Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 27.07.2016, 11:07   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.115


Standard Frühlingserwachen

Die Fanfaren des Frühlings kündigten seit Tagen von dessen Kommen, aber kurz vor seiner Ankunft trat er zur Seite, um dem Winter einen würdigen Abschied zu gestatten. Von Osten blies ein eisiger Wind, Reif bedeckte das frische Grün, die Schneeglöckchen trotzten der Kälte, und die Blüten der Magnolien verweigerten das Öffnen. Es war des Winters letzter Kuss an die Natur, bevor er sein Amt dem Frühling überließ, der zum Erwachen bringen sollte, was drei Monate lang in der Erde schlummerte.

Die Wolkenschicht, die der Sonne nur hier und da einen flüchtigen Blick auf die Erde gewährt hatte, deren Bewohner im Dämmerlicht ihrem Tagewerk nachgingen, löste sich allmählich auf. Es wurde hell.

Lisa sah durch die beschlagenen Fensterscheiben auf die Straße und beobachtete die Menschen, die ihr zielstrebig und dennoch willenlos vorkamen. Wie Insekten, die einem Instinkt folgten, wimmelten sie in verschiedene Richtungen dahin. Auch sie sollte sich, ihrer Gewohnheit folgend, duschen, anziehen, frisieren, schminken und zur Arbeit gehen. Wie jeden Tag.

Sie schaltete das Fernsehgerät ab, vor dem sie am Abend eingeschlafen war. Sie hätte zu Bett gehen sollen, als sie feststellte, dass das Programm nichts hergab. Statt dessen war sie auf dem Teppich eingeschlafen und hatte sich den Rücken verspannt.

Den Becher mit Schnellkaffee nahm sie mit ins Badezimmer und stellte ihn auf der Spiegelkonsole ab. Zu heiß konnte sie ihn nicht trinken. Sie hatte nie verstanden, dass es Menschen gab, die heiße Getränke und heißes Essen vertrugen, ohne sich den Rachen zu verbrennen. Lauwarm war es ihr gerade recht.

Sie schaute in den Spiegel, betrachtete ihr hübsches, von zu wenig Schlaf und zu viel Wein gezeichnetes Gesicht, prüfte kritisch die Pupillen ihrer müden Augen und machte eine Kampfansage: „Lisa, du hast gelumpt, und jetzt musst du büßen. Als Zombie kannst du unmöglich vor die Tür treten!“

Dabei wäre sie gerne mal ein echter Zombie gewesen. So ein Wesen, das man nicht mehr zerstören kann, das über alles erhaben ist und vor dem sich alle Menschen fürchten. Vor allem ihr Boss.

Lisa riss das Badezimmerfenster auf und ließ die kühle Morgenluft herein. Das würde ihrem Teint guttun.

Unter der Dusche seifte sie sich ein, ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt war und brauste sich von unten nach oben so lange ab, bis sie sich hellwach fühlte.

Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, nahm sie einen Schluck des abgekühlten Kaffees. Das Zähneputzen musste warten, bis der Becher leer war.

Im Schlafzimmer zog sie sich an, eilte ins Badezimmer zurück, schloss das Fenster und begann, sich dem Hauptteil zu widmen: dem Schminken und Frisieren.

Die Haare waren kein Problem. Sie waren schwarz, dick und schulterlang, was Lisa den Spitznamen „Schneewittchen“ eingetragen hatte. Mit zwei Handgriffen war die Frisur in Form gebracht. Das Schminken dauerte länger. Da Lisa grüne Augen hatte, bevorzugte sie Brauntöne als Lidschatten, wenn sie weich wirken wollte. Grauer Lidschatten eignete sich eher für Unnahbarkeit. Ein kräftiges Blau legte sie auf, wenn sie irritieren wollte. Wie bei Justin, der sie anhimmelte und in die Pizzeria ausführte. Er kam nie dahinter, was die Dissonanzen ihn ihm ausgelöst hatte, als er mehrmals versuchte, tief in Lisas Augen zu blicken.

Lisa wusste mit ihrem Augen-Make-up zu manipulieren. Ihr Kummer war, den Lidstrich nur mit äußerster Konzentration richtig ziehen zu können, denn am Außenrand der Lider hatte sie eine kleine Falte, welche die Linienführung unterbrach. Oft musste sie das Make-up wegwischen und von vorn beginnen. Diese Falte hatte nichts mit ihrem Alter zu tun, sondern war dem Erbgut ihres Vaters zu verdanken.

Lisa hasste ihre Augen. Sie waren groß, standen weit auseinander und waren dicht bewimpert. Die Farbe der Pupillen war ein tiefes Grün mit einem zartbraunen Innen- und einem blauen Außenrand. Es waren die Augen ihres Vaters.

Er verließ sie, als sie ihn am dringendsten brauchte, weil sie auf die alkoholkranke Mutter nicht mehr bauen konnte. Er verließ sie, obwohl sie ihn abgöttisch liebte und es für sie unvorstellbar war, was im Leben ihn glücklicher machen konnte als sie zur Tochter zu haben, die er immer seine „Prinzessin“ nannte. Bis sie zum ersten Mal die Frau sah, die er nach der Scheidung von ihrer Mutter geheiratet hatte, und der letzte Funken Hoffnung verlöschte.

Anfangs kümmerte sich der Vater noch um Lisa, aber es war nicht mehr dasselbe wie vorher. Er war ein Besucher, ein Grüßonkel, ein Vorsprecher, ein Bittsteller …

Allmählich erschlaffte das Band, und als Lisa volljährig wurde, hatte sie den Kontakt zum Vater völlig verloren.

Aber nicht, wenn sie in den Spiegel schaute. Da war mehr als die nur die gleichen Augen. Die breite Stirn, die hohen Wangenknochen, die klassische Nase, das kräftige Kinn mit dem angedeuteten Grübchen, die geschwungenen, sinnlichen Lippen …

Lisa hasste ihr Gesicht. Sie hasste alles, was sie an ihren Vater erinnerte. Ihre Mutter war auch eine schöne Frau gewesen. Warum durfte sie nicht aussehen wie ihre Mutter?

Der Kaffee war ausgetrunken. Lisa putzte die Zähne, zog ihre Schuhe an, prüfte die Handtasche nach ihrem Inhalt und machte sich auf dem Weg zur Arbeit.

Während sie die Strecke abfuhr, dachte sie an ihre Verabredung für diesen Abend. Sie trafen sich seit drei Monaten. Er sah gut aus, war groß und sportlich, hatte grüne Augen und ein unwiderstehliches Lächeln. Weshalb geriet sie immer an verheiratete Männer?

Keine Verbindlichkeiten. Niemand, der ihr nochmal das Herz brechen konnte.

Als die Ampel auf Grün umschlug, legte Lisa den falschen Gang ein und würgte den Motor ab.

Während sie neu starte, beschloss sie, die Verabredung abzusagen.

Der Frühling hatte den Winter verjagt und war siegreich eingezogen. Der Ostwind gab sich geschlagen, die Schneeglöckchen genossen die Sonne, und die Vögel sangen lauter. Die Zeit war gekommen, den Herzschlag neu zu spüren.

Auf dem Mittelstreifen der Straße leuchteten die Krokusse.

27.07.2016
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Frühlingserwachen



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Frühlingserwachen Ex-Peace Tanka-, Haiku- & Senryu-Gedichte 4 26.07.2012 22:10
Frühlingserwachen Desperado Lebensalltag, Natur und Universum 0 17.04.2012 19:51
Frühlingserwachen Angela Cochell Gefühlte Momente und Emotionen 0 05.04.2010 19:21
Frühlingserwachen DemonOfTheFall Lebensalltag, Natur und Universum 2 08.05.2008 14:46


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.