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Alt 11.10.2006, 04:43   #1
Sajonara
 
Dabei seit: 09/2006
Beiträge: 38


Standard Die alte Frau mit den weißen Haaren

Die folgende Geschichte ist Teil eines meiner Romanmanuskripte (Arbeitstitel: Gustav, oder der Tod). Sie hat aus diesem Grund - sie stellt ein einzelnes Kapitel dar - einen kleinen Vorlauf. Prinzipiell kann jedoch jedes der Kapitel des Manuskriptes als eigene Geschichte gelesen werden, weshalb ich mir gerne eure Kommentare zu dieser hier aufs Auge drücken lassen möchte. Vielen Dank vorab. Etwaige fehlende Zeilenumbrüche sind zu entschuldigen, wenn man um diese Uhrzeit aus Word heraus kopiert.

Die alte Frau mit den weißen Haaren

Manchmal ist er überall und nirgends zugleich, unser Protagonist. Er mag dabei genauso unnahbar wirken wie jene Rauschebartfigur mit dem Schlitten und seinen Rentieren, doch er ist vielen von uns in ebenso vielen Augenblicken erschreckend nah. Er gehört nicht in die Schublade der Mythen und Mären, er ist unwirtliche Realität. So sehr wir uns wenden und drehen. Hat seine Hand einmal nach uns gegriffen, können wir ihm kaum entkommen. Die wenigen, denen es gelungen ist – sie genießen eine trügerische Freude, weil ihr Triumph nur von endlicher Dauer ist. So wirklich allerdings, wie seine flüchtige Erscheinung sein kann, so merkwürdig sind die vielen Momente, in denen sein Wirken zutage tritt. So auch in diesem Fall, vor gar nicht allzu langer Zeit: Frau Müller bückte sich nach ihren Einkäufen, mit der einen Hand auf den Stock gestützt. Ihr fliederfarbenes Kleid, das mit Blümchenmuster überzogen war, hatte sich irgendwo am Rücken mit der Kleidung verhakt, die darunter lag. Als sie sich nun nach ihren Einkäufen bückte und so den Rücken krümte, schob sich der Saum ihres Kleides ein wenig in die Höhe, von Frau Müller unbemerkt. In den Tagen, da man Lieschen, wie Frau Müller mit Kosenamen von allen Nachbarn im Haus genannt wurde, zur Welt gebracht hatte, hätte derartige Beinfreiheit schon Frivolsein bedeutet. Heutzutage lockte man damit niemand mehr hinter dem Ofen hervor, noch dazu, weil es lediglich die blassen, krampfadernen Waden einer sechsundachtzigjährigen Witwe zu erheischen gab. Ihren Mann, Theobald, hatte Lieschen locker überlebt. Sie hatten jung geheiratet und trotzdem keine eigenen Kinder in die Welt gesetzt. Erst wollte sie nicht, und später konnte er nicht mehr. Sieben Jahre trennten die beiden voneinander. Er war der Jüngere. Nie hatte er die Hosen angehabt. Lieschen wusste sich immer zu helfen und war nicht wehleidig. Es zwickte und zwackte schon manchmal, doch es gab Schlimmeres. Ihre Sehkraft war noch erstaunlich gut für eine Sechsundachtzigjährige. Eine Brille benötigte sie nur beim Lesen. Aber Lieschen las nicht viel. Sie lebte in ihrer eigenen kleinen Welt, solange es ihr beschieden war. Sie wirkte bisweilen störrisch und zäh, ließ sie sich doch von niemandem helfen. Nur zu Kindern, da war Lieschen immer fromm wie ein Lamm und legte eine für sie sonst untypische Engelsgeduld an den Tag. Eine Ambivalenz, die wahrscheinlich in jedem Menschen steckt. Theobald war gestorben, da war Lieschen Müller noch Neunundsiebzig gewesen. Bald würde der Tod ihres Mannes sich erneut jähren. Kein handelsübliches Jubiläum, sicher nicht. Ein Tag jedoch, an dem Lieschen noch immer den Weg zum Friedhof gemacht hatte, um vor dem Grabstein ihres verstorbenen Gatten nach dem Rechten zu sehen. In etwas mehr als einer Woche würde es wieder so weit sein. Es war Freitag, und am übernächsten Sonntag wollte Frau Müller dann vor dem Granitsockel stehen und auf den eingemeißelten Namen ihres Theobalds gucken. Sie stand immer eine Weile andächtig vor dem dunklen Stein herum und sprach kein Wort. Wohl aber dachte sie eine Unmenge.
Es sollte anders kommen: Denn während Lieschen zuerst nichts von den entblößten Waden merkte, erging es dem Hund von Herrn und Frau Gauweiler in einem plötzlichen Irrsinn ganz anders. Er zerrte ungestüm an der Leine seines Herrchens, der damit offenkundig überfordert schien. Quinte riss sich los und wetzte über die Straße und den Zebrastreifen, die Lederleine zog er auf dem Asphalt hinter sich her. Man sah kein Glänzen auf seinem Fell. Als Beobachter an jenem Tag musste es einen verwundern, stand die Sonne doch am höchsten Punkt und schien selbst auf das lichtgraue Haar von Lieschen herab. Es ging nun alles ganz schnell, viel zu schnell für ein Tier wie Quinte, der einer Rasse abstammt, der man gemeinhin Behäbigkeit nachsagt. Die vier Pfoten waren just auf dem Gehsteig gelandet, als der Rüde sich kraftvoll in Lieschens Wade biss. Die fuhr aufgeschreckt herum, erblickte den Hund der Gauweilers und schlug sofort mit dem Stock nach ihm. Keine zwei Schläge später standen die Besitzer bereits vor Lieschen und Quinte, und während Frau Gauweiler dem Lieschen nach dem Stock griff, machte sich Herr Gauweiler an Quinte zu schaffen. Noch nie hatte das Herrchen sein Ein und Alles derart außer sich gesehen. Eine schmutzige, weil blutige Angelegenheit. Das Ehepaar Gauweiler schaffte es schließlich beide Parteien auseinander zu bringen. Egon Gauweiler band den langsam zur Ruhe kommenden Hund am nächstgelegenen Laternenpfahl fest und griff sodann in seine Jackentasche, zückte ein Mobiltelefon, klappte es auf, und wollte den Notruf wählen.
Lieschen Müller, die sich unwirsch auf Egons Gattin stützen musste, herrschte ihn an: „He! Sie! Was machen Sie da?“
„Ich rufe Ihnen einen Notarzt“, wollte Egon sich erklären.
„Das lassen Sie mal schön bleiben“, keifte es aus Lieschens Mund Herrn Gauweiler entgegen. Die rüstige alte Dame wehrte sich gegen die Stütze von Ina, Egons Frau. „Lassen Sie mich los“, zischte Lieschen Ina Gauweiler an.
Verdutzt blickten beide Gauweilers sich an und dann wieder mit besorgten Blicken auf Frau Müller herab. Egon und Ina waren beide knapp zwanzig Zentimeter größer als Lieschen Müller. Sie waren überrascht von so viel unwirscher Energie, die in dieser Frau mit dem silber-weißen Haar steckte.
„Aber gute Frau“, wollte Ina Lieschen beschwichtigen. „Das geht doch nicht.“
„Was geht nicht? – Dass Ihr Hund mich gebissen hat? Ja, das ist eine Unverschämtheit. Allerdings bin ich nicht aus Zucker. Es wird schon gehen. Sie müssen mir also keinen Arzt bestellen.“
„Das geht nun wirklich nicht“, insistierte Egon.
„Und wie das geht!“, kam Lieschen nicht zur Ruhe.
„So beruhigen Sie sich doch“, versuchte Ina zu beschwichtigen.
„Ich bin ruhig!“, quäkte Frau Müller jetzt. „Was ist denn in ihren Hund gefahren?“, wollte sie von Gauweilers wissen. „Und vor allem, warum passen Sie nicht besser auf einen so bissigen Vertreter seiner Rasse auf?“
Wieder blickten die Gauweilers sich an. Sie zögerten eine Weile, ehe Egon begann: „Entschuldigen Sie, aber so etwas hat er vorher noch nie getan. Wir haben ihn jetzt schon sieben Jahre, und nie ist etwas Derartiges vorgefallen.“
„Was Sie nicht sagen!“, erntete Egons Erklärungsversuch die Häme von Lieschen Müller.
„Nun hören Sie, gute Frau…“, wollte Ina ergänzend erklären, wurde jedoch von Lieschen unterbrochen.
„Ich bin nicht Ihre gute Frau!“, stellte sie fest.
„Aber Sie bluten doch, Frau…“, kam es wieder von Egon.
„Frau Müller. Lisa Müller. Ich wohne dort drüben, in dem großen grauen Haus.“ Lieschen rang mit sich, weil Sie ungern die Hilfe anderer in Anspruch nahm. Sie kam sehr gut allein zu Recht. „Hören Sie, es reicht vollkommen, wenn Sie mir mit meinen Einkäufen über die Straße helfen und – so sieht es leider aus – mir auch bis in meine Wohnung den Pröttel hinauf bringen. Das ist Alles, was ich von Ihnen möchte.“
„Gute Frau“, wollte Ina einwenden, fühlte aber den bösen Blick von Lieschen, den sie für diese Bezeichnung von der Witwe erntete. „Liebe Frau Müller“, korrigierte sie sich dann, „das geht beim besten Willen nicht.“
„Und warum geht das nicht?“, stellte Lieschen herausfordernd die Frage in Inas Richtung.
„Nun, Sie sind verletzt“, ergänzte Egon. „Wir können Sie nicht einfach so gehen lassen. Am Ende verbluten Sie noch.“
„Papperlapapp. So ein Unfug!“, lies Frau Müller nicht mit sich reden. „Ich war zweiundvierzig Jahre lang Krankenschwester“, erklärte Lieschen. „Ich werde von dem Biss dieses Wauwaus da nicht verbluten.“
Nun sprach Ina zu Egon: „Aber Schatz, das geht beim besten Willen nicht. Wir können…“, wollte Ina ihrem Mann ihren Gewissenkonflikt vor Augen führen, ehe Lieschen ihr bockig ins Wort fiel:
„Was Sie können, das habe ich Ihnen beiden bereits gesagt, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich jetzt endlich zu mir nach Hause auf die andere Straßenseite bringen.“ Nach einer kleinen Pause fügte Frau Müller hinzu: „Ich werde die Wunde reinigen und mich selbst verbinden, so wie ich es mit Hunderten Leuten vorher getan habe.“
„Egon!“ – Ina wollte ihren Mann auffordern, dem Drängen von Frau Müller nicht einfach so nachzugeben. Der allerdings ergab sich dem Schicksal, und wollte nicht länger mit einer alten Frau mit schneeweißen Haaren auf offener Straße streiten. Es hatten sich schon einige Leute nach ihnen umgedreht.
„Gut, Frau Müller“, gab er zu verstehen. „Wie Sie wollen. Ich bringe Sie dann herüber in Ihre Wohnung.“
Gesagt, getan: Egon nahm die Einkaufstüte von Frau Müller und ließ sie sich bei ihm einhaken. Seiner Frau bedeutete Herr Gauweiler, sie möge bei Quinte bleiben und warten, bis er wieder da sei.
Gemeinsam ging es mehr schlecht als Recht über den Zebrastreifen. Auf der anderen Seite wurde kurz Halt gemacht. Egon versicherte sich, dass alles in Ordnung sei mit Frau Müller, dann blickte er kurz zu seiner Frau auf die andere Straßenseite hinüber. Noch ehe ihre Blicke sich kreuzten wurde Egons Blickfeld bereits von einem vorbeifahrenden Lastwagen in Beschlag genommen. Viel zu schnell, fand Egon, war dieser Siebeneinhalb-Tonner vorüber gefahren. Egon spürte einen kräftigen Windzug; der LKW wirbelte den Staub hinter sich her, und fuhr in einer Sekunde, wie es der Zufall so wollte über einen von Lieschens Tropfen Blut. Ein bisschen von ihrem Lebenssaft heftete sich an das schwarze Gummi des leeren Getränkelasters, der so in Eile schien.
Frau Müller wohnte in einem Zwölf-Parteien Haus. Auf jeder Etage drei Mieter. Egon hätte gedacht, dass er bereits im Parterre, spätestens aber in der ersten Etage, Frau Müller in ihre Wohnung hätte begleiten können. Er staunte nicht schlecht, als er mit Lieschen am Arm, und den Einkäufen in der Hand des anderen, bis in die oberste Etage musste. – „Warum eine alte Frau bloß so weit oben wohnt“, dachte er bei sich. Schließlich wurde er vor der Wohnungstür abgewimmelt. Ob er noch mit hereinkommen solle, wollte er wissen, doch Lieschen stellte erst ihre Einkäufe in den Wohnungsflur und schlug Egon dann beinahe die Tür hinter sich ins Gesicht. Sie hatte kein Wort mehr gesagt. Kein Dankeschön. Das erwartete niemand, denn immerhin hatte Egons Hund sie ja gebissen. Egon und Ina hatten einen denkwürdigen Nachmittag erlebt. Sie spazierten mit ihrem Hund noch nach Hause, und konnten sich nicht erklären, wieso Quinte sich urplötzlich wie vom Teufel besessen losgerissen hatte, um dann diese alte Dame anzufallen. Das Ehepaar Gauweiler wusste allerdings nicht, dass dies nur den Anfang von einem Ende bedeuten sollte.
Lieschen wusch sich ihre rechte Wade. Sie desinfizierte sie mit Jod, und rieb Wundsalbe auf die Bissstellen Quintes ehe sie einen Verband darum wickelte. „Der Hund“, murmelte sie, den Mull um ihr Bein wickelnd, „hat bestimmt einen Schock fürs Leben. Immerhin hab ich ihm kräftig eins übergegeben. Wenn der Mal keine Gehirnerschütterung hat“, geriet Lieschen sogar ein wenig in Sorge um den Vierbeiner von Gauweilers. „Aber was musste er mich auch beißen. Das hat er nun davon.“ Nach dem Verbinden ging Lieschen daran, ihre Einkäufe auszupacken. Sorgfältig verteilte sie die Dinge abwechselnd auf die Hängeschränke und in den Kühlschrank. Nur ungern kaufte Lieschen Konserven, lieber mochte sie es frisch. Doch die Natur spielte ihr zusehends Streiche und man konnte eben nicht mehr so gut wie noch in jungen Jahren. Sie spürte ihr Alter, und doch wollte sie nicht einfach klein beigeben. Sie ging, so oft es möglich war und so oft es ihr nötig erschien, einkaufen. Ihren Haushalt führte sie allein. Lieschen war noch ganz klar im Kopf. Ihr konnte keiner etwas vormachen.
Nachdem sie die Einkäufe verstaut hatte, schickte sie sich an, das Treppenhaus zu putzen. Sie füllte den Eimer mit Lauge und holte den Mopp aus der Rumpelkammer. Selbst hatte sie den Hausflur schon lange nicht mehr gewischt. Für gewöhnlich tat das die Putzfrau. Das Haus war voller junger Mieter, und alle hatten so viel zu tun, dass für die Pflege des Flurs keine Zeit mehr blieb. Früher hatten alle noch selbst gewischt, aber nach und nach zogen neue Mieter ein und starben alte weg oder wurden von ihren Lieben ins Altenheim gesteckt. So kam es dann, dass der Hausbesitzer, ein Herr Pütz, ihr eines Tages erklärte, wie es sich in Zukunft mit der Reinigung des Hausflures verhielte. Das war vor zwei Jahren, als sie diesem Herrn mittleren Alters auf der Treppe begegnet war, und er sie davon unterrichtet hatte. Der Herr Pütz war ein herzensguter Mensch, Immobilienmakler. Als dieser das Haus vom Vorbesitzer übernommen hatte, kam er einst und stellte sich jedem Mieter vor; Theobald hatte ihn nicht mehr gekannt. Lieschen, die sonst eher ungehalten gegenüber unangekündigten Neuerungen war, konnte dem Charme dieses Lebemannes nichts entgegensetzen. Er wusste außerdem zu überzeugen. Blumen mochte Lieschen, und dieser Herr Pütz mochte sie ebenso. Seit er sich dem Haus angenommen hatte, wurde der Alltag darin ein bisschen bunter, ein Stück grüner und lebhafter. Dieser Mann hatte buchstäblich so etwas wie einen grünen Daumen. Er hatte ein Auge für die Flora und machte aus dem Vorgarten und den Gärten hinter dem Haus eine Zierde.
Als Lieschen mit dem Wischen fertig war, merkte sie die Anstrengung deutlich. Den Rest des Tages musste sie ruhen. Am darauf folgenden Tag ging es zum Frisör. Frau Müller verspätete sich etwas, weil sie zwar rechtzeitig losgegangen war, aber den Verband an der Wade unterschätzt hatte. Er behinderte sie doch ein wenig, und es schmerzte, wenn sie sich auch noch so sehr dagegen sträubte. Sie entschuldigte sich für ihr Zu-spät-Kommen und lies sodann die übliche Prozedur über sich ergehen. Anders als viele Frauen ihres Alters ließ Frau Müller sich die Haare bloß schneiden, meistens sogar nur die Spitzen. Sie trug ihr weiß-graues Haar lang, nach hinten zusammengebunden, und ihr wäre es im Traum nicht eingefallen, es kürzer schneiden und toupieren zu lassen, geschweige denn hätte sie sich eine Dauerwelle drehen lassen.
Der nächste Sonntag kam, den Frau Müller daheim verbrachte, und eine weitere Woche verging, ehe der Todestag ihres Theobalds sich erneut jährte. In dieser Zeit kämpfte Lieschen mit den Schmerzen in ihrer Wade. Sie hätte nicht gedacht, dass ein Biss eines Vierbeiners noch so lange nachwirken würde. Eigentlich hätte der störende Verband schon wieder gewaschen in dem Badezimmerunterschrank liegen sollen, doch es kam anders. Während sie sich in der Woche nur noch ein Mal zum Einkaufen quälte, hatte sich die Bisswunde entzündet. Sie ging anderntags nach dem Einkaufen in die Apotheke und besorgte sich Abszesssalbe, um der Eiterung entgegenzuwirken. Lieschen war hart im Nehmen. Am darauf folgenden Sonntag schließlich packte sie ein Grablicht in ihre beige Handtasche, zog einen matten Mantel über ein rosa Kleid und nahm noch einen Hut als Utensil zu dem Stock dabei, auf den sie schon seit einigen Jahren nicht mehr verzichten konnte. Was wohl in diesen Hund gefahren war, ging es ihr an diesem Tag wieder durch den Kopf. Tollwütig war er vielleicht gewesen. Sie konnte es nicht wissen. Schweren Herzens würde sie am nächsten Tag, wenn die Wunde nicht besser werden würde, zum Arzt gehen, ihn danach schauen lassen. Heute aber wollte sie zum Grab. Sie ging eine Weile, bis sie an eine große Hauptstraße kam. In der Mitte des vierspurigen Asphaltweges fand sich eine Fußgängerinsel. Als junger Mensch hätte Lieschen ihre Beine in die Hand genommen und wäre bei Grün losgerannt, über beide Teile des Ampelübergangs, ohne mit der Wimper zu zucken. Heute war sie froh, noch dazu mit der eiternden Verletzung unter dem Mull, eine Hälfte nach der anderen hinter sich zu bringen. Sie humpelte leicht, und schaffte es gerade so, als die Autos schon wieder Grün bekamen, auf der Insel in der Mitte zu stehen zu kommen. Nie zuvor war ihr das derart beschwerlich vorgekommen.
Auf der anderen Hälfte warteten auf jeder Spur Autos. In der ersten Reihe standen, nacheinander, ein dunkles Münchner Fabrikat mit zwei Insassen gefolgt von einem roten Wolfsburger Mittelklassewagen. Aus dem ersten Auto drang laute Musik unüberhörbar an die Umwelt. Im zweiten Wagen war der Fahrer in die Blicke der Beifahrerin seines Straßennachbarn vertieft. Man flirtete miteinander. Die Brünette schien es dem Mittzwanziger angetan zu haben. Sie schien, trotz Schminke im Gesicht, ein wenig jünger. Er achtete nur mit halbem Auge, hin und wieder, auf die Ampel links von sich. Das Gros seiner Aufmerksamkeit galt den Kuhaugen zu seiner Linken. Diese strahlten ihn herzlich an, ehe sie sich im nächsten Augenblick zu einer grotesken Geste verzerrten. Der Golffahrer erschrak. Er verstand nicht. Plötzlich hörte er einen dumpfen Schlag, ein Knall auf seiner Motorhaube, und auf seiner Windschutzscheibe wurde es dunkel. Als er den Nachbarn mit der Brünetten losfahren sah, setzte er selbst seinen Wagen in Bewegung, ohne jedoch darauf zu achten, dass Lieschen noch nicht auf der anderen Straßenseite angelangt war. Als einige Minuten später die Rettungssanitäter eintrafen konnten sie nur noch Lieschens Tod feststellen.
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