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Alt 24.07.2013, 22:04   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Vakuum

"Wir entscheiden das gemeinsam", versicherte er ihr, doch ehe sie es recht bedenken konnte, lag sie mit gespreizten Beinen auf einer gynäkologischen Vorrichtung, während das Werdende verging. Das Vakuum, das sie an ihrem Unterleib erzeugten, saugte und ihr war, als saugte es sich in sie hinein.

Schüttelfrost.

Wenn er ihre heiße Stirn fasste und ihr erklärte, er sei bei ihr, wollte sie ihm dazu die Berechtigung absprechen. Aber sie erduldete die Fürsorge. Sie träumte viel und schlecht. Wochenlang lag sie in ihrem Bett, einsam, regungslos. Der Schleim, den sie von sich geschieden hatte, formte sich zu einem bedrohlichen Geflecht, das, wie ein Pilz, sie zu überziehen begann und sie langsam auffraß. Sie konnte nichts dagegen tun. Hin und wieder stand sie auf, um Babybrei abfließen zu lassen, wie sie es nannte. Manchmal meinte sie, im Widerhall ihrer Ausscheidung leise Seufzer zu erkennen.

Schwere Tropfen.

Ihre Bauchdecke verdorrte bald zu einem weichen, porösen Gewebe. Er streichelte ihren Bauch: "Na? Wie geht's meinem süßen Kartoffelbovist?" War dies alles noch normal? Wer hatte das noch zu entscheiden?

"Es wird alles wieder gut!"

So oft sie auch träumte, sie hatte das Gefühl, dass sie stets ein mal zu wenig mit diesen Worten geweckt wurde. Als träumte sie sich immer tiefer in sich selbst hinein, bis sie sich schließlich in ihrem eigenen Uterus versteckte.
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Alt 25.07.2013, 10:11   #2
männlich Ex web-del
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Eine schreckliche Geschichte, deren Stimmung Du aus meiner Sicht perfekt eingefangen hast - Respekt!

"Kartoffelbovist" musste ich erst einmal nachschauen - passt als Bild aber gut in den Kontext.

Geändert von Ex web-del (25.07.2013 um 11:48 Uhr)
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Alt 25.07.2013, 11:28   #3
männlich Schmuddelkind
 
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Hallo web-del.

Freut mich sehr, dass die aus meiner Sicht bedrückende und vielleicht auch verstörende Stimmung zwischen der bewusst wirren Erzählstruktur hervor sticht. Ich wollte eine ehrliche und in diesem Zusammenhang notwendiger Weise überzogene Geschichte erzählen, ohne überstrapazierte Wörter wie "Schuld" oder "Gewissen" in den Mund zu nehmen.

Bei dem Kartoffelbovist konnte ich es (als Pilzsammler) gar nicht wirklich einschätzen, wie geläufig das Wort ist.

LG
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Alt 25.07.2013, 11:37   #4
Thing
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Zitat:
Zitat von Schmuddelkind Beitrag anzeigen
einem bedrohlichen Geflecht, das, wie ein Pilz, sie zu überziehen begann und sie langsam auffraß sich schließlich in
Lieber Schmuddelkind -


mein erster Einwand:
Nach einem Abort (Schwangerschaftsabbruch) fließt lediglich Blut.
Und nach 3 Tagen spätestens wird die Patientin nach Hause entlassen.
Aber das ist gar nicht so wichtig.

Der obige Satz könne m.E. eine Korrektur vertragen.
Anregung:

...das sie pilzartig zu überziehen begann...
(wobei ich noch eher mycelartig
vorziehen würde, aber der Begriff ist nicht sehr geläufig).

Ansonsten:
Hervorragend geschilderte story!


Herzlichen Gruß
von
Thing
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Alt 25.07.2013, 12:00   #5
männlich Schmuddelkind
 
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Beiträge: 4.798


Lieber Thing,

danke für die Kritik und Anregungen!

Zitat:
Nach einem Abort (Schwangerschaftsabbruch) fließt lediglich Blut.
Na ja, ich war noch nie dabei, aber es gibt ja verschiedene Methoden des Schwangerschaftsabbruchs. Und bei der Absaugmethode kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass es zu hundert prozent nur Blut ist, das fließt. Da müssen doch alle möglichen Flüssigkeiten und Gewebereste mit hinaus befördert werden. Oder? Aber wie gesagt, ein Experte bin ich da nicht und glaube auch nicht, dass du das ohne Hintergrundwissen schreibst.

Zitat:
Und nach 3 Tagen spätestens wird die Patientin nach Hause entlassen.
Die Passage mit der wochenlangen Bettlegrigkeit habe ich auch eher Zuhause verortet und ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass es dafür physiologische Gründe gibt. Ich wollte eher das Bild einer Frau zeichnen, die nach dem Eingriff von Depressionen geplagt ist ("Wochenlang lag sie in ihrem Bett, einsam, regungslos") und sich in einem Zustand befindet, in dem es ihr schwer fällt, (Alpt-)Traum und Realität auseinander zu halten. Daher ist es auch nicht klar, ob sie wirklich so lange im Bett lag oder nur davon träumte (die Schilderung folgt ja direkt nach dem Hinweis, dass sie viel und schlecht geträumt habe).

Zitat:
...das sie pilzartig zu überziehen begann...
Das finde ich gut; ich denke, das ist wesentlich leichter zu lesen. Danke! Mycelartig finde ich tatsächlich noch besser, aber wie du schon gesagt hast: damit können wohl die Wenigsten etwas anfangen.

Zitat:
Hervorragend geschilderte story!
Herzlichen Dank!

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.07.2013, 12:20   #6
Thing
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Beiträge: 34.998


Lieber Schmuddelkind,

ich bin erleichtert, daß Du mir meinen Kommentar samt "Belehrung" nicht übelgenommen hast.

Hintergrundwissen hab ich. Ich bin zwar nie ärztlich, aber operationshelferisch tätig gewesen.
Bei der Absaugmethode wird wirklich alles entfernt, denn kleinste Rückbleibsel können zur Sepsis führen.
(Deswegen werden auch Blutungen nicht sofort gestillt.)

Daß Deine Protagonistin für lange Zeit tief depressiv wurde, ist sehr gut nachzuvollziehen, denn sie steht wahrhaftig nicht allein.
Dabei spielen die Gründe für eine abruptio graviditatis überhaupt keine Rolle.

Nochmals:
Vortrefflicher Text!


LG
Thing
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Alt 25.07.2013, 12:27   #7
männlich Schmuddelkind
 
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Aber klar. Wenn ich selbst wenig Ahnung habe, lasse ich mich gerne "belehren".
Erst recht, wenn du im medizinischen Bereich tätig warst.

Zitat:
Dabei spielen die Gründe für eine abruptio graviditatis überhaupt keine Rolle.
Ja, für die seelische Befindlichkeit danach vermutlich nicht. Bei den Wenigsten wird so ein Ereignis wohl spurlos vorüber gehen.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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Stichworte
abtreibung, alptraum, schuldgefühl



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