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Alt 12.06.2012, 17:04   #1
männlich Tschatscha
 
Dabei seit: 06/2012
Alter: 58
Beiträge: 19


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Fatima, Frau und Mutter, zuhause in der Dunkelheit der Wüste.

"Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt."
(G.W.F. Hegel)

Gestern spät am Nachmittag saß Fatima aufrecht in ihrer Grube. Ein Gefühl der Unruhe, das sie schon seit Stunden in sich verspürte, gab ihr die Kraft, den Rücken gerade zu halten. In ihrem Leben ist es für sie nicht üblich, in aufrechter Körperhaltung der Welt und den Menschen zu begegnen. Obwohl sie einst als gesundes Kind geboren worden war, wurde ihre Wirbelsäule von Jahr zu Jahr schwächer, krumm wie ein Palmenblatt, auf dessen Spitze ein schwerer Vogel sitzt, der tagein tagaus die Pflanze ihres natürlichen Wachstums beraubt. Folglich ist es wohl nicht verwunderlich, wenn sie so gut wie jederzeit auf dem Rücken liegt, was in der Grube ausgestreckt leicht möglich ist, hält sie die Beine spitz im Winkel. Doch gestern saß sie aufrecht, die Arme hielt sie um die Knie geschlungen, den Kopf weit in den Nacken zurückgelegt. Aus der ungewöhnlichen Haltung heraus blickte sie hoch zu den Konturen, den Kanten ihrer Grube. Sie waren ihr so nah wie früher die Abrisse im Aushub des Vaters. Als Kind war es ihr manchmal sogar möglich gewesen, über sie hinaus zu sehen. Damals konnte sie noch auf den Zehenspitzen stehen.

Ihre oft verwirrten Gedanken spielten ihr gestern einen Streich. Durch die geöffneten Augen drang ein überaus helles Licht in ihren Körper. Geblendet schlug sie die Hände vor das Gesicht, doch durch die Lücken zwischen den Fingern berührte sie der Augenblick: Ein kleines Mädchen stand ganz in ihrer Nähe. Es hielt eine schwarze Tulpe mit dem Blütenkopf nach unten gerichtet in der Hand. Mit sanfter Stimme fing es an, ein Lied zu singen. Es sang von einem Kind, das von einer kleinen weißen Wolke herunterfiel und weinend im Wüstensand ertrank. Das Mädchen drehte sich zur eigenen Stimme unaufhörlich im Kreis, mit spitzen Fingern hielt es links und rechts den Rock seines Kleidchens ein wenig in die Höhe. Das Haar trug es offen, ein durchsichtiger, grünlicher Schleier hielt sein Angesicht angedeutet verborgen. Nach einigen Minuten verstummte das Mädchen, blieb regungslos stehen. Es sah aus seltsam leeren Augen in die Welt. Fatima streckte dem Mädchen die Hände entgegen, doch das Kind legte die Blume mit einer raschen Bewegung in den aufgeworfenen Sand einer winzigen Düne nieder, dann warf es ihr eine Kusshand zu, drehte sich herum und rannte mit flinken Beinen davon, während über ihm am Himmel Tausende Fahnen in grüner Farbe wehten.
Fatima wollte sich erheben, dem Mädchen hinterherlaufen, doch vernahm sie über sich die Geräusche eines Menschen oder gar jene eines Tieres, die sie zum Ruhigbleiben ermahnten. Sie ließ sich zurück auf den Rücken fallen, kaum merklich atmend wartete sie auf das den Schritten folgende Geschehen. Am Rand der Grube über ihr stand alsbald Ismael, ihr zehnjähriger Sohn. Neugierig betrachtete er die Mutter. Seinen schmalen Kopf hielt er zur rechten Schulter geneigt, das Gesicht war unbeweglich, bis auf seinen Mund, kaum merklich kaute der Knabe in einer der Mutter bekannten Gepflogenheit an einem Sonnenblumenkern. Nach einem Weilchen holte er aus seiner Hosentasche ein Spielzeug hervor. Es waren die zusammensetzbaren Teile einer kleinen Pferdefigur. Abschätzend musterte er das verzinkte Eisen, dann fiel sein Blick zurück auf die Mutter. Einen Moment zögerte er, als denke er noch einmal über sein Vorhaben nach, dann ließ er die Handvoll in die Grube fallen. Fatima lächelte verlegen. Der Junge erwiderte das Lächeln nicht, stattdessen deutete er auf die verstreut liegenden Eisenteile in der Grube. Fatima wusste, der Sohn hatte ihr eine zu lösende Aufgabe gebracht, was für sie schon alltäglich geworden ist. Die Mutter verstand das eigene Kind, ohne dass es ein Wort von sich gab, wie es einer Mutter gegeben ist. Es stand ihr nicht zu, dem Sohn sein Begehren abzulehnen. So versuchte sie die einzelnen Teile zusammenzuschrauben, doch tunlichst war sie darauf bedacht, sich dabei möglichst ungeschickt anzustellen - sie drehte die losen Teile der Figur aneinander, entgegen jeder schließenden Richtung, ohne es einmal auf andere Art und Weise zu versuchen. Nach geraumer Zeit stöhnte sie auf, wie es ein Mensch nur zustande bringt, wenn ihm aus seinem erschöpften Geiste heraus Angestrebtes nicht gelingt. Fatima verneinte mit einer leichten Kopfbewegung den fragenden Blick ihres Sohnes; mit gesenkten Augen sprach sie eine Entschuldigung. Sie legte die ungelöste Aufgabe zu den hundert anderen Spielzeugteilen, die sie in der Scharte neben sich seit Monaten sammelte. Ismael nickte zufrieden, er spuckte lächelnd ein Stück Schale aus.
Ein Schatten breitete sich über dem Jungen aus, Achmed trat an die Seite Ismaels heran. Wohlwollend legte der Vater dem Sohn die Rechte auf die Schulter. In der Linken hielt er sein Gebetbuch aufgeschlagen, aus dem er zu lesen begann. Mit tiefer Stimme sprach er Wort für Wort aus dem heiligen Buch. Seine Stirn glänzte nass, er schwitzte nachhaltig von seiner schweren, stundenlang ausgeführten Arbeit. Sein Bart, der ihm weit hinab in die Brust reichte, war von feinen Sandpartikeln gelb gefärbt, an mancher Stelle war sein weißes Leinenhemd der sauberen Ehrbarkeit durch allerhand Schmutz beraubt. Doch rein und blass standen seine entblößten Füße frisch gewaschen auf dem gesegneten Land.
Fatima nahm die Worte ihres Mannes kaum mehr wahr, er sprach für sie wie ein Fremder, wie ein Mensch, der nur sich selbst und der gottesfürchtigen Führung Glauben schenkte. Die einkehrende Erinnerung an seine erledigte Arbeit brachte sie einer Ohnmacht nahe. Den ganzen Nachmittag über hatte sie der Schaufel zugehört. Heute hatte er für die jüngste Tochter den Aushub vollbracht. Er konnte sich nicht weit von ihr entfernt befinden, sie hörte ihn während der Arbeit über Stunden ein Gebet um das andere murmeln. Vielleicht gelang es ihr, noch einmal mit ihrer Tochter zu sprechen. Sie tastete in der Grube nach einem Stein – doch ihr Aufbegehren verlor sich in der Dunkelheit. Fatima schloss die Augen. Am Himmel sah sie das kleine Mädchen in einem Meer aus grünen Fahnen.

In einem wüsten Land fand ich einst eine Oase. Sie war gesund und frisch, ein Quell der Lebensfreude. Aber das Land hält bis heute an seiner Wüste fest, es lässt keine Oase gedeihen, es bringt Tod und Verderben überall dorthin, wo blühendes Leben sich versammelt. Der Wind trägt den Sand, er formt das Leichentuch, das er niederlegt über die Träume von einer grünen Welt.
Tschatscha ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.10.2012, 20:48   #2
weiblich Damaris
 
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Dabei seit: 03/2008
Ort: München
Alter: 57
Beiträge: 261


Liebe Tschatscha,
tief traurig hat mich Deine KG zurückgelassen.
Du hast eine wunderbar harmonische Art zuschreiben, die mir noch fehlt. Es liest sich wie ein sorgsam gewebter Teppich voller verschiedener und doch zueinander passender, Gedanken und Gefühle, der nie den "roten" Faden verliert.
Die Bilder sind auch sehr schön und stimmig zum Thema, zb:
Zitat:
krumm wie ein Palmenblatt, auf dessen Spitze ein schwerer Vogel sitzt, der tagein tagaus die Pflanze ihres natürlichen Wachstums beraubt.
Hach, lG Damaris.
Damaris ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 31.10.2012, 06:31   #3
männlich Tschatscha
 
Dabei seit: 06/2012
Alter: 58
Beiträge: 19


Danke für deinen Kommentar, er wärmt mich schon am frühen Morgen.
Ich wünsche dir einen schönen Tag.

Tschatscha
Tschatscha ist offline   Mit Zitat antworten
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