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Alt 20.04.2024, 18:37   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Versöhnung

"Verflucht!" Nicht als begrifflich ausgesandten Alarm seiner Synapsen, als hätten sie diesen Gedanken erst formulieren müssen, nahm Tobias seine Erregung wahr, sondern als Reflex, als habe seine Hand versehentlich eine heiße Herdplatte berührt. Die spontane, gesunde Reaktion wäre in diesem Fall gewesen, die Hand zurückzuziehen, um Schmerz zu vermeiden. Aber Tobias befand sich in einer Situation, in der an Rückzug nicht mehr zu denken war. Längst begann sich die Muskulatur in seinen Schulterblättern zusammenzuziehen und sich sein Rücken zu versteifen. Trotzdem blieb er nicht stehen, doch seine Schritte wurden zögerlicher, und sein Gang verlor zunehmend an Selbstsicherheit.

Er hatte Florian zu spät erkannt. Wie immer, hatte er aus Eitelkeit seine Brille zu Hause gelassen, obwohl Silvia ihn deswegen abwechselnd teils auslachte, teils ausschimpfte. "Wem willst du da draußen gefallen, Dorian Gray? Und wieso findest du es chic, jedes Mal mit Schuhen heimzukommen, an denen Hundekacke klebt?"

Tobias war kurzsichtig, und weil er seine Brille nicht tragen wollte, hatte er seinen Bruder Florian erst erkannt, als dieser nur noch fünf Autolängen von ihm entfernt war. Wäre direkt vor ihm ein Kastenwagen unter den parkenden Fahrzeugen gewesen, hätte Tobias eine Chance gehabt, dahinter abzutauchen, die Straße zu überqueren und so zu tun, als hätte er Florian nicht gesehen. Aber es handelte sich ausnahmslos um stinknormale Personenkraftwagen, die zur Deckung nicht taugten. Unter diesen Umständen kam ein Ausweichen auf die andere Straßenseite nicht in Frage, denn das hätte nach Kapitulation ausgesehen. Er wollte nicht als Hund wahrgenommen werden, der sich mit eingezogenem Schwanz in seine Hütte verkriecht.

Die Konfrontation war nicht zu vermeiden.

Im Tempo von Millisekunden ratterten durch Tobias' Gehirnzellen die Möglichkeiten, wie er seinem Bruder gegenübertreten sollte. Ein schwieriges Unterfangen nach allem, was sich vor fünf Jahren ereignet hatte.


* * * * *

Damals waren sich die Brüder einig gewesen und hatten wie Pech und Schwefel gegen alles zusammengehalten, was ihre Eintracht zu bedrohen schien: Tobias, der zwei Jahre ältere Florian und Markus, der jüngste Bruder. Kam es dennoch zu Auseinandersetzungen, die unverhandelbar erschienen, schlug Johanna, die einzige Schwester, wie der Blitz ein und sorgte für Ruhe und Ordnung. Obwohl sie altersmäßig zwischen Tobias und Markus stand, besaß sie eine natürliche Autorität, die dem Respekt gegenüber der Mutter in nichts nachstand.

Kurz gesagt: Die Geschwister waren ein verschworener Haufen, als hätten sie den Eid der Musketiere abgelegt: "Einer für alle, alle für einen." Daran hielten sie fest, bis sie alt genug waren, ihre selbstgewählten Wege zu gehen und eigene Familien zu gründen. Aber auch dann blieb der Kontakt viele Jahre hindurch unerschütterlich harmonisch.

Bis die Eltern starben. Erst die Mutter an zu spät erkanntem Brustkrebs, zwei Jahre danach der Vater, mehr aus Kummer über den Tod seiner Frau als wegen eines körperlichen Leidens.

Ihre Hinterlassenschaft wäre für einen einzelnen Erben der Millionen-Jackpot gewesen, aber auch die Verteilung auf die vier Geschwister, wie es die Eltern testamentarisch verfügt hatten, erwies sich für jeden von ihnen als üppig genug, ihren Wohlstand auf einen Schlag um ein Vielfaches zu mehren. Wären nicht drei Schwiegertöchter gewesen, die den Wert des Sanitätshandels, der Johanna übereignet worden war, der elterlichen Villa, einiger Investitionen in Wohnimmobilien und eines jahrzehntelang aufgebauten Aktiendepots akribisch berechnet hätten, wobei ihr Ergebnis immer zum Nachteil des eigenen Ehepartners ausfiel. Lediglich Robert, Johannas Ehemann, sah es unter seiner Würde an, sich, wie er sagte, "mit gierigen Wölfen um Fleischbrocken zu balgen, die er weder selbst erbeutet noch verdient hatte". Dies sei alleine Johannas Angelegenheit, in die er sich nicht hineinziehen lasse.

Das stachelte die Ehefrauen der Brüder noch mehr dazu an, alle Register zu ziehen, um ihre Ehemänner in die Rolle der Zukurzgekommenen zu drängen. "Robert hat gut reden. Der hat selbst reiche Eltern und als Orthopäde ein gutes Einkommen. Wäre Johanna nicht schon zu Vaters Lebzeiten in das Sanitätsgeschäfts eingestiegen, das ihr jetzt gehört, hätten sie und Robert sich vielleicht nie kennengelernt. Er hängt mit drin, ob er will oder nicht."

Robert blieb stur. Dieses gegeneinander Aufrechnen tue nicht gut, denn es gebe keinen allgemeingültigen Maßstab für die absolut gerechte Verteilung eines derart umfangreichen und differenzierten Vermögens. Die Brüder, zusehends unter dem Einfluss ihrer Frauen, zumindest aber gehalten, für diese Partei zu ergreifen, wiesen ihn zurecht: Wenn er sich schon nicht an ihrer Diskussion beteiligen wolle, solle er besser ganz den Schnabel halten und es ihnen überlassen, welchen Wert sie dem Gesamtvermögen der Eltern zumessen. Empört haute Johanna auf den Tisch: "Ihr solltet Demut gegenüber dem letzten Willen von Verstorbenen zeigen. Es ist nicht euer Vermögen, über das ihr streitet, sondern das, was unsere Eltern hart erwirtschaftet haben. Also mäßigt euch!"

Ihre Worte verhallten im Wind, denn nachdem die Brüder sich mit ihrem und Roberts Standpunkt abgefunden hatten, gerieten sie untereinander in Streit um die ihnen vermeintlich zustehenden Erbschaftsanteile. Da sie sich nicht einigen konnten, engagierten sie Anwälte, die ihre Interessen einklagen sollten. Seitdem sprachen sie kein Wort mehr miteinander. Nach einigen Versuchen, ihre verstocken Brüder wieder zusammenzubringen, hatte Johanna resigniert und sich auf ihre eigene Familie konzentriert.


* * * * *

Zu Tobias' Überraschung hob Florian ihm die flache Hand entgegen. "Hallo, Tobias, schön, dich zu sehen. Schon eine Weile her."

Wie sie es in früheren Jahren gewohnt waren, klatschte Tobias die dargebotene Handfläche ab, wenn auch nach kurzem, kaum merklichem Zögern. "Was machst du denn hier in unserer alten Gegend?"

"Bin dabei, mir eine Wohnung zu kaufen. Zurück zu den Wurzeln. So in etwa."

"Zurück? Ach so?" Tobias begann zu stammeln. "Ja, also … zurück. So wie … wie halt … früher."

"War doch schön, damals. Oder?"

"Ja, solange die Eltern noch da waren. Und Johanna."

Tobias sah, wie Florian erblasste. "Was ist mit Johanna?"

"Weißt du es nicht?"

Florian schüttelte den Kopf. "Ich weiß von niemandem, seit wir damals auseinandergingen und uns gegenseitig die Pest an den Hals wünschten."

"Ich schon. Von Johanna. Sie hatte nie die Hoffnung aufgegeben, uns wieder an einen Tisch zu bekommen. Aber dann, vor zwei Jahren, begann der Krebs sie zu zwicken und so viel Gefallen an ihr zu finden, dass er sie nicht mehr losließ. Brustkrebs, wie bei Mutter. Als klar war, dass sie sterben würde, rief mich Robert an."

Er machte eine kurze Pause, als er spürte, dass die Erinnerung an Johannas Tod seine Stimme zu brechen drohte.

"Wo ist sie beerdigt?"

"Auf dem Waldfriedhof, in Roberts Familiengrab. Ihre genaue Adresse erfährst du bei der Friedhofsverwaltung."

Florian wirkte betroffen. "Warum hat Robert dich angerufen, mich aber nicht? Und was ist mit Markus?"

Tobias zuckte die Schultern. "Offen gesagt, weiß ich es nicht. Ich war völlig benommen, als Johannas Tod real geworden war … Weißt du, ich konnte es mir bis dahin einfach nicht vorstellen, dass es sie nicht mehr geben sollte. Ich dachte nicht daran, nach dir zu fragen. Oder nach Markus."

"Dann war Markus auch nicht auf Johannas Beerdigung dabei?"

Tobias schüttelte den Kopf. "Er nicht, und ich auch nicht. Nach allem, was vorgefallen war, wollte Robert keinen von uns dabei haben. Wir sollten nur Bescheid wissen, dass sie tot ist."

Florian sah auf seine Armbanduhr. "Ich habe noch eine halbe Stunde bis zur Wohnungsbesichtigung. Hast du Zeit, ein Stück mit mir zu gehen?"

Tobias nickte. "Runter zum Fluss? Wo wir früher Steinchen übers Wasser hüpfen ließen?"

Am Ufer sahen sie den Schwänen zu, die sich mit aufgefächerten Flügeln auf dem Wasser treiben ließen. "Wir waren Idioten, Tobias, uns wegen ein paar Säcken Kies mehr oder weniger in die Haare zu kriegen."

"Stimmt. Aber Verstand und Vernunft sind zwei paar Schuhe, die sich nicht immer grün sind. Jeder von glaubte, im Recht und im Besitz der stichhaltigsten Argumente zu sein."

"Am Ende war's für nichts."

"Für rein gar nichts. Wir haben lediglich ein paar Anwälte reicher gemacht und standen vor dem Richter wie die Hornochsen da. Am Testament unserer Eltern gab es nichts rütteln, die hatten sich jedes Wort gut überlegt. Es ging nicht nur um die Vermögensverteilung, sondern darum, wer von uns mit dem zugedachten Anteil am besten umgehen konnte. Es war richtig, dass Johanna den Laden samt dem Geschäftskonto bekam. Du die Immobilien, und ich die Villa und das Aktiendepot. Das alles zu zerstückeln und jedem etwas von jedem zu geben wäre für keinen von uns auf Dauer gut gewesen. Das hätte sich wahrscheinlich auch gar nicht machen lassen."

"Das hätten unsere Anwälte wissen und uns darüber aufklären müssen."

"Vergiss es, Florian. Wir waren für sie Melkkühe."

"Wir waren blind gewesen, Tobias, blind wie die Nacktmulle." Florian hob einen Kieselstein auf und prüfte ihn, ob er flach und glatt genug war. "Wir müssen Markus ins Boot zurückholen, jetzt, wo wir wieder miteinander reden können."

"Das sind wir Johanna schuldig. Wir hätten auf sie hören sollen."

"Zu spät." Florian schwang seine Hand und ließ den Stein über die Wasseroberfläche springen. Tobias ließ seinen Tränen freien Lauf, während er mitzählte: eins, zwei, drei, vier … Für jeden der Geschwister machte der Stein einen Hüpfer, ehe er im Fluss versank.

20.04.2024
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
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Alt 22.04.2024, 13:08   #2
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Standard hoho Ilka

... ein positiver Schluss, gefällt mir.
Durchaus möglich, wieder gut geschildert.
Ich hörte schon von Klagen wegen ein Paar Ohrringen und Modeschmuck, auch da nur wegen Einflüsterungen anderer. Vermutlich wird es selbst bei den Erben von Messies gelegentlich Streit geben. Manche können nicht gönnen.
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
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