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Alt 12.03.2019, 07:44   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard In einem Dorf im Winter

Gegenwart

Der Umschlag roch nach Parfüm. Misstrauisch betrachtete Evelyn den Brief, den sie zusammen mit der Geschäftspost für Richard und der Tageszeitung aus dem Briefkasten gefischt hatte. Er war an Richard adressiert, von Hand geschrieben und als Absender war eine Annabell Tickten angegeben. Name und Adresse sagten Evelyn nichts, es war allerdings nicht ungewöhnlich, dass Richard als Versicherungsvertreter Post von Leuten bekam, die sie nicht kannte. Nur sah dieser Umschlag so rein gar nicht geschäftlich aus und sie beschloss, Richard danach zu fragen.
Als sie gerade wieder zurück ins Haus gehen wollte, ließ sie ein Ruf von der anderen Straßenseite innehalten und hinüberblicken.
"Guten Morgen, Evelyn!" Georg, ihr Nachbar von der anderen Straßenseite, kam herüber gehumpelt. Seit einem Unfall während ihrer gemeinsamen Schulzeit zog er das linke Bein nach. Evelyn und Georg waren gleich alt; doch während Evelyn mit ihren 34 Jahren fast noch eine jugendliche Ausstrahlung hatte, wirkte Georg fast zehn Jahre älter als er war - nicht nur weil er das Bein nachzog, sondern auch, weil er seit dem Unfall eine wesentlich bedächtigere Art an den Tag legte.
Seitdem sie Richard vor nun etwas mehr als fünf Jahren geheiratet hatte, suchte Georg noch mehr als früher ihre Nähe und Evelyn ließ es sich gefallen. Georg konnte man immer mal wieder als Chauffeur oder Gärtner einspannen, wenn gerade kein anderer zur Hand war.
"Guten Morgen, Georg!" Sie rang sich ein Lächeln ab.
"Hat ganz schön geschneit heute Nacht, was?" Georg wies in Richtung der Berge, die schneebedeckt in der Ferne zu sehen waren.
"Ist ja hier oben in unserem Dorf nicht ungewöhnlich. Es ist nur ganz schön kalt, ich geh wieder rein."
"Du musst ja auch die Post bearbeiten", sagte Georg verständnisvoll.
Evelyn verkniff sich ein "Was geht dich das an" und ging ins Haus. Sie legte die Geschäftspost auf Richards Schreibtisch direkt vor seinen PC. Dann betrachtete sie den ominösen parfümierten Briefumschlag und riss ihn schließlich entschlossen auf. Stirnrunzelnd betrachtete sie die schön geschwungenen Buchstaben. Hier hatte sich jemand mit einem handschriftlichen Brief wohl wirklich unglaubliche Mühe gegeben.

"Lieber Richard,

ich weiß, es ist eigentlich zu früh, dir heute schon zu schreiben, da du ja doch erst in drei Wochen von deiner Fortbildung wiederkommt und den Brief erst dann lesen kannst. Aber ich habe solche Sehnsucht nach dir, dass mir einfach danach ist. Vielleicht schicke ich ja auch den Brief gar nicht ab" ("Wie dämlich, so etwas zu schreiben", dachte Evelyn an dieser Stelle, "wenn sie ihn ja doch abschickt" und gleichzeitig wunderte sie sich, dass ihr dieser Gedanke als erster durch den Kopf schoß). Sie las weiter:
"Weißt du was, ich habe eine Idee. Wenn du wieder da bist, komme ich dich einfach besuchen, du hast ja gesagt, ich bin jederzeit willkommen."
Hier zog Evelyn hörbar die Luft ein. Nie im Leben hätte Richard so etwas gesagt. Und ihr kam unwillkürlich die Frage in den Sinn, wie Richard eigentlich so dumm sein konnte, wenn er schon fremdging, dieser Frau dann seinen korrekten Namen anzugeben. War ihm egal, ob sie, Evelyn, davon erfuhr?
"Ich weiß, dass wir eines Tages zusammen sein werden, ich weiß es einfach. Auch wenn du (noch) verheiratet bist, deine Frau kann dich gar nicht so lieben wie ich. Niemand kann dich so lieben wie ich."
"Also läuft sie ihm nur hinterher", dachte Evelyn an dieser Stelle, "und er will gar nichts von ihr wissen." Doch als sie weiter las, wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte.
"Unsere Nacht war so unglaublich, Liebling, ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas erlebe und dann auch noch mit dir! In der Hoffnung, dass es noch viele solcher Nächte gibt, sende ich dir viele Grüße und Küsse
Bis bald
Deine Annabell"

Evelyn las den Brief ein zweites Mal, dann ließ sie ihn mit zitternder Hand sinken. Ob das Zittern vor Wut, Enttäuschung oder Ungläubigkeit darüber, dass tatsächlich eine Frau es wagen konnte, ihrem Mann einen solchen Brief zu schreiben, herrührte, vermochte sie selbst nicht zu sagen. Es war müßig, darüber nachzudenken, woher diese Annabell seine Adresse wusste. Wenn sie den richtigen Namen hatte, war dies eine Kleinigkeit. Erschütternder war die Tatsache, dass diese Frau glaubte, in ihre Ehe einbrechen zu können und ihr Richard wegnehmen zu können! Was bildete sie sich ein?
Es klingelte. Evelyn legte den Brief in eine Schublade und ging öffnen. Draußen stand Georg.
"Entschuldige, dass ich dich störe", sagte Georg, "aber unser neuer Postbote kann offenbar keine Adressen lesen. Er hat diesen Brief für euch bei mir eingeworfen." Er hielt ihr einen Umschlag hin. Es war ein Geschäftsbrief einer Firma, an Richard adressiert und Evelyn merkte zu ihrer eigenen Verärgerung, dass sie erleichtert war.
"Danke, Georg", sagte sie, freundlicher als sie sonst je mit ihm redete. "Möchtest du eine Tasse Kaffee?" fügte sie spontan hinzu, aus dem plötzlichen Bedürfnis heraus, ein stinknormales Gespräch zu führen, um so ihre Gedanken ein wenig ordnen zu können.
"Da sage ich nicht nein." Georg schlurfte an ihr vorbei ins Haus Richtung Küche.
Als sie sich am Küchentisch gegenüber saßen und Evelyn Georg dabei zusah, wie er seinen Würfelzucker mit einem Löffel in seiner Kaffeetasse verrührte, auf seine langsame und bedächtige Art, fühlte Evelyn sich wieder einmal an die Vergangenheit während ihrer gemeinsamen Schulzeit erinnert.

------------------------------------------------------------------
Sportfest, 18 Jahre vorher

"Los Evelyn! Du bist dran! Wir gewinnen!" Ihre beiden besten Freundinnen, Isabell und Katja, standen aufgeregt und jubelnd neben ihr. Es war das jährliche Sportfest der 11. Klasse des Fachgymnasiums, es herrschte wunderbar warmes, sonniges Sommerwetter und Evelyn, die eine der Besten im Hochsprung war, genoss die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Die Stange war bei einer Höhe von 1,55 m befestigt. Evelyn konzentrierte sich darauf, diese Höhe unbedingt zu schaffen.
"Los!" kam das Kommando vom Sportlehrer.
Sie lief los und schaffte es, die Stange bei dieser Höhe zu überspringen. Jubelnd kam sie auf und lief atemlos und strahlend auf ihre Freundinnen zu, die sich vor Freude kaum zu fassen wussten.
"Evelyn, klasse gemacht! Unser Team gewinnt! Das schaffen die nicht!" jubelte Isabell und Katja brüllte immerzu nur "Hurra, geschafft!" und hüpfte dabei wie ein Gummiball auf und nieder. Auch das übrige Team klatschte und jubelte.
"Jetzt müssen die anderen nur noch schlechter springen", bemerkte Isabell. "Es ist nur noch einer dran."
"Wer ist es denn?"
"Georg."
"Ausgerechnet der!"
Katja und Isabell grinsten. Jeder wusste, dass Georg in Evelyn verknallt war, sie ihn aber regelmäßig abblitzen ließ und sich vor anderen über ihn lustig machte. Was sie aber nicht daran hinderte, von ihm die Hausaufgaben abzuschreiben oder sich von ihm am Schulkiosk ihr Essen bezahlen zu lassen.
Allerdings war Georg ebenfalls einer der Besten im Hochsprung.
Evelyn sah zu ihm hinüber. Er stand, von Benny und Joachim aus seinem Team flankiert, auf seinem Startplatz und starrte angespannt auf die Stange, die auch für ihn auf der Höhe von 1,55 m lag. Einzelne Gesprächsfetzen wehten zu den Mädchen hinüber.
"Du schaffst das schon, Georg", war zu hören. Evelyn sah, wie er den Kopf schüttelte.
"He Georg!", rief sie. "Lass es am besten gleich sein, das schaffst du sowieso nicht!"
"Halt die Klappe!" brüllten Benny und Joachim fast einstimmig zurück. Doch Georg sah zu ihr hin und kam dann auf sie zu.
"Ich muss springen", sagte er. "Ich kann mein Team nicht im Stich lassen. Und dann gewinnen wir."
"Aber du wirst doch keine 1,55 m schaffen", sagte Evelyn lässig.
"Das habe ich im Training schon geschafft. Das weißt du doch."
"Naja, im Training, schon möglich ...." Sie warf ihm den Hauch eines Lächelns zu, dann winkte sie ihm zu, damit er sein Ohr an ihren Mund legte. Georg war ein gutes Stück größer als sie. Als er sein Ohr ihrem Mund näherte, hatte sie das Gefühl, dass es ihn sexuell erregte, ihr so nahe sein zu können. Sie flüsterte ihm leise und eindringlich ins Ohr: "Aber hier wirst du die 1,55 m nicht schaffen. Weil ich das so will. Haben wir uns verstanden, Georg?" Dann drückte sie ihn, so kräftig sie konnte, weg, schrie: "Los, mach schon! Wir wollen mal sehen, wie du versagst!", lief ein Stück weit von ihm weg und blieb dann atemlos stehen. Katja und Isabell klatschten.
"Doofe Ziege, halt die Klappe!" kam es von Benny.
Joachim klopfte Georg auf die Schulter. "Toi, toi, toi! Hör nicht auf das dumme Zeug! Du kannst das!"
Georg nickte.
"Los!" kam das Kommando vom Sportlehrer.
Und dann nahm Georg Anlauf, sprang hoch, aber nicht hoch genug, sondern statt über gegen die Stange, die scheppernd mit ihm zu Boden und schließlich auf sein linkes Bein fiel, während alle atemlos zuschauten. Ein kurzer Schmerzensschrei war zu hören, dann blieb Georg bewegungslos liegen.
Der Sportlehrer stürzte als erster zu ihm, dann Benny und Joachim. Die übrigen Schüler folgten.
"Georg, kannst du mich hören?", fragte der Sportlehrer. Georg, der kreideweiß im Gesicht war, nickte matt mit dem Kopf, sagte aber nichts.
Der Sportlehrer wandte sich an die Umstehenden. "Wir brauchen einen Krankenwagen! Joachim, lauf zur Telefonzelle und wähl den Notruf! Sag, ein Schüler ist verletzt und sie sollen sofort zum Sportplatz kommen!" Joachim stürzte davon.
20 Minuten später war der Krankenwagen da. Vorsichtig wurde Georg auf eine Trage gelegt und darauf in den Krankenwagen geschoben. Und noch immer hatte er kein Wort gesagt.

Seit dieser Zeit war Georgs linkes Bein nicht mehr in Ordnung. Zwar kam er nach einigen Wochen wieder zur Schule und er machte auch ganz normal seinen Schulabschluss. Von Sport wollte er jedoch nichts mehr wissen,, doch Evelyn war er immer noch treu ergeben. Er erzählte nie jemandem, was Evelyn damals von ihm verlangt hatte und Evelyn behielt das ebenfalls für sich. Manchmal kam ihr flüchtig der Gedanke, sie hätte seine Ergebenheit ihr gegenüber damals ausgenutzt, doch genauso schnell, wie er gekommen war, verblasste dieser Gedanke dann auch direkt wieder.

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Gegenwart
"Was hast du denn auf dem Herzen?" fragte Georg in ihre Gedanken hinein.
"Ach nichts, ich habe nur keine Lust zum Arbeiten." Fahrig schob Evelyn ihre erst halb ausgetrunkene Kaffeetasse von sich weg.
"Ärger mit Richard?"
Evelyn schüttelte den Kopf.
Doch dann holte sie tief Luft.
"Ich glaube, er betrügt mich" sagte sie.

Ende des 1. Teils
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