Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 25.07.2009, 14:19   #1
weiblich Seijaku
 
Benutzerbild von Seijaku
 
Dabei seit: 07/2009
Alter: 30
Beiträge: 7


Standard Die Stille

Die Stille


Eine einsame weiße Taube fliegt im Mondlicht. Der Wind streicht durch das Gefieder und streichelt sie in ihrem Flug. Die Stadt liegt in tiefer Stille unter dem Vogel. Einige Lichter brennen, vereinzelte Autos rauschen durch die Straßen, die sich wie schmale Schlangen durch die Häusermassen schlängeln, ein paar Menschen sind unterwegs. Hasten mit großen Schritten und in ihre Mäntel gehüllt, ihr Ziel ist ihr Heim. Aber die Taube ist aufmerksam, sie sucht...und findet sie.

Yumé wandelt durch die vereinsamten Straßen. Ab und zu hört sie in der Ferne das Rauschen der wenigen Autos. Das Mondlicht spiegelt sich in den Pfützen und verleiht der Nacht etwas Unwirkliches. Die junge Frau fühlt sich wie im Traum. Aber sie weiß, dass sie auf der Straße ist, riecht den metallischen Geruch, der vom nahe gelegenen Schrottplatz in ihre Nase steigt, und den frischen Geruch von kürzlich gefallenem Regen. Yumé hat keine Hast. Ein einzelner Mann, tief in seinen Mantel gehüllt, eilt an ihr vorbei. Sie geht um die Ecke, kommt in das Industriegebiet. Irrt durch den Urwald aus Schloten und Lagerhallen. Keiner hindert sie, hält sie auf. Yumé weiß, dass sie nach Hause gehen sollte, dass sie am nächsten Morgen nicht müde sein darf, dass sie pünktlich zur Arbeit erscheinen muss. Aber etwas hat ihr Herz berührt und leitet sie.
Plötzlich weiß sie, dass er da ist. Sie spürt seine Anwesenheit, die sich alleine durch seine Stille speist. Diese Stille ist lauter als das Geräusch ihres Atems, das Tropfen des Wassers, das von den nassen Rohren auf den ölverschmierten Asphalt prallt, lauter auch als das Säuseln des Windes, der über die Bauten streicht und Yumès Haar zerzaust. Sie weiß, wer es ist. Seijáku. Stille.
Er steht da, reglos im erhellenden Licht der Straßenlaternen. Ein Mantel umhüllt ihn, schützt ihn vor der empfindlichen Kälte, die Yumé zum Zittern bringt. Sie sieht das dunkle Gesicht mit den verträumten, geistesabwesenden Zügen, mit den grünen Augen, die zu hell für das Gesicht sind. Sie hat das Gefühl, dass sie ihn schon einmal gesehen hat. Dass er ihr vertraut ist. Er hebt die Hand und öffnet sie. Auf seiner bloßen Handfläche liegt eine weiße Feder, sie ist klein und schneeweiß. Sie scheint das Mondlicht zu reflektieren wie ein Spiegel.
Yumé atmet tief ein, Seijákus Blick, der noch eben in der Ferne und der Leere geschweift hat, ist jetzt auf sie gerichtet. Yumé weiß nicht, was sie sagen soll. Sie weiß, dass er ein Mensch ohne Eile ist, wie sie, und ein Mensch mit der Kraft, etwas zu verändern.
Ihre klammen Finger greifen langsam nach der Feder und berühren die Haut. Sie spürt die Kraft und Weisheit. Yumé ballt die Faust, die Feder ist geschützt, in einer Höhle aus starken Fingern. Fingern, die wissen, dass sie diese Feder nicht verlieren dürfen.
Sie folgt ihm. Seine Anwesenheit ist beruhigend. Sie überqueren den Lagerplatz, ihre Schritte sind ungeschickt und passen sich nicht seinem Rhythmus an. Sie gehen schweigend über eine Wiese, folgen einem ausgetretenen Pfad, Schlamm klebt an ihren Schuhen. Unter einem Baum bleibt er stehen und setzt sich. Die Bank ist feucht und riecht modrig, als Yumé sich ebenfalls niederlässt. Eine Windböe entreißt ihrem Haargummi einige Haarsträhnen. Sie friert.

Die Taube steigt kreisend in die Höhe und überblickt die Stadt. Der Wind ist heftiger geworden und schubst den Vogel sanft, aber bestimmt zur Seite. Die Taube horcht und sucht nach dem Ort, über den die Stille gekommen ist. Sie sieht den Baum und die junge Frau, er sitzt neben ihr. Die Taube will ihr helfen, sieht den unterdrückten Wunsch in ihrem Herzen. Er ist jetzt da. Sie hat ihn gesandt. Mit einer Botschaft von ihr. Die junge Frau hält sie fest umklammert. Der Vogel flüstert die Worte, der Wind trägt sie in das Ohr.

Yumé fühlt sich wach. Der fehlende Schlaf zehrt nicht an ihr. Seine Augen glitzern im Mondlicht. „Ich kenne dich“, sagt sie endlich. „Ich habe dich schon einmal...erlebt.“
„Ich bewache dich.“ Seine Stimme ist alt, sie klingt älter und voller als die Welt. „Heute bin ich hier, um dir zu helfen. Du sollst etwas erfahren. Ich werde dir etwas geben und du wirst es hüten, bis es dich nicht mehr braucht. Du sollst aus deinem Leben ausbrechen, die alten Bahnen aufgeben und einen neuen Weg finden, für dich und mein Geschenk.“
Er dreht den Kopf und Yumé sieht die scharfen Konturen seines Gesichts.
Sie weiß, was er meint.
Sie ist ausgelaugt. Das tägliche, gleiche, monotone Arbeiten in der Fabrik zerstört sie. Ihr Geist vereinsamt und verkümmert. Sie ist nur noch ein austauschbares Teil im Gefüge der Fabrik. Eine Maschine, die zufällig einen menschlichen Körper hat.
Er nimmt sie in den Arm und gibt ihr von seiner Kraft, die so alt wie die Welt zu sein scheint.
Yumé presst ihr Gesicht an seine Schulter und die Tränen laufen ihm unter den Mantel, über seine Brust. Sie schämt sich nicht, er ist für sie da.
Er löst sich von ihr und zieht den Mantel aus, legt ihn über sie. Er trägt ein offenes schwarzes Hemd. Yumé schmiegt sich an ihn und schließt die Augen.
„Ich kann den Schmerz sehen, er fließt aus deinen Augen, aus jeder Pore deines Körpers“, flüstert er. „Du bist verletzt in deiner Seele. Ich bin hier, um dich zu heilen. Gib mir deinen ganzen Schmerz, lass mich ihn erfahren und dich mit neuer Kraft füllen.“ Er lächelt sie an.
Yumé hebt den Kopf. An dieser Situation ist nichts seltsam, es ist das Natürlichste, das ihr je zugestoßen ist.
Sie schaut in seine Augen. „Werde ich dir nicht wehtun? Mein Schmerz ist zu viel für die ganze Nacht, Seijáku. Du wirst daran zugrunde gehen. Er wird dich von innen zerfressen.“
Er lächelt sanft und beschwichtigend. Um seine Augen bilden sich viele feine Fältchen. „Dafür bin ich da. Ich wurde dafür geschaffen. Ich kann alles ertragen, nur wenn ich einem Menschen nicht helfen kann, ist es für mich unerträglich.“
Und so gibt Yumé ihm ihren Schmerz.
Er umklammert sie und sein Blick hält den ihren fest. Yumé atmet ruhig und langsam. Er verkrampft sich, sein Körper zittert, und es liegt nicht daran, dass er nur ein Hemd und eine Hose trägt. In seinen Augen scheint etwas zu brechen. Der Ausdruck wird schwerer und qualvoll. Wie ein Tunnel öffnet sich sein Blick und saugt an ihrem Schmerz.
Yumé spürt seine Muskeln, die sich anspannen, seine Umklammerung wird stärker. Jetzt ist sie es, die ihn festhält, und er es, der sich an ihr festhält. Sie wischt mit ihrem Ärmel den Schweiß von seiner heißen Stirn. Es kommen ihr wie Stunden vor. Weinend und beinahe schützend hält sie ihn und kann es nicht ertragen, wie er leidet. Aber sie kann auch nicht aufhören. Sie spürt mit jedem Atemzug, wie es ihr besser geht, und sie will nicht, dass es aufhört.
Irgendwann ist es vorbei. Er ist bewusstlos und liegt schwer in ihren Armen. Sie windet sich aus der Umarmung und legt ihn sanft auf die Bank.
Yumé breitet den Mantel auf dem nassen Gras aus. Sie rüttelt ihn. Seine Augenlider flackern, sein Blick ist leer. Seine Würde und Kraft scheint verschwunden zu sein. Mühsam legt sie ihn auf die Decke, er versucht zu helfen, aber er ist zu schwach.
Sie legt sich neben ihn. Beide zittern vor Kälte und Anstrengung.
Yumé betrachtet ihn. Seine geschlossenen Augen und das schwarze Haar, das auf dem Mantel liegt. Sie taucht ihre Hand in das schwarze Haar und spielt damit. Es ist dick und fest, gleichzeitig seidig wie Stoff. Er ist schön.
Er öffnet die Augen und einige Momente lang betrachten sie sich. Sein Blick ist anders, nicht mehr derselbe wie der, als sie ihn auf dem Ladeplatz gefunden hat, auch nicht der, als er noch auf der Bank gelegen hatte. Das Leben und die Kraft scheinen in ihn zurückzukehren und endlich erkennt sie einen Ausdruck in dem Grasgrün. Es ist ein Lachen. Etwas Besänftigendes und gleichzeitig Forderndes.
Seine Hand streicht über ihren Arm, wie der Wind. Er berührt sie im Gesicht, streicht mit den Fingern über ihre Lippen, ihre Nase, ihre Wangenknochen. Er löst das Haargummi und verteilt ihr Haar kreisförmig und gleichmäßig um ihren Kopf. Es liegt auf dem Mantel, genau wie seines. Sie lächelt und seine Finger befühlen die Lachfalten. Er wispert, dass sie schön sind.
Yumé ist fasziniert. Sie kennt keine Männer wie ihn. Sie hat ein anderes Bild von ihnen bekommen, hart, eindringlich, fordernd, gar brutal...aber nicht so. Sanft, aber bestimmt. Sie hat keine Angst und sie spürt dasselbe, was sie in seinem Blick gesehen hat.
Sie frieren nicht, die Kälte macht einen Bogen um sie, stattdessen baut sie ein Zelt aus Wärme, wenn nicht sogar Hitze, über die beiden. Yumé verlässt sich auf die Instinkte ihres Körpers.
Ihre Hand erwidert seine Berührungen. Sie fühlt den Schweiß und die harten Muskeln unter der glatten Haut.
Als sie sich ausziehen, verschwindet der Mond hinter eine Wolke.
Der Wind treibt die weiße Feder in die Lüfte.

Die Taube ist älter geworden und ihre Augen schlechter, aber trotzdem braucht sie nicht lange zu suchen. Sie findet die Frau. Sie spürt die Aura der Stille, die noch immer in ihr ist. Zu ihrer Überraschung muss die Taube feststellen, dass die Frau nicht allein ist, sie hat ein kleines Wesen in einem Tragetuch. Es hat grüne Augen. Ein kehliges Gurren kommt aus ihrem Schnabel und es klingt wie ein Lachen. Die Taube trennt die Verbindung zu der Frau, die ihr Leben nun endlich gemeistert hat, und fliegt fort in die ewigen Weiten des Himmels, das Weiß ihres Gefieders verschmilzt mit den Wolken. Eine einzelne Feder trudelt auf die Erde. Die junge Frau hebt sie auf und steckt sie ihrem Baby an die Mütze.
Seijaku ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Die Stille

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Stille Silent Winter Lebensalltag, Natur und Universum 4 27.12.2011 08:44
Die Stille tribesant Lebensalltag, Natur und Universum 0 07.02.2007 10:37


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.