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Alt 02.10.2013, 12:45   #1
männlich Jeronimo
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Beiträge: 4.237


Standard Zwei Seiten in mir

Flachsfelder blühen in meinem Kopf und fordern schweren Rotwein zur Ernte. Ich ignoriere das und tröste mich mit Fleischbrühe aus frisch gekochten Rinderknochen.
Das Ergebnis ist verbüffelnd. Statt einer Ode an meine Unzulänglichkeit sprudeln fettarme Kalauer aus den Hirnrinden, beträufeln mich mit Agonie und zwingen mich zu Plattheiten. Ich wehre mich mit gepflückten Johannisbeeren und neugeborenen Strauchtomaten und erlebe eine Neuinstallation der Geschmacksnerven.
Auf der Bank unter der schwedischen Mehlbeere will ich mich sammeln mit würzigem Tabak. Ausflugsdampfer trompeten lärmende Touristen herbei, deren Blicke an der mannshohen Heckenwache scheitern.

Die Ruhe suspendiert mein Denken, aber Gedankenfragmente kommunizieren miteinander, schläfern meinen Willen ein, und ganz sacht schleicht über die ausgestreckten Beine eine Müdigkeit den Körper empor.
So wohlig warm und entspannt bin ich hilflos den tanzenden Fantasien ausgeliefert, Musik aus Erinnerungsbeständen untermalt ein heilloses Durcheinander diffuser Einfälle, die zu ungebeteten Wortmeldungen werden:

Auf dem Wochenmarkt bietet man freilaufende Eier an, Kartoffeln aus Bodenhaltung und Bananen für Linkshänder.
Eine Zitrone ist sauer auf einen Apfel, der nicht Mus, sondern eine Muse will. Die aber will nicht länger für jeden der Pampel sein. Eine Apfelsine errötet zur Orange, Möhren sind mit Karotten verwurzelt, eine Birne träumt von ihrer politischen Vergangenheit, und eine Mandarine möchte lieber ein Musikinstrument sein.
Und Bauer Harms weist daraufhin, dass seine eigenen Eier aus der Hodenhaltung stammen.

Meine Waschmaschine ernährt sich heimlich von meinen Socken. Sie flirtet mit dem Wäschetrockner und macht sich gerade auf dem Weg ..
Die Kaffeemaschine zweigt Kaffee für ihren eigenen Bedarf ab, der Toaster glaubt, er kann auch flambieren, und das Faxgerät lehnt jede Eingabe als Spam ab. Der Tiefkühler meint, er sei eine Telefonzelle und öffnet nur in Notfällen, der Staubsauger schlaucht mich, und der Fernseher entscheidet selbstständig, was Favoriten sind.

Meinem Anzug sind seine Klamotten Jacke wie Hose, Sockenwaisen sehnen sich nach ihrem Zwilling, die Gürtel sind immer in der falschen Hose, Schlipse möchten endlich mal ungebunden sein, und der Pyjama träumt von Japan.

Schlagunartig erwache ich, die Sonne schweigt mir ins Gesicht, die Pfeife noch warm in der Hand.
Vielleicht nur ein Vitaminschock, denke ich oder Selbstheilung eines Verlassenen.
Proletenunsinn von einem, der sich nach jedem Wort bücken muss, plötzlicher Stimmungswechsel eines Entliebten, wie durch ein Sieb fallen Wortspielereien aus dem Hirn und gerinnen zu Tränen.

Ein kokettierendes Lachen entfernt sich, so wie sich plötzlich alles entfernt: die schreienden Möwen, das Grün der Blätter, das Rauschen der Wellen, die künstliche Heiterkeit, du..

Unglaublich, wie schnell sich Clowns entkleiden können und wie Gedanken mit Metaphern spielen, wie festgebrannte Erinnerungen strafend sich auf jeden Ansatz von Wohligkeit legen und unentwegt nur mahnen.
Die Hände starrköpfig in den Taschen stelle ich mich der anbrechenden Nacht.
Und das Frieren beginnt wieder..

Jeronimo
Jeronimo ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.10.2013, 13:48   #2
weiblich BABSvomKUTSCHI
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Beiträge: 3.095


Chapeau, Toll, Klasse. Aber wer Bogart kann, kann auch damit zwei Saiten in mir zum Klingen bringen.
Babsi ( von der Suppenküche )
BABSvomKUTSCHI ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.10.2013, 22:26   #3
männlich Jeronimo
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Dabei seit: 10/2011
Alter: 70
Beiträge: 4.237


Hallo Babs,

dein Lob freut mich ganz besonders, wenn du als sprudelnde Wortakrobatin Gefallen daran findest.
Und was den Schreiber von Bogart angeht: ich wollte einfach neu beginnen, nicht so, wie jemand, der vom Zigarettenholen nach zwei Jahren wiederkommt und fragt: "War was?"

Und es ist doch interessant, wie sich die Schreiber wiederfinden nur durch ihre Schreibe, ihre Vorlieben, ihre Frechheit, ihre Kommentare.

Lieben Dank an Dich!

Jeronimo
Jeronimo ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.10.2013, 00:49   #4
männlich Max K.
 
Benutzerbild von Max K.
 
Dabei seit: 08/2012
Ort: Meine eigene, kleine Welt
Alter: 25
Beiträge: 98


Sehr geehrter Jeronimo,
Ich kann mich nicht erninnern, eine Kurzgeschichte so genossen zu haben. Wenn man sich in diese Geschichte einfuehlt, erfuellt sie einen mit schierer Euphorie. Sie haben eine Gabe, Dinge in ihren Geschichten unheimlich detailliert und schmackhaft zu beschreiben und jede ihrer Erzaehlungen kann man genauso geniessen wie man jene Fruechte, welche Sie meisterhaft dargestellt haben, geniessen kann
Sie haben Talent, hoeren Sie ja nicht auf zu schreiben!
Hochachtungsvoll und hin und weg,
Max K.
Max K. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.10.2013, 13:14   #5
männlich Jeronimo
gesperrt
 
Dabei seit: 10/2011
Alter: 70
Beiträge: 4.237


Hallo Max K.,

Ich bin kein Sehr geehrter,
nicht mal ein Unversehrter,
und ich verrate dir:
Ich sage "du" zu mir.


Wir duzen uns hier alle, da gibt es keine Altersunterschiede, lieber Max.
Aber ich danke dir aufrichtig für deinen Respekt!
Wenn wir uns also zukünfig über den Weg schreiben, dann sind wir nur Jeronimo und Max (K.)

Ich bin ein wenig verblüfft, dass ein junger Mensch den Text richtig einzuordnen weiß und nicht nur oberflächlich als eine Abfolge von Kalauern sieht.
Er beschreibt nämlich eine Situation des Zerrissenseins, zum einen die Erleichterung, einfach mal abzuschalten und Blödsinn zu formulieren, und zum anderen die Gegenwart, die einem die Traurigkeit zurück bringt.

Ich danke dir sehr für deine lobenden Worte. Es ist schön, wenn man einen jungen Menschen noch begeistern kann.

Jeronimo
Jeronimo ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.10.2013, 13:20   #6
männlich Max K.
 
Benutzerbild von Max K.
 
Dabei seit: 08/2012
Ort: Meine eigene, kleine Welt
Alter: 25
Beiträge: 98


Jernonimo,
Es wuerde mich wundern, wenn man jemanden mit deinen Texten nicht begeistern kann
Max K. ist offline   Mit Zitat antworten
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