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Alt 26.11.2012, 19:00   #1
männlich Desperado
 
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Dabei seit: 03/2012
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Beiträge: 1.747


Standard Der Uhu

Sicher wünscht du dir eine Dämmerung.

Wäre es nicht angebracht gewesen, so fragst du dich, die Sonne hätte sich behutsam schlafen gelegt, ihr schwindendes Licht wäre wie ein leuchtender Streifen über den Bergen gestanden, um leise zu verblassen, während sich die Nacht auf die Welt herniedersenkt, die Konturen sanft verschwimmen und die Dunkelheit anbricht, fast unmerklich wie ein mächtiger Schatten, der sich auf die müde Erde legt. Warum ist es nicht so geschehen, wie es im Kosmos über dir geschieht, wenn die ersten Sterne am Himmel zu blinken beginnen, so wirst du dich fragen, der du unter den nackten Uferbäumen stehst und dich zu erinnern versuchst, ohne zu wissen woran.

Das Federkleid der Raben ist immer schwarz, noch schwärzer aber leuchtet das Auge des Totenvogels, der gleichmütig auf dich herabschaut, von einem Krähenschwarm in seinem Schlafplatz aufgestöbert und schnarrend über den Fluss getrieben, ein unwirklich anmutendes Bild, der erhaben gleitende Uhu, der eine aufgeregt flatternde Schar kreischender Rabenvögel hinter sich herzieht wie einen zerfledderten Mantel. Schon am anderen Ufer hast du ihn gesehen, als er sich mit rudernden Schwingen von seinem Baum erhob, genervt vom schrillen Geschrei der Störenfriede, nun sitzt er stumm in der Birke über dir, der du die Furt überquert hast, umringt von den ebenfalls schweigenden Galgenvögeln wie von einer unheimlichen Leibgarde, als hätte er hier auf dich gewartet.

Um dich mit seinem blitzenden Auge zu erfassen.

Und Nacht ist es geworden in dir schneller als du blinzeln kannst, schneller als der Windstoss eine Kerze auszupusten vermag, schlagartig und für immer. Als hätte die Nacht die Erde verschlungen mit all ihren Geschöpfen, die Sonne, den Mond und die Sterne am Himmel geschluckt, sei in dich gefahren und füllt dich nun aus vom Scheitel bis zur Sohle, der du dem massigen Uhu hinterherblickst, der sich erneut erhoben hat, gespenstisch und federleicht segelnd einen Bogen gezogen hat und nun mit ruhigem Flügelschlag dem anderen Ufer zustrebt, den plärrenden Rabentross im Schlepptau.

Meine Seele hat er mitgenommen.

Doch verwundert es mich, dass ich mich nicht leblos fühle, nicht leer und beraubt, der ich mein Pferd mit einem Zungenschnalzen zum Weiterritt bewege, das sich nicht einmal mit einem Schütteln seiner Mähne um den Vogel gekümmert hat, weder hüben noch drüben. Längst glaube ich an keinen Zufall mehr, alle Wege wären dem Uhu offengestanden, aber genau hier in dem Baum, unter dem mich mein Weg vorbeiführen wird, hat er sich niedergelassen, fast hätte ich ihn noch übersehen, hätten nicht die Raben mit warnendem Schnarren meinen Blick nach oben gezogen. Aus der Welt der Geister geschickt ist er zu mir gekommen, um mir etwas zu sagen, und nicht der Tod ist es, den er mir künden will, denn dann wäre er nachts erschienen, so wie damals, als er reglos auf dem Dachgiebel saß und Großvater starb. Doch hier und heute zeigte er sich mir am helllichten Tag noch vor der Mittagsstunde, und ich staunte nur.

Doch bald schon steigt mir das Wundersame hinauf in meinen Kopf, klärt meine Gedanken und macht mich erkennen.

Die Menschen, die die Nacht zum Tag machen, nennen sich Nachteulen und sind es wohl auch, dennoch bleiben sie Geschöpfe des Tageslichts, die lediglich den Tag in die Nacht tragen. Nun aber ist der König der Nacht zu mir gekommen, im grellen Licht und mit lärmendem Geleit, um mir sein dunkles Reich zu überbringen, und mag ich auch des Tags wachen und die Nacht im Schlaf verträumen, werde ich es fortan sein, der die Nacht in den Tag tragen wird. Weil sie in mir Wohnung genommen hat und mich zu einem Teil von ihr gemacht, weil meine Seele sich mit Nacht gefüllt hat, ja Nacht geworden ist.

Das sagte mir der weise Uhu.

Und ich, was sprach ich zu ihm in diesem heiligen Moment? „Was machst du denn hier?“, das entfuhr meinen Lippen, er möge mir mein törichtes Geschwätz nicht anrechnen, etwas anderes fiel mir in meiner Verblüffung nicht ein, ich hatte ja in dem Moment keine Ahnung, wie mir geschieht. Spüren war alles, was meinem Bewusstsein blieb, ein inneres Fühlen, das Worte ohnehin erübrigt, so dass den gefallenen wohl keine allzu große Bedeutung zukommt, ich denke mal eher, überhaupt keine.

Und außerdem, fragen wird man schließlich noch dürfen.
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Alt 26.11.2012, 19:31   #2
weiblich Poetibus
 
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Beiträge: 562


Guten Abend, Desperado,

ich habe die Geschichte zwei Mal gelesen.

Interessant finde ich (jedenfalls lese bzw. verstehe ich es so), dass hier etwas nur dargestellt wird, aber keine "Wertung" vorgenommen wird. Ein Ereignis, das einfach geschieht und angenommen wird.

Die Nacht. Sie kann vielfältig gesehen werden. Als Bedrohung, als Ruhepol, als Auszeit, als Zeit für Erholung, als etwas Böses ... je nachdem, wer sie "sieht".

Das bleibt, meiner Meinung nach, hier in der Geschichte ganz offen. Ich bin eine Nachteule, daher betrachte ich die Nacht eher von der "positiven" Seite.

Der Desperado im Federhut bleibt sich treu, er wertet nicht. Allerdings muss ich zugeben, dass ich zwar immer wieder gerne die Ironie und den Humor genieße, die sich in vielen Teilen der Geschichte zeigt, aber hier "passt" mir der letzte Satz irgendwie doch nicht so ganz dazu, trotz der "Einleitung" durch die vorhergehenden Zeilen. Ist aber nur eine "gefühlte" Sache, muss ja nichts sagen - wahrscheinlich ist es mal wieder meine etwas eigenwillige Lesart. Es handelt sich also nur um eine Rückmeldung meines "Empfindens", es entsteht dadurch, dass die Geschichte (bis auf diesen Satz) eher "ernst" zu mir herüberkommt. Für mich ist es so, als ob hier die "Flapsigkeit" ein bisschen "plötzlich vom Himmel fällt", sozusagen ...

Wieder interessiert gelesen, mir gefällt die Symbolik des Uhus und der Raben, die Andeutung von etwas, das ich durchaus als etwas Spirituelles ansehe.

Freundlichen Gruß,

Poetibus
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Alt 27.11.2012, 12:17   #3
männlich Desperado
 
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Hallo Poetibus,

es ist immer wieder schön zu sehen, wie aufmerksam Du liest, so dass Du eine Geschichte tatsächlich richtig zu verstehen und deuten weißt, denn so wie Du sie "empfindest", ist sie gemeint. Der Desperado lässt geschehen.

Der Schlusssatz kommt im Zusammenhang mit einer spirituellen Erfahrung in der Tat sehr läppisch, er klingt weniger "vom Himmel gefallen" als aus den Ufersteinen gegriffen, bezeichnet indes einen sehr typischen Wesenszug des Desperado, seine trockene Bodenständigkeit und nüchterne Erdhaftung bei allem, was ihm an Ungewöhnlichem widerfährt.

Jüngst hab ich bei Terra X was über Moses gesehen, der ähnlich irdisch auf die Offenbarung am brennenden Dornbusch reagierte, als er Gott erklärte, wenn er ihn denn schon sende, um ihn bekannt zu machen, dann braucht er aber auch seinen Namen, sonst macht das Ganze keinen Sinn.

Dieses pragmatische Denken der Wüstenvölker (und Indianerkulturen im allgemeinen) auch in metaphysischen Angelegenheiten hat der Desperado als Wüstenbewohner ebenso verinnerlicht, nur dass es bei ihm noch dazu zu einem Dialog quasi auf Augenhöhe gerät, weil seine "Spiritualität" ebenbürtig erlebt wird. Die geistige Welt ist unerforschlich, rätselhaft und mitunter überrumpelnd, woraus er sich die Freiheit nimmt, wie ein gewöhnlicher Mensch auf die Begegnungen mit ihr zu reagieren, eben weil er einer ist.

Du siehst, ich hab mir schon was dabei gedacht, die Geschichte ganz zum Schluss zu entmystifizieren und auf den Boden der Tatsachen "herunter" zu holen, auch wenn's fast schmerzt. Dort nämlich treibt der Desperado sich herum.

Deine intensive Beschäftigung mit der kleinen Anekdote hat eine ausführliche Antwort und Erklärung verdient, finde ich.

Erdigen Gruß
Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
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