Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 23.06.2023, 17:12   #1
männlich Eziotar
 
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 36


Standard Paul

Verlegen stand Paul neben dem nach frischem Weichspüler riechenden Bett seiner Mutter. Die Hände hielt er steif hinter seinem Körper verschränkt. Er wusste nicht, was er sagen sollte, dabei hätte er gerne so viele Dinge gesagt. Dass er niemanden auf der Welt mehr liebte als seine Mutter, zum Beispiel. Oder dass er sich nicht vorstellen konnte, in Zukunft ohne Sie zu leben. Birgit war 42 Jahre alt und befand sich im Endstadium eines sich aggressiv ausbreitenden Bauchspeicheldrüsenkrebses. Die Nachricht war ohne Vorwarnung über die Familie hereingebrochen. Seit Paul vom Tod wusste, war dies seine größte Lebenssorge gewesen. Jetzt, wo sie eingetreten war, wirkte alles so irreal, wie in einem wirren Traum.
"Wie war es in der Schule, mein Schatz?", fragte Birgit ihren Sohn mit einem liebevollen, müden Lächeln.
"Sehr schön", antwortete Paul knapp. Einige Minuten unterhielten Sie sich noch über alltägliche Dinge, dann schloss Paul vorsichtig die Tür.
Paul war siebzehn Jahre alt und besuchte das Gymnasium in Esslingen, einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Da er nur in Mathematik Hausaufgaben hatte und diese wie jedes Mal morgen vor der Schule von irgendjemandem abschreiben würde, schrieb er seinem besten und einzigen Freund Bekir. Dieser war im gleichen Alter wie Paul, hatte aber, sehr zur Beschähmung seines ehrgeizigen Vaters nur die Hauptschule besucht und hing nun bereits seit über einem Jahr völlig untätig zuhause herum. Da er wie immer nichts zu tun hatte, sagte er Paul sofort zu, sich zu einem Spaziergang zu treffen.

Eine Stunde später liefen die beiden Freunde durch den Stadtpark. Paul trug ein Sixpack Bier mit sich herum. Bekir erzählte mit einem sonderbaren Glanz in den Augen vom Islam und von der Schönheit des Korans. Seine Religiosität war eher von schwärmerischer, romantischer Natur als von Regelgläubigkeit und strenger Lebensführung geprägt. So war er dem Alkohol alles andere als abgeneigt und aß auch ab und zu Schweinefleisch. Nur eine Freundin hatte er, genau wie Paul, noch nicht gehabt, aber dies hatte wohl kaum religiöse Gründe. Die beiden waren befreundet, seit sie zusammen die erste Klasse besucht hatten. Die Verbindung war wohl vor allem entstanden, weil sie beide Außenseiter gewesen waren und sich notgedrungen zusammengetan hatten. In den Jahren war allerdings aus dieser Notgemeinschaft eine echte und tiefe Freundschaft entstanden.
"Bekir, glaubst du eigentlich wirklich, dass nach dem Tod noch etwas kommt?", fragte Paul. Bekir schwieg einige Sekunden. Dann antwortete er vorsichtig: "Vielleicht. Allerdings gibt es sicher keinen Himmel und keine Hölle. Wir werden nicht mehr wir selber sein und keine Erinnerung mehr an unser Leben haben. Aber vielleicht gehen wir ja in einer Art gemeinsamem Bewusstsein auf."
"Und alle Personen, die wir gekannt haben, werden wir nie wieder sehen?"
"Wahrscheinlich nicht", sagte Bekir bedrückt und streichelte Paul den Rücken.
Paul seufzte.
"Weißt du, Bekir, meine Mutter ist für mich nicht nur meine Mutter, sie steht für mich auch für eine andere Zeit und ein anderes Lebensgefühl. Sie ist in den achtziger Jahren aufgewachsen. Kannst du dir vorstellen, dass die Schüler damals noch für Hermann Hesse geschwärmt und Gedichte geschrieben haben? Die Mädchen haben sich kaum geschminkt, hatten kurze Haare und ein burschikoses Auftreten. Heutzutage sehen die meisten Mädchen in unserem Alter doch aus wie kleine Nutten, die nichts anderes im Kopf haben, als sich einen großen, starken und vor allem reichen Mann zu angeln. Glaubst du die Leute in unserem Alter verlieben sich überhaupt noch? Ich kann es mir nicht vorstellen! Wer Capital Bra und Beyonce hört und noch nie ein Buch freiwillig gelesen hat, der verliebt sich nicht. Sie halten es vielleicht für Liebe, aber in Wirklichkeit ist es nur Geilheit oder vielleicht der Stolz, vor seinen Freunden eine Freundin zu besitzen."
Bekir warf Paul einen kritischen Seitenblick zu.
"Hör dir doch die Musik von heute an!", rief Paul aus, da er einen Widerspruch erwartete. "Es geht nur noch um schnelle Autos, Markenklamotten und darum, möglichst viele Bitches flachzulegen. Was soll aus so einer Generation denn werden? Ich wünschte so sehr, ich wäre in den Achtzigern geboren."
"Du hast mit vielem Recht", antwortete Bekir zögerlich. "Aber in einigen Dingen haben wir auch Fortschritte gemacht. Heute ist man zum Beispiel viel toleranter was Homosexualität angeht, dafür solltest du doch dankbar sein"
Paul machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das ist alles nur oberflächliche Toleranz" "Die anderen Jungen akzeptieren Homosexuelle, solange sie nichts mit Ihnen zu schaffen haben. Die meisten Jungen haben heute doch keine größere Angst, als für schwul gehalten zu werden. Deshalb gibt es auch heute kaum noch wahre Freundschaften, es gibt nur noch "Kumpels". "Kannst du dir vorstellen, das vor hundert Jahren die Jungen in unserem Alter händchenhaltend oder eng umschlungen auf der Straße gelaufen sind? In konservativen Gesellschaften wie Pakistan und Indien ist das immer noch so. Bei uns wäre das undenkbar. Man könnte ja für schwul gehalten werden!
Bekir grinste. "Mir wäre das egal", sagte er und nahm Pauls Hand in die Seine.
Einen Moment schwiegen beide verlegen. Dann sagte Paul: "Meine Mutter steht für mich für alles, was früher besser gewesen ist. Sie ist romantisch, sie ist individualistisch, sie macht sich nicht das geringste aus Konsum. Ich fürchte, dieses Lebensgefühl geht mit dieser Generation verloren."
"Es gibt Länder, in denen es nicht so schlimm ist", gab Bekir zu Bedenken. "In der Türkei gibt es durchaus noch so etwas wie Romantik".
"Aber für wie lange noch?" fragte Paul heftig. Aus irgendeinem Grund will ja jedes Land genau so werden wie Amerika. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich Amerika hasse. Amerika hat mein Leben zerstört!". Pauls Gesicht verzerrte sich vor Hass.
Bekir klopfte ihm begütigend auf den Rücken. "Ich glaube, du hattest genug Bier", sagte er sanft. Dann fügte er lächelnd hinzu "Es werden auch wieder bessere Zeiten kommen". Den Rest des Spaziergangs schwiegen Sie.

Am Abend besuchte Paul wieder seine Mutter in ihrem Zimmer. Er hatte das Gefühl, dass sie sich den ganzen Tag nicht von ihrem Platz bewegt hatte. "Wie war es mit Bekir?" fragte Birgit ihn sanft lächelnd. "Schön, Mama", erwiderte Paul leise. Dann brach es aus ihm heraus. "Mama, ich habe dich so, so lieb!" Er nahm sie fest in den Arm und schluchzte, zum ersten Mal seit der Diagnose.

An diesem Abend schlief Paul wunderbar friedlich.
Eziotar ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Paul



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Paul Schmuddelkind Düstere Welten und Abgründiges 7 06.05.2015 21:53
Dem guten Väterchen Ernst Paul Thing Humorvolles und Verborgenes 4 11.12.2013 20:45
Suche Titel des Gedichts von Paul Celan am0r Sonstiges Gedichte und Experimentelles 2 04.06.2010 19:40
Hilfe - psalm - analyse - paul celan gottessegen Zeitgeschehen und Gesellschaft 1 28.10.2009 20:19
Paul Young Inline Sonstiges Gedichte und Experimentelles 4 27.01.2007 15:49


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.