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Alt 05.11.2017, 17:08   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard 00:00:01

Ich wünschte, die Zeit stünde still. Nicht wie im Märchen vom Dornröschen, in dem der Hofstaat, die Hunde, Katzen, Pferde und alles, was kreucht und fleucht in einen tiefen Schlaf fällt und darauf wartet, in hundert Jahren erlöst zu werden.

Ich wünschte vielmehr, die Zeit stünde um Mitternacht still, und ab da wiederholte sich der Tag. Immer wieder. Wie in einer dieser Geschichten, in der ein Mensch nach jedem Aufwachen eine neue Chance erhält, die Fehler zu korrigieren, die er am Tag davor begangen hat. Vorausgesetzt, er nimmt die Erinnerungen an seine Fehler mit.

Mir sind Menschen begegnet, die keinerlei Erinnerungen an die Katastrophen ihres Lebens haben. Dieses Talent zum Verdrängungskünstler ist mir nicht gegeben. Ich bereue zutiefst, was ich anderen Menschen angetan habe, und ich schließe nicht aus, dass ich heute mehr unter meinen Taten leide als sie. Die Erkenntnis, ein durch und durch verdorbener Mensch zu sein, ist die schlimmste Erfahrung meines Lebens.

Gestern ließ ich mich darauf ein, mit dem Pfarrer zu reden. Ich wollte wissen, wie mein Leben derart schief laufen konnte, dass ich jetzt um mein Seelenheil fürchten muss. Für meinen Sozialisierungshintergrund sei er nicht zuständig, sagte er, da hätte ich mich rechtzeitig an einen Psychoanalytiker wenden müssen. Aber für mein Seelenheil könne er etwas tun.

Dann erzählte er mir das uralte Ammenmärchen vom Gottessohn Jesus, der sich zwecks Auslöschung aller vergangener und zukünftiger Sünden der Menschheit kreuzigen ließ. Ich solle dieses Opfer dankbar annehmen, mahnte der Pfarrer, dann müsse ich mir um mein Seelenheil keine Sorgen mehr machen. Mit den Worten, Jesus liebe mich und sei immer bei mir, ließ er mich zurück.

Ich fühlte mich nicht wohler als vorher, aber auch nicht schlechter. Aber für eine Weile lenkte mich die Jesus-Geschichte ab. Was war das für ein Mensch gewesen, der sich für Sünden malträtieren ließ, die er nicht begangen hatte? Wie kam er auf die Idee, durch sein Opfer alle Seelen der Welt vor dem Fegefeuer zu bewahren? Verrückt, dachte ich und fühlte mich darin bestätigt, mir die Kirche und ihre absurde Lehre weiterhin vom Leib zu halten.

Trotzdem wünschte ich, der Pfarrer träte jetzt zu mir und spräche dieselben Worte wie gestern. Oder ich sähe nochmal den Mond im frühen Tageslicht verblassen, hörte die Amseln ihr Morgenlied singen, schmeckte denselben Eintopf und das Brot und empfinge nochmal den Brief meiner Frau, den sie durch ihren Anwalt schicken ließ.

Nichts wiederholt sich im Leben, und wenn doch, wäre es eine Komödie. Dann strebte die Handlung unweigerlich auf ein gutes Ende zu: Der Held bekäme eine begrenzte Anzahl von Chancen, sein Problem zu lösen, was aber erst im letzten Moment geschieht, wenn ihm der rettende Trick einfällt, den Wiederholungskreis zu durchbrechen.

Ich bin kein Held, und mein Leben ist keine Filmkomödie. Es strebt unaufhaltsam seinem Ende zu, ohne jegliche Chance auf eine Korrektur. Wenn sie mich nachher holen, wird man mich fragen, ob ich noch einen letzten Wunsch habe. Ja, werde ich antworten, aber den kann mir niemand erfüllen.

05.11.2017
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Alt 06.11.2017, 19:05   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Liebe Ilka,

die Geschichte ist nicht so einfach zu interpretieren. (Außerdem bin ich damit jetzt etwas vorsichtiger).

Ich habe sie einige Male gelesen und darüber nachgegrübelt. Hier geht es wohl um einen zum Tode Verurteilten, der vor der Hinrichtung noch Trost (Vergebung?) beim Pfarrer sucht und sich wünscht, der Tag vor der Hinrichtung möge sich immer wiederholen und die Hinrichtung käme so nie. Einen solchen Wunsch kann natürlich niemand erfüllen.

Eine leise, zum Nachdenken anregende Geschichte, die - in meinem Kopf jedenfalls - nachhallt.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.11.2017, 21:33   #3
wolfgang
 
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Beiträge: 223


Der Text liest sich flüssig, aber auch wie ein Tagebucheintrag. Dass kein Dialog drin ist, ist das Absicht?

Zitat:
"Ich bereue zutiefst, was ich anderen Menschen angetan habe, und ich schließe nicht aus, dass ich heute mehr unter meinen Taten leide als sie."

Tut mir leid, das überzeugt mich nicht. Jeder Täter glaubt, er leide mehr als seine Opfer. Das macht sein Wunsch nach Fehlerkorrektur zunichte. Selbst wenn er die Fehler korrigieren könnte, am nächsten Tag würde er anderen Menschen schaden und dann würde er wieder jammern. Für mich ist der Typ ein Heuchler.

Ich finde die Geschichte noch unrund. Der Typ müsste klarer geschildert werden. Ist er nun ein Heuchler oder nicht? Und selbst wenn man diese Frage offen lassen will, das wäre dann ein offenes Ende, müsste man das Problem (Heuchler oder nicht) schärfer und klarer beschreiben. Vielleicht in einem Dialog mit dem Pfarrer?

Mir fällt auf, Ilka, dass Du sehr gut formulierst und das kannst, was man landläufig "eine Geschichte erzählen" nennt.

Denk noch mal über Deinen Text nach - es lohnt sich!
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Alt 06.11.2017, 22:07   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von wolfgang Beitrag anzeigen
Der Text liest sich flüssig, aber auch wie ein Tagebucheintrag. Dass kein Dialog drin ist, ist das Absicht?
Danke für deine Beschäftigung mit meinem Text, Wolfgang.

Mit der Assoziation "Tagebucheintrag" liegst du richtig. Ich dachte tatsächlich kurz darüber nach, ob ich den Text unter dieser Rubrik einstellen soll. Wäre sicherlich nicht falsch gewesen.

"Dialog": Der Insasse ist mit seinen Gedanken allein, wie er auch physisch allein ist. Mit wem also könnte er einen Dialog führen?

Zitat:
Zitat von wolfgang Beitrag anzeigen
Zitat:
"Ich bereue zutiefst, was ich anderen Menschen angetan habe, und ich schließe nicht aus, dass ich heute mehr unter meinen Taten leide als sie."

Tut mir leid, das überzeugt mich nicht. Jeder Täter glaubt, er leide mehr als seine Opfer. Das macht sein Wunsch nach Fehlerkorrektur zunichte. Selbst wenn er die Fehler korrigieren könnte, am nächsten Tag würde er anderen Menschen schaden und dann würde er wieder jammern. Für mich ist der Typ ein Heuchler.
Der Insasse bzw. Verurteilte "glaubt" nicht, sondern er "schließt nicht aus", dass er mehr leidet als seine Opfer. Mit Sicherheit kann er es also nicht behaupten. Aber er hat ein Gefühl dafür bekommen, was Leid bedeutet. Ein Heuchler ist er trotzdem, denn statt die auferlegte Buße zu akzeptieren, wünscht er sich eine Zeitschleife, um nicht sterben zu müssen. Dies wiederum ist verständlich, denn die meisten Menschen hängen an ihrem Leben.

Im letzten Absatz deiner Kritik setzt du dich psychologisch mit der Figur auseinander und wertest sie. Das liegt in der Natur des Lesers. Ich als Autorin des Textes wollte (und durfte) dem aber nicht vorgreifen. Es geht allein um die Gedankengänge der Figur, nicht um eine Wertung dieser Figur durch mich.
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Alt 06.11.2017, 22:12   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Hier geht es wohl um einen zum Tode Verurteilten, der vor der Hinrichtung noch Trost (Vergebung?) beim Pfarrer sucht und sich wünscht, der Tag vor der Hinrichtung möge sich immer wiederholen und die Hinrichtung käme so nie.
Richtig erkannt, Silbermöwe .

LG
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.11.2017, 18:14   #6
wolfgang
 
Dabei seit: 02/2005
Beiträge: 223


Wo steht, dass ein Autor seine Figur nicht werten darf? Ich hätte verstanden, wenn Du gesagt hättest, ein Autor solle nicht predigen. Ein Autor, der predigt, nimmt seinem Leser das eigene Denken ab. Das ist Entmündigung.

Eine Figur zu werten, heißt nicht zu predigen. Eine Figur werten, das ist für mich, wenn man etwa eine Figur als Klischee darstellt, also ohne Brüche in der Biografie.

Ich weiß gerade nicht, ob wir aneinander vorbei reden oder unterschiedliche Auffassungen über Kurzgeschichten haben?

Ich werde ein Drabble von mir einstellen, in der die Hauptfigur gewertet wird. Meiner Ansicht nach ist diese Wertung aber kein "Sakrileg".
wolfgang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.11.2017, 18:42   #7
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Zitat:
Zitat von wolfgang Beitrag anzeigen
Ich weiß gerade nicht, ob wir aneinander vorbei reden oder unterschiedliche Auffassungen über Kurzgeschichten haben?
Beides. Wir reden aneinander vorbei. Außerdem bezieht sich meine Aussage nicht ausschließlich auf Kurzgeschichten, sondern auf jeden literarischen Text.

Wie ich an anderer Stelle bereits geschrieben habe, sollte der Autor nicht in seiner Geschichte spürbar sein, denn er ist nicht der Erzähler. Der Autor ist der Schöpfer der Geschichte, der Erzähler jedoch ist der Beobachter einer Handlung und damit der einzige, der je nach dem Standpunkt seiner Beobachtung oder seines Wissens (personal, neutral oder auktorial) die Figuren und ihre Handungen werten kann oder nicht.

Wenn also z.B. in einer Geschichte der Nachbar Müller erzählt, dass das neu hinzugezogene Ehepaar Meier ständig streitet, seine Kinder vernachlässigt und das Treppenhaus mit Gerümpel vollstellt, ist dieser Nachbar Müller der Erzähler, der das entweder emotionslos schildert oder aber seine neuen Nachbarn am liebsten zum Teufel jagen würde. Der Schöpfer der Geschichte oder des Romans hat dagegen in der Handlung nichts zu suchen und folglich auch nichts zu bewerten. Das würde den Leser nur irritieren, denn er müsste sich unweigerlich fragen, wessen Stimme da plötzlich aus dem Nirgendwo auftaucht.

Eine andere Sache ist, wenn ein Autor gefragt wird, wie und weshalb er seine Figuren so angelegt hat, wie sie sind. Das kann er natürlich erklären, was jedoch außerhalb der Geschichte stattfindet.
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