut.
Das macht die Macht ab.
Ich finde nicht einmal heraus, wie man die Macht anmacht, und lasse es bleiben. Verärgert betrachte ich den ohne programmierbaren Videorecorder fast schon wertlosen Fernseher.

Erinnerungen:
Ich stöbere in einem großen Buchhaus herum und kaufe mir einen Feng - Shui - Ratgeber. Eigentlich suche ich einen Wegweiser in ein glücklicheres Leben, aber ein harmonischeres Wohnzimmer, sage ich mir, ist zumindest ein Anfang. Während ich die Fußgängerzone abgehe, lasse ich das letzte Jahr Revue passieren:
Die Partys.
Michelle.
Der Autounfall.
Vor zwei Wochen lag ich noch im Krankenhaus. Ohne Umweg vom Parkplatz des Palais Rush nach St. Angela, Not - OP, dann sechs Wochen Zweibettzimmer. Mein Bettnachbar war 16, Albaner und erst kurz in Deutschland. Seine Mutter sprach als einzige in der Familie ein paar Fetzen Deutsch. Von ihr erfuhr ich, daß er sich aus Liebeskummer selbst angezündet und dabei fast die ganze Wohnung abgefackelt hatte. Die Familie stand vor dem Nichts, kam uns aber täglich für mehrere Stunden besuchen. Michelle kam am dritten Tag zum ersten Mal vorbei, nur kurz, sie war in Eile. Am vierten Tag kam sie wieder, gerade lang genug für ein Gespräch über sie und die anstehenden Partys ohne mich. Am fünften Tag kam sie nicht mehr.
Die Revue ist vorbei, als ich ihn in einem Schaufenster erblicke: 92 cm Bilddiagonale, 16:9 Format (nicht wie im Leben, aber zumindest wie im Kino), Schlaffunktion, Surround – Sound – System, ein faszinierendes Gerät. Mir wird schlagartig bewußt, daß ich gar keine faszinierenden Sachen mehr besitze. In meiner Sehnsucht nach Farbe schmelze ich vor dem Apparat. Und dann nehme ich ihn mit in der Hoffnung, daß er aus meinem Zuhause eine Alternative zu den Discos macht, in die ich alleine nicht mehr gehen will.

Erwachen:
Ich sehe herab auf den neuen, nicht programmierbaren Videorecorder und den neuen, nutzlosen Buntcomputer.
Auf meine jüngsten Kaufentscheidungen.
Auf mein enttäuschendes Leben.
Herumliegende Fehleinkäufe sind wie der Kater nach einem Partywochenende. Ich halte es hier nicht mehr aus, muß an die frische Luft.
Spazieren.
Den Kopf frei machen.
Eine Zeitung kaufen.
Bloß keine Nachrichten, mir ist schon schlecht genug. Ein Anzeigenblatt. Ich lese „SIE sucht IHN“ und, als ich das ergebnislos durch habe, sogar „PAAR sucht IHN“. Danach, wieder frustriert, den Rest:
Suche GLÜCK.
Suche GEBORGENHEIT.
Suche Videorecorder?
Sie heißt Carmen und hat ihre volle Adresse angegeben. Also lade ich den funkelniegelnagelneuen Elektroschrott ins Auto und fahre ihn zu ihr. Als Geschenk. Dafür soll sie mich zum Essen einladen. Ich habe nicht den Eindruck, Verlust zu machen. Aber die Hoffnung, etwas zu gewinnen. Und wenn nicht, bleibt mir ja noch „Suche Computer“.

Bin gespannt auf Feedback.
tempestrider ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.10.2006, 18:35   #2
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Ich muss überrascht sagen: Es ist anders als das, was ich bisher gelesen habe - schon von der Form her - und es gefällt mir sehr gut!

Die Hilflosigkeit der Konsumenten der modernen Technik gegenüber ist wirklich ein Thema, das immer aktueller wird. Ich versuche dem mit einem baldigen Informatikstudium entgegenzutreten...

Das Ende ist ein klein wenig fies, aber dafür um so sympathischer. Schlimm hätte ich es gefunden, wenn der Protagonist sich nur als Opfer darstellen und jammern würde. Aber am Ende wird er selbst ein kleiner Täter.

Mich stört nur eins - die Leerzeichen vor und nach den Bindestrichen. Das irritiert.

Mark? Ist die Geschichte etwas älter oder hängst Du noch an der alten Währung? :-)
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.10.2006, 19:19   #3
tempestrider
 
Dabei seit: 10/2006
Beiträge: 39


Freut mich, jemanden "positiv überrascht" zu haben.
Aber inwiefern überhaupt "überrascht"? Was ist denn "anders"? Was hast Du denn erwartet?
Und vor allem: Was sollte denn (außer den überflüssigen Blanks) noch anders sein?

Zu dem Thema, der Währung etc.: Ja, ertappt - das Ding habe ich Ende 2000 geschrieben (daher auch der Buntcomputer - damals waren die IMacs gerade der letzte Schrei). Umso erfreuter bin ich, dass es allem Anschein nach kaum etwas von seiner Aktualität eingebüsst hat.

Inwiefern findest Du das Ende fies?
Und vor allem: Wieso Täter?

Noch ein kleiner Tipp zum Abschluss: Wenn Dir der Stil so gefallen hat, schau Dir mal Chuck Palahniuk an (oder falls Du Fight Club gesehen haben solltest, sollte Dir der Stil bekannt vorkommen).
Das hier war nämlich ein Versuch, seinen stil für mich anzuwenden.

Grüße

Tempestrider
tempestrider ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.10.2006, 20:09   #4
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Fragen über Fragen. :-)
Ich gehe mal einfach chronologisch vor.

Positiv überrascht, weil ich eine Weile nichts so Gutes gelesen habe. Ich freue mich immer über gute Geschichten. Und bei "Neuen", was Du ja nunmal bist, muss ich meine Erwartungen erst anpassen. Jeder hat hier ein anderes Niveau und man weiß vorher nie, welches.

Und überrascht, weil ich die Form auf den ersten Blick nicht so ansprechend fand. Ich dachte - bei so experimentellen Sachen, naja, das ist meistens nicht so meins. Ich mag klassische Kurzgeschichten am liebsten.

Aber so wie es ist, habe ich gerade keine Verbesserungsvorschläge parat. Wenn mir doch mal etwas einfallen sollte...

Am Ende ist der Protagonist leicht fies, weil er ein Geschenk macht, von dem er weiß, dass seine Carmen es höchstwahrscheinlich auch nicht nutzen kann. Er wird ihr wohl kaum vorher sagen, dass er es eigentlich für sich gekauft hat, aber nicht damit klarkommt. D.h., er betrügt sie damit eigentlich ein wenig, stellt sich als wohlwollender dar, als er eigentlich ist.
Täter, weil er nicht in seiner Opferrolle verbleibt und vergrämt rumheult, dass seine Käufe Fehlkäufe waren, sondern weiterhin zur Tat schreitet, um sein Leben zu verändern - und auch wegen dem Geschenk für Carmen. Er mutet damit jemand anderem genau das zu, was er selbst verabscheut.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.10.2006, 12:25   #5
tempestrider
 
Dabei seit: 10/2006
Beiträge: 39


Hallo Struppigel,

also erstmal danke für dieses Haufen Lob! Ich weiß noch gar nicht, wo ich den Unterbringen soll...

Ich gebe zu, dass Du das Ende ganz anders liest, als ich es bisher getan habe - und ich finde das sehr interessant, gerade weil Diene "Interpretation" nicht von der Hand zu weisen ist. Und irgendwo identifiziert sich wohl beinahe jeder Autor mit seinen Protagonisten (gerade diejenigen, die einen Ich-Erzähler wählen).

Vielen Dank für das Feedback jedenfalls!

Gruß

Tempestrider
tempestrider ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.10.2006, 12:31   #6
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Darf ich erfahren, wie Du das Ende liest?
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.10.2006, 12:49   #7
tempestrider
 
Dabei seit: 10/2006
Beiträge: 39


Mir ging es dabei weniger um Opfer- oder Täterrollen (bewusst meine ich - wie gesagt, Deine Interpretation finde ich sehr erhellend), sondern primär um die Bedeutung der Prioritäten, die wir uns selbst setzen. Der Erzähler hat mit den "Lebensentwürfen" vom Erleben (Parties etc.) und vom Besitzen nicht sein eigentliches Ziel erreicht - nämlich glücklich zu sein, Freude zu erleben. Er schafft es nicht, das Gefühl eines großen Mangels zu besiegen - weil er es nicht wirklich versucht. Er ist immer davon ausgegangen, dass er seinem Leben einen Inhalt geben lassen kann.
Am Ende versucht er es eben selbst - nichts um ihn herum hat sich geändert, der Auslöser ist sogar eine Person, die genau wie er gerade vorher noch nach Besitz strebt (sonst weiß er praktisch nichts über sie). Aber er findet einen Weg, daraus eine Veränderung an sich selbst zu machen.
Ob die nun gut ist, ob es ihm danach besser geht, ist nicht so wichtig - denn das wichtigste hat er schon erreicht: Vorfreude.
tempestrider ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.10.2006, 12:55   #8
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Ja, das habe ich auch rausgelesen. Ist so das Moralische an der Geschichte, denke ich. Konsum allein macht nicht glücklich, kümmert euch lieber um das Soziale oder so. Und nehmt eurer Glück selbst in die Hand.
Na jedenfalls war das nicht etwas, das mir so besonders gefallen hat, dass ich es erwähnen wollte. Es gibt viele Geschichten, die zu sehr auf der moralischen Schiene gleiten, weshalb ich das eigentlich satt habe. Soll heißen: Ich finde solche Sachen ok, wenn sie nicht das Einzige sind, das eine Geschichte ausmacht.
Diese "Leseweise" ist - denke ich - auch nichts, was sich mit meiner Interpretation beißt.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
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